Peter Michael Lingens
Türkei-Politik

Türkei-Politik: Kern oder Juncker?

Der Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre anständig - aber ist er auch klug?

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FPÖ, Grüne und NEOs sind einer Meinung, dass die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei abgebrochen gehörten. Kanzler Christian Kern nennt sie "fiktiv" und wird in seiner Neigung, sie abzubrechen auch von Außenminister Sebastian Kurz unterstützt. Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn empfiehlt im Einklang mit EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker das Gegenteil: Die beschlossenen Verhandlungen über die türkische EU -Mitgliedschaft und die Visa-Freiheit für Türken fortzusetzen, um das Flüchtlingsabkommen nicht fahrlässig zu gefährden.

Ich stehe rat- und hilflos zwischen diesen beiden Alternativen.

Im Bauch ist mir der Verhandlungs-Abbruch ungleich sympathischer: Die EU- Mitgliedschaft der Türkei (die ich noch vor fünf Jahren befürwortet habe) ist für mich spätestens seit dem Abbruch des Friedensprozesses mit den Kurden, der Anklage gegen sämtliche kritischen Journalisten und der Beseitigung der Immunität von Parlamentariern auf absehbare Zeit so undenkbar wie für Kern, Kurz und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Die Türkei ist sowenig Rechtsstaat wie funktionsfähige Demokratie. Aber im Kopf bin ich nicht ganz so sicher, dass der Verhandlungs-Abbruch die richtige Entscheidung ist. Denn er zöge zwingend die Beendigung des Flüchtlings-Abkommens durch Recep Tayyip Erdogan nach sich- und dieses Abkommen hilft nach wie vor, den Flüchtlingsstrom zu zähmen.

Man kann daher sehr wohl mit Hahn und Juncker argumentieren: Es wäre leichtfertig, Erdogan geradezu zu zwingen, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen.

Die EU geht mit den fortgesetzten Verhandlungen kein Risiko ein- eher wird sein Widerstand gegen einen wirklichen Rechtsstaat Erdogan bloßstellen.

o Denn dass weitere, wenn auch wichtige Kapitel (Justiz und Grundrechte, Justiz und Sicherheit) zum Zweck eines allfälligen Beitritts verhandelt werden, ist für sich genommen kein Schaden. Erstens genügt die aktuelle Gesetzeslage mit Sicherheit nicht den Anforderungen der EU, und selbst wenn sie geändert würde, brächte nur ihre tatsächliche Umsetzung die Türkei der EU-Aufnahme wirklich näher. Und selbst wenn die Justiz -Kapitel wider Erwarten in ein paar Jahren einvernehmlich als umgesetzt geschlossen werden könnten, wäre die Türkei noch viele Kapitel von der EU entfernt.

Sie wäre dann aber auch ein anderer Staat, über dessen Aufnahme sich ernsthaft diskutieren ließe.

Einen gewissen Vorteil hätte sogar ein vorläufiges formales Einvernehmen über Justizreformen: Auch als diverse Staaten des kommunistischen Ostblocks seinerzeit Vereinbarungen über "Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa" (KSZE) unterschrieben, war klar, dass sie sie nicht einhalten würden - dennoch war es für tschechische Dissidenten von Vorteil, sich bei Gerichtsverhandlungen auf den Wortlaut dieser Vereinbarungen zu berufen. Es könnte also auch für türkische Dissidenten von Vorteil sein, sich auf den Widerspruch zwischen einer gegen sie erhobenen Anklage und dem Wortlaut eines abgeschlossenen Justiz-Kapitels zu berufen. In Summe: Die EU geht mit den fortgesetzten Verhandlungen kein Risiko ein- eher wird sein Widerstand gegen einen wirklichen Rechtsstaat Erdogan bloßstellen.

o Auch die Verhandlungen über die Gewährung von "Visa-Freiheit" für Türken abzubrechen, gibt es keinen zwingenden Grund: Sie ist zwar an das Funktionieren des türkischen Rechtsstaates gebunden. Wenn die Türkei diese Bedingungen wider Erwarten erfüllt, soll es uns recht sein- aber wenn sie sie nicht erfüllt, wird es auch nicht weiter schlimm sein, dass Türken leichter und häufiger in die EU einreisen können. Um so besser lernen sie den Vorteil liberaler Staatswesen kennen.

Jeder Flüchtling, der dadurch mehr in die EU gelangt, stärkt den Rücken des rechten, nationalistischen Teils der europäischen Bevölkerung.

o Das Flüchtlingsabkommen gilt, solange es nicht aufgekündigt ist. Die von der EU zugesagten Zahlungen müssen nur geleistet werden, solange die von der Türkei zugesagten Gegenleistungen erbracht werden. Das lässt sich Monat für Monat feststellen. Wird die Leistung nicht mehr erbracht, wird die EU nicht mehr zahlen. Sie geht also diesbezüglich kein Risiko ein.

Ich gebe zu, dass diese Sicht der Dinge eine eher zynische ist: Die EU möge weiter so tun, als ob die Türkei ein ernsthafter Beitrittskandidat ist, statt demonstrativ klarzustellen, dass sie Dank der Politik Recep Tayyip Erdogans weiter denn je davon entfernt ist. Diese Klarstellung genügte zweifellos den Kriterien politischer Moral und wäre in der Praxis vermutlich geeignet, jenem Teil der türkischen Gesellschaft den Rücken zu stärken, der Europas Werte teilt. Aber ebenso zweifellos reagierte Erdogan in der Praxis mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens. Und jeder Flüchtling, der dadurch mehr in die EU gelangt, stärkt den Rücken des rechten, nationalistischen Teils der europäischen Bevölkerung.

Ich glaube zwar nach wie vor, dass es richtiger ist, in dieser Frage dem Bauch zu folgen - frei nach Winston Churchill: "Man weiß bei einer politischen Entscheidung nie, ob sie richtig oder falsch ist, also kann man gleich die anständigere treffen"- aber ich bin froh, sie nicht wie Kern oder Juncker tatsächlich treffen zu müssen.