"Banking ist in vieler Hinsicht sehr traumatisch."

Wall Street: Schuften bis zum Umfallen

Wall Street: Schuften bis zum Umfallen

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Wenn Umber Ahmad über ihr Leben als Investment Bankerin spricht, beschreibt sie eine traurige Realität: "Ich musste fast jede Woche 18 Stunden am Tag arbeiten. Mindestens ein Mal pro Woche habe ich die ganze Nacht durchgemacht - und war zwei Tage hintereinander nicht zu Hause", erzählt die Absolventin der renommierten Wharton Business School, die erst bei Morgan Stanley, dann bei Goldman Sachs, die Elite des Investmentbanking, angestellt war.

Doch irgendwann begann sich dieser Alltag zu rächen - mit Stress, Schlaflosigkeit, einem fehlenden Privatleben. Auch die rasche Zunahme von Burn-out unter Kollegen machte ihr zu schaffen. Sie kündigte und machte sich selbstständig. "Alle dachten, ich sei verrückt geworden, denn Goldman Sachs ist der Traumarbeitsplatz für jeden Banker“, sagte Ahmad. "Aber Banking ist in vieler Hinsicht sehr traumatisch.“

Todesfälle häufen sich

Die Geschichte von Ahmad ist kein Einzelfall. Immer mehr junge Banker müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie bereit sind, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Noch nie war der Druck, Spitzenergebnisse zu liefern, so hoch wie heute.

Bereits Ende 2014 titelte das amerikanische "Fortune“-Magazine "Gibt es eine Selbstmordseuche an der Wall Street?“, nachdem innerhalb von 19 Monaten über 50 Banker auf ungewöhnliche Weise ums Leben kamen. Gleichzeitig berichtete die Zeitschrift, die im Jahr 1930 - vier Monate nach dem Ausbruch der Großen Depression in Amerika - gegründet worden war, dass sich Todesfälle in der Branche immer dann häufen würden, wenn die Zeichen auf Krise stünden.

Tatsächlich ist acht Jahre nach dem jüngsten Wall-Street-Crash der Druck auf die Banker so hoch wie noch nie: 250.000 Beschäftigte verloren in dieser Zeit ihren Job, die Gehälter sind geschrumpft, die Profite der Banken ebenso. Durch die ständige Erreichbarkeit mit dem Smartphone sind die Menschen noch längeren Arbeitszeiten ausgesetzt als früher. Und in den New Yorker Finanztempeln, in San Francisco, in London und Hongkong gilt nur eines: Schuften bis zum Umfallen.

Seit der Finanzkrise sind mindestens 25 Banker (...) auf mysteriöse Weise gestorben

So wie der Deutsche Moritz Erhardt. Der junge Mann brach vor fast drei Jahren während seines Sommerpraktikums in London tot zusammen. Er soll drei Nächte hintereinander durchgearbeitet haben - und erlebte seinen 22. Geburtstag nicht mehr.

Ehrhardt wäre nicht der erste Jungbanker, dem weniger Stress vielleicht das Leben gerettet hätte. Doch die Macht, sich gegen die hohe Arbeitsbelastung zu wehren, haben Neulinge auf der untersten Stufe der Karriereleiter nicht. "Tritt man als junger Banker für bessere Arbeitsbedingungen ein, wird man sofort bestraft. Man wird von den besten Transaktionen ausgeschlossen, rausgeschmissen oder bekommt eine schlechte Beurteilung“, warnt William Cohan, ein Ex-Investment-Banker und Autor, der seit Monaten versucht, das Tabuthema Selbstmord zum Zentrum der Debatte über sinnvollere Arbeit für Jungbanker zu machen. "Seit der Finanzkrise sind mindestens 25 Banker in New York, London, Hongkong und San Francisco auf mysteriöse Weise gestorben, aber in den Chefetagen der Wall Street wurde kaum über solche Vorfälle gesprochen“, sagt der Mittfünfziger mit der silbergrauen Mähne.

William Cohan kritisiert die Arbeitsbedingungen.

"Todesfälle verweisen auf das mörderische Tempo an der Wall Street“, heißt sein Enthüllungsartikel, der im vergangenen Jahr in der "New York Times“ erschien. Darin prangert der breitschultrige New Yorker den unmenschlichen Leistungsdruck an, Motto: Nur ja nicht schlappmachen. Kein Weichei sein. Weiterarbeiten rund um die Uhr. Und anschließend sich volldröhnen mit Alkohol und Kokain - so wie Thomas Hughes, ein 29-jähriger Banker in New York, der voriges Jahr von einem Hochhaus in den Tod sprang, einen Monat nachdem sein Kollege Sarvshreshth Gupta in San Francisco Selbstmord verübte.

Konkurrenz um jeden Preis

Der 22-jährige Sarvshreshth litt unter dem ständigen Arbeitsdruck bei Goldman Sachs und hatte die durchwachten Nächte nicht mehr ausgehalten. Typisch für eine wachsende Zahl von ehrgeizigen jungen Erfolgsmenschen, die ganz vorne mitspielen wollen, deren Traum von einer großen Karriere und schnellem Geld aber am rasanten Tempo der Finanzbranche zerbricht.

Dass sich hochintelligente Berufseinsteiger so schikanieren lassen, hat einen Grund: Ehrgeiz, sagt Cohan. Ziel der Jungbanker sei, die Chefs mit harter Arbeit von sich zu überzeugen, um sich die Chance auf eine feste Anstellung in der schillernden Finanzwelt zu sichern. Doch ihre Aufgaben seien oft so monoton, dass sie nur durch selbstzerstörerisches Verhalten auf sich aufmerksam machen könnten.

"Als Berufsanfänger ist es fast unmöglich, aus der Masse hervorzustechen. Die Arbeit ist einfach nicht kreativ genug“, sagt Cohan. Die Möglichkeit, ein besseres Tabellenkalkulationsprogramm zu erstellen als andere sei äußerst gering; es sei eine sehr nüchterne und mathematische Angelegenheit. Also ragt nur derjenige hervor, der härter arbeiten und es zum Beispiel schafft, drei Nächte hintereinander wach zu bleiben - auch wenn ein solcher Schlafentzug schlimme Folgen haben kann.

Viele Banker definieren sich nur durch ihre hochdotierten Jobs

Um diese Folgen zu vermeiden, bieten viele New Yorker Psychologen Bankern, denen die Belastung im Job über den Kopf zu wachsen scheint, Unterstützung an. Tatsächlich haben diese immer mehr Zulauf, seit die Profite der Banken nach der Finanzkrise einbrachen und Tausende von Stellen gestrichen wurden. Angst und Stress gehen um, denn die Aufstiegsmöglichkeiten und die Arbeitsplatzsicherheit sind so gering wie noch nie.

"Viele Banker definieren sich nur durch ihre hochdotierten Jobs“, sagt Alden Cass, ein New Yorker Psychologe, der sich auf die Behandlung entnervter Spitzenverdiener konzentriert. "Bleibt der Erfolg aus, fühlen sie sich als Versager und kämpfen mit Selbstzweifeln und Hoffnungslosigkeit. Vor allem Neulinge wissen nicht, wie sie mit Depressionen und Angststörungen umgehen sollen. Oft greifen sie zu Alkohol und Drogen, um besser zu funktionieren.“

Dass Konkurrenz um jeden Preis konstituierender Bestandteil der Wall Street ist, weiß auch Turney Duff, Ex-Geldspekulant bei der sieben Milliarden Dollar schweren Hedge Fonds Galleon Group in Manhattan. "Aggressive Überflieger wie ich werden von der Wall Street angezogen wie Motten vom Licht - haben aber oft Suchtprobleme und neigen dazu, die Spielregeln zu ihren Gunsten auszulegen“, bekennt er.

Ich dachte immer daran, dass ich jedes Jahr eine große Bonusauszahlung bekomme

Tatsächlich wurde der Handelsraum schnell zum Zentrum seiner Spielsucht. Nach der Arbeit griff Duff zu anderen Suchtmitteln. "Ich hatte ein tiefes Loch in mir und versuchte es mit Kokain, Alkohol, Sex oder Geld zu stopfen“, erzählt Duff. Irgendwann verschwamm alles zu einem Einerlei des Irrsinns und der Superlative: Es sei ebenso toll gewesen, eine millionenschwere Transaktion abzuschließen wie Kokain zu nehmen oder Sex zu haben.

Turney Duff schrieb über seine Zeit an der Wall Street.

Nach mehreren Entziehungskuren ist Duff jetzt trocken und hat ein Buch über seine Exzesse in der Finanzbranche geschrieben, das ad hoc zum Bestseller wurde - "The Buy Side: A Wall Street Trader’s Tale of Spectacular Excess“, deutscher Titel: "The Buy Side. Erfolg, Exzesse und Absturz eines Wall-Street-Traders“ (siehe auch Kasten). Um seinen alten Job schert er sich nicht. Den gibt es sowieso nicht mehr. Die Galleon Group wurde wegen illegalem Insiderhandel geschlossen, Leiter Raj Rajaratnaman sitzt im Gefängnis. Seine Millionen hat Duff für Kokain und Prostituierte ausgegeben, den Rest verprasst. "Es war wie verhext“, sagt Duff. "Ich dachte immer daran, dass ich jedes Jahr eine große Bonusauszahlung bekomme. Und dann noch eine. Und noch eine.“

Auf Dauer kann so etwas natürlich nicht gutgehen. Vor allem, weil die meisten der ehemaligen Überflieger als körperliche Wracks enden. Sie leiden unter Allergien, Suchtkrankheiten, Schuppenflechte oder Darmerkrankungen - so das Ergebnis einer 2012 erschienenen Studie der University of Southern California. "Durch den Stress und die harte Arbeit entwickeln Banker bereits vier Jahre nach Berufsbeginn zahlreiche körperliche sowie seelische Probleme“, warnt Alexandra Michel, die Verfasserin der Studie.

Andrang auf eine Anstellung als Jungbanker bleibt hoch

Den Jungbankern ist das egal, sie schuften weiter, wenn auch mit einer großen Portion Galgenhumor: So geriet der 24-jährige Banker Justin Kwan in die Schlagzeilen, als er von seinem Arbeitgeber Barclays gefeuert wurde, weil er neuen Praktikanten in einem E-Mail empfahl, "Kissen mitzubringen, weil sie bequemer sind, als unter dem Tisch zu schlafen“. Außerdem riet er, "eine Krawatte oder einen Schal zu tragen, weil man nie wisse, wann der Boss eine Serviette benötige“. Ebenso traurig: das unter Jungbankern beliebte "Jammer-Pokerspiel“. Dabei gewinnt derjenige, der mehr Schikanen als seine Mitspieler im Berufsleben ausgehalten hat.

Um das Leben der Neulinge leichter zu machen, hat Goldman Sachs kürzlich neue Richtlinien erlassen: Praktikanten müssen das Büro vor Mitternacht verlassen und dürfen von Freitagnacht bis Sonntagfrüh nicht ins Büro kommen. Keine gute Idee, sagt Richard Lipstein, ein Ex-Banker, der die Seiten gewechselt hat und jetzt als Headhunter in Manhattan tätig ist. Er glaubt, die neuen Richtlinien würden noch mehr Stress mit sich bringen. Denn die Arbeit muss erledigt werden, egal wo und wann. "Der typische Fusions- und Übernahme-Banker sitzt immer wie auf glühenden Kohlen“, weiß Lipstein. "Er organisiert Treffen mit Firmen, wickelt Deals ab, findet Käufer und handelt Konditionen aus. Die Jungbanker leisten die Vorarbeit. Je schwieriger eine Transaktion ist und je länger sie dauert, umso mehr müssen sie sich in die Arbeit knien.“

Trotz der anfänglich miserablen Arbeitsbedingungen bleibt der Andrang auf eine Anstellung als Jungbanker unverändert hoch. Bei Goldman Sachs erhalten rund zwei Prozent der jährlich 17.000 Bewerber eine Sommerpraktikantenstelle und ein Prozent der 90.000 Anwärter eine Stelle bei Morgan Stanley; dies entspricht einer höheren Ablehnungsquote als bei Eliteuniversitäten wie Harvard oder Yale. Auch Kevin Cuskley ist überzeugt: Die New Yorker Großbanken sind erstklassige Arbeitgeber.

Er leitet das "Auf dem Weg zur Wall Street“-Programm der Rutgers Universität in New Jersey. Ziel ist es, zukünftigen Finanzgrößen den Karriereeinstieg zu erleichtern, wie dies auch viele US-Universitäten anbieten. "Studenten kommen zu uns, wenn sie Hilfe brauchen, um ihren Lebenslauf oder Briefe zu schreiben“, sagt der ehemalige Vermögensverwalter. "Wir unterstützen sie auch beim Networking oder wenn sie Strategien zur Arbeitsplatzsuche entwickeln wollen.“

Ich bin da, um Ihr Wochenende zu zerstören

Einer der Studenten im "Auf dem Weg zur Wall Street“-Programm heißt Keith Gorda. Er hat bereits zwei Sommerpraktiken bei Banken hinter sich, obwohl er sein Finanzstudium an der Rutgers Universität noch nicht abgeschlossen hat. 80 Stunden pro Woche starrte er während der Sommerferien in den Bildschirm seines Computers, um Präsentationen vorzubereiten und Firmen zu bewerten, die aufgekauft oder zerschlagen werden sollten. Einerseits fühlte er sich unter Druck gesetzt, andererseits konnte er sich keinen spannenderen Job vorstellen. "Es war sehr anstrengend, denn die Fristen waren knapp, und es ging um viel Geld“, erzählt der 24-Jährige, smart herausgeputzt wie die Althasen der Szene, in Schlips und Anzug.

Neu ist, dass auch immer mehr Hedge-Fonds-Manager zukünftigen Finanzgrößen Ausbildungsplätze anbieten, um die "Best and Brightest“ so früh wie möglich an sich zu binden. Jüngstes Beispiel: Steve Cohen, einer der berühmtesten und gerissensten Hedge-Fonds-Manager aller Zeiten. 14 Praktikanten, darunter ehemalige Soldaten aus Singapur und ein Mathe-Student der Yale Universität, finden sich täglich in seinem New Yorker Quartier hoch über der Madison Avenue ein, um Kalkulationstabellen zu entwerfen und Vorträgen zu lauschen. Dabei hält er die Entourage bewusst karg: Es ist Freitagnachmittag, draußen scheint die Sonne, doch im firmeneigenen "Klassenzimmer“ bleibt es kühl - denn Cohen will, dass die Auszubildenden sich konzentrieren und wach bleiben. Zur Not gibt er ihnen dicke Fleece-Jacken mit Firmenlogo, damit sie keinen Schnupfen bekommen.

Uns geht es darum, den nächsten großen Finanzinvestor auszubilden

Während ihrer einjährigen Ausbildung werden die Praktikanten von Steve Cohen gut bezahlt. Denn Geld spielt für den vielfachen Milliardär, der im New Yorker Vorort Greenwich in einem Palast mit 30 Zimmern und Golfplatz lebt, keine Rolle. Finanzprofessor José Maria Liberti, der an diesem Nachmittag unterrichtet, wurde extra aus Chicago eingeflogen, um Cohens Zöglingen die Grundlagen der Unternehmensfinanzierung beizubringen. "Ich bin da, um Ihr Wochenende zu zerstören“, kündigt der gebürtige Argentinier fröhlich an und meint dies, wie die Schüler bald merken, nur halb im Scherz. "Bis Montagmorgen müssen Sie einige Bewertungsmethoden und Fallstudien abgeben - auch wenn Sie gestern viel länger im Büro waren als ich.“

Dass Steve Cohen wegen illegalem Insiderhandel vor zwei Jahren eine Rekordstrafe von 1,9 Milliarden Dollar bezahlen musste, scheint die Praktikanten, die aus rund 1300 Bewerbern jährlich rekrutiert werden, nicht zu stören.

Jetzt bin ich wenigstens glücklich

Die Finanz-Youngsters interessiert nur eines: so viel Geld wie möglich zu verdienen. "Ich wollte immer schon Vermögensverwalter werden und den Wert der Firma steigern“, meint Sean Donlon, ein 26-jähriger Hedge-Fonds-Lehrling, mit leuchtenden Augen. Ein Ziel, das der Ausbildungsleiterin Jaimi Goodfriend sicher gut gefällt. "Uns geht es darum, den nächsten großen Finanzinvestor auszubilden“, sagt die ehemalige Finanzprofessorin, während sie ihre Schüler aus einem Glasbüro heraus überwacht. "Wir unterrichten Finanzwesen und Buchhaltung, aber auch wie man spricht und sich repräsentiert.“

Während Sean Donlon und seine Kollegen sich auf ihre Wall-Street-Karriere vorbereiten, hat die Ex-Bankerin Umber Ahmad ganz andere Pläne. Die leidenschaftliche Köchin verkauft selbst gebackene Plätzchen und Torten in ihrer Online-Bäckerei. Gerade renoviert sie einen Laden, um im New Yorker West Village eine eigene Konditorei zu eröffnen. Die durchwachten Nächte in den Großbüros erscheinen ihr heute ganz weit weg: "Ich arbeite noch mehr als zu meiner Zeit als Bankerin, was eigentlich unmöglich ist, aber jetzt bin ich wenigstens glücklich“, sagt sie und lacht.