"Marriage Story"

Oscar-Favorit "Marriage Story": Posen und Neurosen

Noah Baumbachs Netflix-Produktion "Marriage Story" lotet die Abgründe einer zerbrechenden Ehe aus.

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Der eigenwillige Tonfall, den sich dieser Film zutraut, beruht auf einem erstaunlichen Effekt, einer Art sinnlichen Täuschung. Man bemerkt erst in der Rückschau, im Nachdenken über das hier Gesehene und Gehörte, dass eigentlich alles, wovon in "Marriage Story" so sprühend, mit derart hoher komödiantischer Energie erzählt wird, stark deprimierende Wirkung zeigt.

Wie ein Liebesfilm startet diese Geschichte - bis man erkennt, dass dies nur eine Serie von Rückblenden in die besseren Zeiten jenes Paars ist, das nun beim Trennungstherapeuten die Scherben einer Ehe zu sortieren versucht. Das zentrale Duo, virtuos dargestellt von zwei Hauptsympathieträgern des Gegenwartskinos (Adam Driver als Off-Theater-Regiestar und Scarlett Johansson als Schauspielerin), verstrickt sich, fast ohne es zu wollen, in die amerikanische Scheidungsbürokratie.

Die drei mobilisierten Anwaltstypen, die im eskalierenden Entzweiungskrieg auftreten, zeigen bereits die unkonventionelle Vielfalt dieses Films: die smart-überspannte Laura Dern, der bodenständige Alan Alda, der reptilienhafte Ray Liotta. Die Szenen mit ihnen gehören zu den wahnwitzigsten Momenten dieses Films. Der New Yorker Regisseur und Autor Noah Baumbach ("Greenberg","Frances Ha") ist ein professioneller Unsicherheitsund Neurosenforscher. Er lotet die Psychen seiner Protagonisten mit einer Detailbegehrlichkeit aus, die im Gegenwartskino ohne Vergleich ist. Und er bewegt sich in seiner Erzählung, bei aller komischen Verve, tatsächlich dorthin, wo es wehtut.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.