Zukunft der Technik: Industrie 4.0

Zukunft der Technik: Industrie 4.0

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Jeder Geheimdienst der Welt würde angesichts dieser Überwachungsmöglichkeiten vor Neid erblassen. Denn geht es nach dem Salzburger Sanitätsspezialisten Hagleitner, können Großveranstalter ihr Publikum bereits heute bis in den hintersten Winkel der Intimität beleuchten, wissen Firmenchefs schon bald mehr über ihre Mitarbeiter als ihnen lieb ist. Etwa wie oft sie täglich auf die Toilette gehen, ob sie sich danach die Hände waschen, Seife dafür verwenden und danach zum Trockner schreiten oder nicht. Gespeichert werden all diese Information über Sensoren, die an den einzelnen Geräten angebracht sind und wie kommunizierende Gefäße funktionieren. Einerseits stellen sie eine Verbindung zwischen Toilettetür, Wasserhahn, Seifenspender und Trockner her, andererseits schicken sie die gebündelten Daten an eine Zentrale, die damit informiert wird, wann die Behälter nachgefüllt und die Sanitärräume gereinigt werden müssen.

Systeme wie dieses stehen im Moment hoch im Kurs, seit sie vor zwei Jahren, anlässlich der Eröffnung der weltweit wichtigsten Industriemesse, der Hannover Messe, von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Chefsache erklärt wurden. Sie fallen unter den Begriff "Industrie 4.0“, was so viel wie die Vernetzung von selbst lernenden, also "intelligenten“ Maschinen bedeutet. Diese Technologie gilt als besonders attraktiv, weil sie fähig ist, sich selbst optimierende Automatisierungsprozesse einzuleiten, die neue Businessmodelle und neue Wertschöpfungsnetzwerke versprechen. Daher geht es bei Industrie 4.0 nicht nur um Effizienz und Nachhaltigkeit, sondern vor allem um sehr, sehr viel Geld.

Mittlerweile haben sich auch die österreichischen wirtschafts- und forschungsnahen Institutionen des Themas angenommen. Erst vor wenigen Wochen präsentierte Wissenschafts-, Forschungs- und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Doris Bures (zu diesem Zeitpunkt noch Technologieministerin) das geplante Unterstützungsprogramm, das in den nächsten Jahren eine Größenordnung von 250 Millionen Euro umfassen soll. Davon stellt das Wirtschaftsministerium bereits ab Herbst 30 Millionen Euro an Fördergeldern für Industrie-4.0-Prozesse bereit. Der Nutzen, den man sich von dieser Ankurbelung verspricht, ist gewaltig: "In Deutschland geht man davon aus, dass es in den kommenden Jahren, bezogen auf Industrie-4.0-Applikationen, ein jährliches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent in den relevanten Branchen gibt“, meint Wilfried Sihn, Leiter der Österreich-Niederlassung von Fraunhofer, der größten Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa (siehe Interview). "Wenn ich das jetzt herunterbreche auf Österreich“, so Sihn weiter, "reden wir von einem Einflussbereich von etwa 25.000 Unternehmen und 620.000 direkten Arbeitsplätzen. Und selbst wenn es gelingt, nur ein Prozent dieser Prognosen umzusetzen, ist das ein gewaltiger Sprung.“ Am stärksten profitieren werden in der heimischen Industrie Betriebe aus den Bereichen Elektro- und Elektronikindustrie, Automobilzulieferindustrie, Maschinen- und Anlagebau sowie Mechatronik, wo-runter man das Zusammenspiel aus Mechanik und Elektronik versteht - "also Branchen, in denen Österreich heute schon stark ist“, wie Sihn sagt. Denn es wäre ein Fehler, so der Managementwissenschafter, "Industrie-4.0-Aktivitäten zu fokussieren, um Schwächen auszugleichen. Im Gegenteil: Ziel muss es sein, die bestehenden Stärken zu fördern.“ Während Politiker, Forscher und Theoretiker von der Re-Industrialisierung Europas und einem Aufschwung an allen Fronten schwärmen, haben viele - auch österreichische - Unternehmen längst die Ärmel hochgekrempelt und geben bei der Verschmelzung von Digitalisierung und Industrie an vorderster Front, oft sogar als Vorreiter, den Ton an.

Meist handelt es sich dabei um die von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkten Hidden Champions - so der Fachjargon für die "unsichtbaren Gewinner“ -, die sich durch Spezialisierung und Fokussierung auf ihre Kernkompetenz erfolgreich an der internationalen Spitze positionieren. In Österreich fallen etwa 180 mittelständische Unternehmen in die Weltmeisterklasse. Der eingangs erwähnte Sanitärreiniger Hagleitner etwa, dessen Konzept seit wenigen Monaten im neu eröffneten "Krankenhaus der Zukunft“ in Zell am See angewandt wird, der für die 71.137 Plätze umfassende Münchener Allianz Arena ein Hygiene-Gesamtkonzept entwickelt hat und gerade dabei ist, die Arena Berlin zu vernetzen. Oder der Mess- und Prüftechnik-Spezialist GGW Gruber aus Wien Alsergrund, der unter anderem für Audi, BMW, Opel oder Magna und deren Zulieferer tätig ist und im Hochpräzisionsbereich arbeitet - "unter einem Mikrometer fühlen wir uns am wohlsten“, betont Senior-Geschäftsführer Karl Wiefler schmunzelnd. So prüft GGW Gruber bestimmte Plastikteile im Auto mittels Computertomografie auf deren Bruchsicherheit, übernimmt die Längenmesstechnik, wenn es um den korrekten Zusammenbau eines Fahr- oder Flugzeugs geht oder vermisst optisch und berührungslos Kurbelwellen. Die hoch sensiblen Maschinen werden auch für Forschungszwecke eingesetzt - im Technologiezentrum aspern IQ, wo Wiefler und Junior-Chef Johannes Riha eng mit der TU-Wien zusammenarbeiten. "Unsere Geräte greifen so früh wie möglich in Fertigungsprozesse ein, denn wir wollen keine Totenbeschau betreiben“, so Riha.

Allerdings steht der rückwärtsgewandte beziehungsweise rekonstruierende Blick - in der Fachsprache "Tracing“ genannt - in der Welt der Hochtechnologie genauso für Stärke. Beim steirischen Auspuffhersteller Remus verfügen zum Beispiel viele Produkte über einen genetischen Code - "im Fall von Reklamationen können wir genau zurückverfolgen, an welchem Tag und von welcher Abteilung das Teil hergestellt wurde“, erzählt Geschäftsführerin Angelika Kresch. Auch "Self-Billing“ gehört zu den Innovationen, die beim Weltmarktführer im Bereich von Auspuff- und Abgasanlagen täglich im Einsatz sind. Bei dieser Technik "schreibt“ sich der Kunde die Rechnungen selbst - und dies funktioniert so: "Die Bestellungen landen auf einer eigenen IT-Plattform, die wiederum die tatsächlich gelieferte Stückzahl meldet und eine dementsprechende Rechnung verfasst“, so Kresch.

Was aber wird nun aus all der menschlichen Arbeitskraft, wird die Mehrheit von den digitalen Segnungen leben können? Stellen in Interaktion stehende Industrieroboter nicht eine enorme Bedrohung für jene Spezies dar, zu deren ureigenen Stärken Kommunikation und Kombinationsgabe zählen?

Volker Gruhn, Aufsichtsratsvorsitzender des IT-Dienstleisters adesso, glaubt, dass die Erweiterung der technischen Hilfsmittel nicht zwingend die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Arbeitnehmer beschneidet: "Einfache Sachbearbeiter-Tätigkeiten werden weiter bestehen, weil sich aus technischer Perspektive die industriellen Abläufe nicht maßgeblich verändern werden.“ Remus-Chefin Angelika Kresch bestätigt zwar, dass durch die technische Umrüstung in ihrem Unternehmen keine Arbeitsplätze verloren gegangen sind, beobachtet jedoch, dass "wesentlich weniger geschaut wird als früher, weil jeder davon ausgeht, dass ein Computer keine Fehler macht. Logisches Mitdenken steht nicht mehr an der Tagesordnung.“ Dabei sind Maschinen genauso pannenanfällig, es kann zum Ziffernsturz kommen oder zu Fehlern bei Teilnummern - "und wenn dieser Fall einmal eintritt, vergeht meist viel zu viel Zeit, bis man ihn bemerkt“, so Kresch weiter.

Jedenfalls bietet Industrie 4.0 für Schwächen wenig Raum. Laut einer Publikation des Produktionstechnischen Zentrums der Leibniz Universität Hannover werden "mehr hoch qualifizierte Mitarbeiter gebraucht, um Prozesse zu initiieren, weniger, um sie auszuführen“. Selbst das technologieaffine Stuttgarter Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation hält in dem Artikel "Arbeit der Zukunft“ fest: "Für Niedrigqualifizierte ist kaum noch Platz.“ Nicht ganz so negativ betrachtet Karl Wiefler die Entwicklung: "Ich habe die Dritte industrielle Revolution, die Ende der 1980er-Jahre ihren Ausgang nahm, intensiv miterlebt. Auch damals herrschte vorübergehend große Skepsis, aber im Endeffekt hat die Entwicklung zu einem Anstieg der Fachkräfte geführt. Diesmal wird es nicht anders sein“, ist der Senior-Chef von GGW Gruber überzeugt. Dass die Übertragung der Arbeitskraft des Menschen auf jene von Maschinen, nicht zwingend mit einer Vernichtung von Arbeitsplätzen gleichzusetzen ist, bestätigt auch Gernot Bernert, technischer Leiter beim Hygienespezialisten Hagleitner. "Es passieren Verschiebungen im Unternehmen. Seit wir unsere neuen Systeme installiert haben, beschäftigen wir sogar mehr Leute als früher - in der Produktion, der Montage und im Entwicklungsteam.“ Jede Innovation eröffnet eben neue Möglichkeiten.

Doch wo viel Licht, das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe, da auch starker Schatten. "Wenn wir nur mehr auf Hochqualifikation aus sind, werden wir als Gesellschaft nicht reüssieren“, gibt Angelika Kresch zu bedenken. "Denn es gibt Menschen, die weniger gut ausgebildet sind und trotzdem wertvoll für die Gesellschaft sein können.“ Grundsätzlich sei der Mensch leistungswillig und möchte etwas Wert sein, ist die Unternehmerin überzeugt: "Wenn wir dann denen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht so viel lernen können, diese Möglichkeit nehmen, halte ich das für sehr bedenklich.

Industrie 4.0

Die Bezeichnung Industrie 4.0, die aus Deutschland kommt und sich auch nur im deutschen Sprachraum gefestigt hat - international spricht man von "Cyber-physical Systems“ -, soll die Vierte Industrielle Revolution einläuten. Es geht dabei um die Vernetzung von miteinander kommunizierenden, also lernenden Maschinen und Geräten. Ziel der "Smart Factories“ (intelligente Fab-riken) ist die Wandlungsfähigkeit von Produkten und die Ressourcen-effizienz zu erhöhen und gleichzeitig die Konsumenten mit ihren Bedürfnissen in die Prozesse stärker mitein-zubeziehen und zu unterstützen.