Tausend Tode

Tausend Tode: Ein Abend mit Fortnite Battle Royal

Schlafen kann man, wenn man tot ist: Philip Dulle über einen ganz normalen Abend mit Fortnite Battle Royal.

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Wenn das Kind endlich im Bett liegt, bricht im Wohnzimmer der Krieg aus. Es ist 21 Uhr an einem ganz normalen Dienstag, und Fortnite hat von mir Besitz ergriffen. Papa bitte nur noch in Notsituationen ansprechen! Die Nervennahrung - Bitterschokolade, Datteln, Kartoffelchips und Kräutertee - steht griffbereit. Jogginghose anziehen, PlayStation aufdrehen, den Akkustand der Controller kontrollieren, mit dem Headset verbinden. Meine Spielgefährten warten schon.

Seit ein paar Wochen schaue ich abends keine TV-Serien mehr, Filme schon gar nicht; für Bücher fehlt mir die Konzentration, und für Freunde, Sport und soziale Kontakte bleibt nur noch in Ausnahmefällen Zeit. Aus dem sozial gefestigten Mittdreißiger-Familienvater, der sich bisher nicht besonders viel aus Videospielen gemacht hat, wurde eine Tötungsmaschine. Gnade kenne ich keine. Der Controller beginnt zu vibrieren, und ich fühle mich auf meiner Couch wie im freien Fall.

Dann geht alles ganz schnell. Als Team versucht man auf der Fortnite-Insel einen idealen Landeplatz auszuforschen, der erstens genügend Equipment zum Sammeln (im Videospielsprech: "Looten") bietet und zweitens nicht von allen anderen Gegenspielern frequentiert wird. Als relativ unerfahrener Spieler ("Noob") findet man sich im Jeder-gegen-jeden-Kampfmodus sofort in einer Ausnahmesituation wieder, sucht in verlassenen Häusern hektisch nach Waffen, Munition und Ausrüstung, während schon die ersten Gewehrsalven durch die Luft fliegen. Der Puls steigt, die Finger beginnen zu schwitzen, verzweifelt versucht man, seine Mitspieler vor gegnerischen Kommandos zu warnen: "Vorsicht!", schreie ich ins Headset: "Pros von Süd-West!" In meiner Familie wundert sich über solche Gefühlsausbrüche schon lange niemand mehr. Rechts, links, oben, unten - der Feind lauert überall.

Auch wenn kein Blut fließt (besiegte Gegenspieler verschwinden einfach in einem blauen Lichtkegel), ist das Spielkonzept von Fortnite Battle Royale nichts für schwache Nerven. Im fortgeschrittenen Gaming-Alter fühlt man sich von der Geschwindigkeit der (tendenziell jüngeren) Gegenspieler und dem visuellen Bombardement schnell überfordert. Gleichzeitig soll man auf seine Squad Rücksicht nehmen und möglichst taktisch vorgehen. Merke: Als Einzelkämpfer wirst du bei Fortnite nicht alt. Sich irgendwo auf der Karte zu verstecken ("campen") bringt dich aber auch nicht weiter -das Spielfeld wird alle paar Minuten verkleinert. Die Schlinge zieht sich zu. Tausend Tode in einer Nacht? Willkommen in meiner Welt.

Die Bildschirmansicht erscheint mir auch nach wochenlanger Übung immer noch heillos überfüllt, es blinkt und poppt an allen Ecken und Enden; ich versuche, mich auf der Karte zu orientieren, einen Überblick über meine Items zu behalten und den rettenden Notfallkoffer immer griffbereit zu haben. "Achtung, Philip!", reißt es mich aus der Konzentration, während die Gegner näher rücken und ich ziemlich ziellos umherirre, wieder die falsche Tastenkombination erwische und damit mein ganzes Team in Gefahr bringe.

Dennoch: Ich kann nicht aufhören zu spielen. Jede Fortnite-Runde, die manchmal nur wenige Minuten dauert, verstärkt den Impuls, es gleich noch einmal zu versuchen. Beim nächsten Mal will man länger überleben, will als Champion vom Platz gehen oder zumindest nicht schon nach wenigen Sekunden ausgelöscht sein. "Nur noch eine Runde?", fragt einer der Teamkameraden. "Aber dann ist wirklich Schluss!", antworte ich. "Okay!", sagt der Rest -und jeder weiß, dass es noch ewig so weitergehen wird. Mitgehangen, mitgefangen, denke ich mir, während in einem anderen Wohnzimmer ein Kind zu weinen beginnt.

Am nächsten Morgen dann ein Anflug von Reue. Beim schwarzen Frühstückskaffee zwischen Butterbrotschmieren, Kindergarten und Arbeitsterminen bleibt die Frage: War das wirklich notwendig? Schlaf ist doch viel wichtiger! Und dennoch: Ich warte nur auf den Abend -bis ich endlich wieder aus dem fliegenden Bus springen kann.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.