Daniela Jopp

Alternsforscherin: „Mit 100 fallen gesundheitliche Probleme nicht mehr so ins Gewicht“

Die Alternsforscherin Daniela Jopp über die stark wachsende Zahl der 100-Jährigen, die hohe Lebensfreude der Hochbetagten, den Mythos häufiger Depressionen bei alten Menschen, die Rolle von Ernährung, Genetik und Sozialleben – und die Frage, an welchen Orten man besonders alt wird.

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Frau Professor Jopp, 2002 gab es in Österreich 644 Menschen, die 100 Jahre oder älter waren. Im Jahr 2010 waren es mehr als 1000.
Jopp
Und im Jänner 2021 lebten in Österreich 1421 Männer und Frauen im Alter von mindestens 100 Jahren. Das entspricht einer Zunahme von 220 Prozent innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten.
Ist Österreich damit ein Sonderfall?
Jopp
Im Gegenteil. Allein zwischen 2006 und 2011 hat sich die Zahl der Menschen im Alter von 100 plus in Europa verdoppelt. Den Vereinten Nationen zufolge lebten 2020 rund eine halbe Million Männer und Frauen aus dieser Altersgruppe.

 

Félix Sienra, 106
Der Segler Félix Sienra Castellanos aus Uruguay nahm 1948 an den Olympischen Spielen teil. Er wurde im Jänner 1916 in Montevideo
geboren.

Eine Ihrer Studien hat ergeben, dass in Deutschland über die Hälfte der Menschen im Alter von 100 plus noch zu Hause wohnen.
Jopp
Erstaunlich, nicht wahr? Untersuchungen aus New York zeigten, dass es dort sogar bis zu 70 Prozent sind. Und die große Mehrheit aus dieser Generation hat Spaß am Leben. Viele Hochbetagte freuen sich zum Beispiel darüber, mit ihren Enkeln oder Urenkeln Zeit verbringen zu können. Im Rahmen unserer Untersuchung aus Deutschland gaben über 80 Prozent der 100-Jährigen an, sie seien mit ihrem Leben zufrieden.

 

Einsamkeit erhöht das Risiko zu sterben genauso stark wie Rauchen und Übergewicht.

Daniela Jopp

Dabei ist mit 100 plus wahrscheinlich niemand mehr ganz gesund.
Jopp
Richtig. Durchschnittlich haben so alte Menschen vier bis fünf chronische Krankheiten oder Beeinträchtigungen. Sehr viele sehen zum Beispiel nicht mehr gut und haben Schwierigkeiten beim Gehen. Doch ist man erst einmal 100, fallen gesundheitliche Probleme offenbar nicht mehr so stark ins Gewicht. Vielen Hochbetagten gelingt es, sich trotz aller Einschränkungen wohlzufühlen. In der Psychologie nennen wir dieses Phänomen das Wohlbefindensparadox.
Uralte Menschen sind glücklich, obwohl sie vermutlich viel Zeit auf dem Sofa oder vor dem Fernseher verbringen?
Jopp
Sie machen sich da falsche Vorstellungen. In Wirklichkeit legen viele sehr alte Menschen noch immer eine große Vitalität an den Tag: Eine Dame aus dem USA, die ich im Rahmen einer Studie befragte, lud zum Beispiel regelmäßig ihre Bekannten sowie einen buddhistischen Mönch zu sich ein, um gemeinsam zu meditieren. Sie war damals 101 oder 102.

 

Jeanne Calment: Die Französin starb 1997 im Alter von 122 Jahren. Ihren Altersrekord hat noch niemand gebrochen.

Gibt es auch in unseren Breiten so aktive Hochbetagte?
Jopp
Sehr erfrischend war zum Beispiel ein 103 Jahre alter Mann aus der Kleinstadt Vevey in der Westschweiz. Wir hatten ihn wegen einer Studie angeschrieben. Einen Tag später rief er an und wollte unbedingt mitmachen. Es eile allerdings etwas, sagte er, denn er sei gerade auf dem Sprung: In wenigen Tagen fliege er nach New York, um seine Urenkelin zu besuchen. Sein Anruf erreichte uns während einer Hochphase der Coronavirus-Pandemie. Aber es scheint alles gut gelaufen zu sein mit der Reise. Kürzlich rief er wieder an. Er sei jetzt zurück aus Amerika und wolle endlich die Ergebnisse unserer Studie sehen.
Im Allgemeinen sollen Hochbetagte anfällig für Depressionen sein.
Jopp
Das wird oft behauptet. Aber ich fand bei keiner meiner Studien Anzeichen dafür. Tendenziell scheinen Depressionen in dieser Altersgruppe sogar etwas seltener aufzutreten als bei jüngeren Menschen. In Deutschland haben wir das Wohlbefinden von 40-Jährigen mit 60- und 100-Jährigen systematisch verglichen. Die Unterschiede waren sehr gering. Und 100-Jährige gaben ebenso oft wie 40-Jährige an, dass sie im Alltag häufig lachen. Die mittlere Altersgruppe erreichte da keine so hohen Werte.

 

Hochbetagte stammen oft aus Familien, in denen es bereits in den Generationen davor besonders alte Menschen gab, was auf genetische Vorteile hindeutet.

Daniela Jopp

Werden vor allem Akademiker sehr alt?
Jopp
Nein. Für die Lebenserwartung spielt das Bildungsniveau nur eine untergeordnete Rolle. Auch bezüglich Gesundheitsstatus, Lebenszufriedenheit oder Depressionen fanden wir keine signifikanten Unterschiede zwischen Menschen mit vielen oder wenigen Bildungsjahren.
Beugt Bildung Demenzerkrankungen vor?
Jopp
Das nicht. Der Abbau von Hirnzellen verläuft bei Personen mit mehr Bildungsjahren keineswegs langsamer als bei anderen. Ist man besser gebildet, beginnt dieser Prozess aber, einfach gesagt, auf einem höheren Niveau. Die Betroffenen können Beeinträchtigungen von Gedächtnis und Denkfähigkeit daher oft länger kompensieren. Generell verdoppelt sich das Risiko, an Demenz zu erkranken, ab 65 mit jedem Jahrzehnt. Dennoch hatten mehr als die Hälfte der 100-Jährigen aus den von mir bisher durchgeführten Studien keine oder nur geringe kognitive Beeinträchtigungen.

 

Sind reiche Länder wie die Schweiz oder Singapur in Bezug auf die Lebenserwartung führend, weil Reichtum die beste medizinische Versorgung garantiert?
Jopp
Nicht unbedingt. Es stimmt, dass die Schweiz bezüglich der Lebenserwartung weltweit einen der Spitzenplätze einnimmt und die Versorgung dort sehr gut ist. Aber sehr alt werden die Menschen auch in Ländern wie Frankreich, Italien und Griechenland. Auch Spanien schneidet gut ab. Manche Forscher führen das vor allem auf die sogenannte mediterrane Diät zurück: viel Fisch, viel Gemüse, Früchte, Olivenöl.

Wer uralt werden will, sollte nach Südeuropa ziehen?

Jopp
Es gibt auch Alternativen: Weltweit wurden bisher fünf sogenannte Blue Zones entdeckt: Regionen, in denen die Menschen besonders lange leben. Die Inselgruppe Okinawa in Japan zählt dazu, die Ortschaft Villagrande in Sardinien, die Nicoya-Halbinsel in Puerto Rico, die Insel Icaria in Griechenland und Loma Linda, eine Kleinstadt in Kalifornien. An all diese Orten ist die Wahrscheinlichkeit, mindestens ein Alter von 100 Jahren zu erreichen, deutlich höher als überall sonst.

 

Ingeborg Wolf, 107
Die Frau aus dem deutschen Kronberg arbeitete als Innenarchitektin.

Wieso spricht man von Blue Zones?
Jopp
Der belgische Demograf Michel Poulain, der diese Regionen vor etwa 20 Jahren entdeckt hat, markierte sie damals mit einem blauen Kugelschreiber auf der Landkarte. Die Bezeichnung Blue Zone hat sich vielleicht aber auch deshalb etabliert, weil viele dieser Orte von strahlend blauem Meer umgeben sind.
Was haben die Blue Zones sonst noch gemeinsam?
Wenig Stress und ein Sozialgefüge, das alte Menschen besonders gut einbindet. Auf Okinawa beispielsweise engagieren sich 100-Jährige oft noch in Dorfräten. Man ist stolz auf die ältesten Mitbürger und bringt ihnen großen Respekt entgegen.
Der Einfluss der Ernährung ist doch nicht so wichtig?
Jopp
Das würde ich so nicht sagen. In Japan sieht man fast nie übergewichtige Menschen. Die meisten Japaner ernähren sich gesund: viel frisches Obst und Gemüse, Fisch, dafür wenig Fleisch. Manches ähnelt der mediterranen Diät. Auf Okinawa wächst zudem eine bestimmte Süßkartoffel, die ganz besonders viele Vitamine enthält. Experten vermuten, dass allein diese Kartoffel zur hohen Lebenserwartung beiträgt.

In Vilcabamba, einem Tal in Ecuador, in dem auch sehr viele uralte Menschen leben, wird jede Menge geraucht, Schnaps getrunken und sehr salzhaltig gegessen. Alles total ungesund. Wie passt das zusammen?

Jopp
Die Sache mit der Lebenserwartung ist sehr komplex. Die Französin Jeanne Calment hat auch geraucht, bis ins 117. Jahr. Und Madame Calment wurde immerhin über 120. Allerdings war sie genetisch wohl deutlich besser geschützt als die Normalbevölkerung.

Ein sehr langes Leben hat also auch mit Veranlagung zu tun.

Jopp
Mit Sicherheit. Studien aus den USA haben gezeigt, dass bei Hochbetagten Risikogene für die Ausprägung mancher lebensgefährlicher Krankheiten, etwa koronare Herzerkrankungen und bestimmte Arten von Krebs, im Genom fehlen. Und Hochbetagte stammen oft aus Familien, in denen es bereits in den Generationen davor besonders alte Menschen gab, was ebenfalls auf genetische Vorteile hinweist. Aber auch der Lebensstil hat einen Einfluss: Wie hoch ist der Stresslevel? Bewegt man sich viel? Wie ernährt man sich? Wie ist man sozial in die Gesellschaft eingebettet? Wie gut hat man gelernt, mit Problemen und Frustrationen umzugehen?

Stimmt es, dass Männer überall früher sterben als Frauen?

Jopp
Ja. Frauen haben in jeder Lebensphase eine höhere Wahrscheinlichkeit zu überleben als ihre männlichen Altersgenossen. Besonders hoch ist das Ungleichgewicht bei den 100-Jährigen: Auch die jüngsten Zahlen der Statistik Österreich verdeutlichen das: Im Jänner 2021 lebten in Österreich insgesamt 1203 Frauen und nur 218 Männer dieser Altersgruppe. Die älteste Dame war bereits 112 Jahre alt. Frauen stellen in der Regel zwischen 70 und 85 Prozent der 100-Jährigen, je nach Land. Eine Ausnahme bilden nur die bereits erwähnten Blue Zones, wo es ähnlich viele Männer wie Frauen in dieser Altersgruppe gibt.

Liegt das vor allem an den Genen? Oder daran, dass Männer meist schneller Auto fahren und mehr Fast Food essen, rauchen und trinken?

Jopp
Der deutsche Demograf Marc Luy hat dazu in den 1990er-Jahren eine spannende Untersuchung mit Nonnen und Mönchen aus Bayern begonnen, mittlerweile umfasst sie auch Österreich. Ziel war es, Ursachen für die Geschlechtsunterschiede zu untersuchen. Und da der Lebensstil im Kloster für Männer und Frauen weitgehend ähnlich ist, gibt das Aufschluss darüber, welchen Einfluss dieser und andere Faktoren haben.

Und prompt werden die Männer im Kloster gleich alt wie die Frauen?

Jopp
Nein. Die Klosterstudie ergab, dass Frauen auch dort länger leben, und zwar durchschnittlich um ein Jahr. In der Allgemeinbevölkerung beträgt die Differenz zwischen den Geschlechtern aber rund drei Jahre. Dass trotz gleichen Lebensstils Unterschiede bestehen blieben, belegt die Bedeutung genetischer Faktoren, die sich zum Beispiel über Geschlechtshormone auswirken. Aber die Rolle des Lebensstils ist wichtiger und weitgehend verantwortlich für die höhere Sterblichkeit der Männer.
Für ein langes, glückliches Leben ist es also auf jeden Fall ein Vorteil, weiblich zu sein?
Jopp
Was die Lebensqualität angeht, nicht unbedingt. Interessanterweise sind hochbetagte Männer oft fitter als Frauen gleichen Alters. Wir erklären uns das durch Selektionseffekte: Für Männer ist die Hürde, so alt zu werden, höher. Und die wenigen, die sie meistern, sind dann eben ganz besonders robust.

 

Eileen Kramer, 108: Die australische Tänzerin, Choreografin und Malerin arbeitete in aller Welt, darunter Jahrzehnte in den USA. Sie stand im Jahr 2017 noch auf der Bühne.

Apropos fit: Stimmt es, dass Sie alten und sehr alten Menschen Krafttraining ans Herz legen?
Jopp
Ja. Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Körperkraft eine wichtige Voraussetzung dafür ist, auch im hohen Alter ein erfülltes Leben führen zu können, schon weil Muskelmasse mit dem Alter abnimmt. Dagegen hilft nur gezieltes Training. In Deutschland haben erste Fitnessstudios bereits Vormittage für ältere Menschen reserviert. Aber man kann sich auch anders fit halten: Tägliche Spaziergänge von zwei bis drei Kilometern zum Beispiel trainieren nachweislich nicht nur die Muskulatur der Beine, das Gleichgewicht und den Kreislauf, sondern senken auch das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, bis ins hohe Alter.

Was macht Hochbetagten besonders zu schaffen? Einsamkeit?

Jopp
Ja. Studien zeigen, dass Einsamkeit das Risiko zu sterben genauso stark erhöht wie Rauchen oder Übergewicht. Und viele sehr alte Menschen fühlen sich nicht ganz zu Unrecht als die letzten Überlebenden ihrer Generation. Mit wem soll man da seine Erinnerungen noch teilen? Im Rahmen unserer Studie in New York äußerten 2012 viele Teilnehmer den Wunsch nach Telefonnummern anderer 100-Jähriger. Sie wollten endlich wieder Leute kennenlernen, mit denen sie sich vernünftig austauschen können. Zur Abschlussveranstaltung reisten etwa 20 Damen und Herren persönlich an und unterhielten sich angeregt bei Kaffee und Kuchen.

Klingt toll. Aber hat man in so hohem Alter nicht auch häufig starke Schmerzen?

Jopp
Doch. 30 Prozent der Hochbetagten, die wir in Deutschland befragt haben, gaben an, oft oder gar ständig unter Schmerzen zu leiden. Nicht wenige sagten, die Intensität dieser Schmerzen sei kaum zu ertragen. Dabei kann die moderne Medizin Schmerzen eigentlich gut behandeln. Es stellen sich also viele Fragen: Erhalten 100-Jährige in Deutschland zu wenig Schmerzmedikamente? Oder die falschen Präparate? Vielleicht weisen manche Hochbetagte auch zu wenig auf ihre Schmerzen hin? In jedem Fall scheint es uns wichtig, die Hausärzte für das Thema besonders zu sensibilisieren.

Molekularbiologen versuchen bereits, den Alterungsprozess auf Zellebene zu stoppen. Werden erste Hochbetagte bald ihren 150. Geburtstag feiern?

Jopp
Der menschliche Organismus scheint nicht für 150 Jahre ausgelegt zu sein, so die übereinstimmende Meinung der Fachwelt. Auch wenn es immer mehr 100-Jährige und auch 110-Jährige gibt: Den Rekord von Jeanne Calment, die 1997 mit 122 Jahren starb, hat bis heute niemand gebrochen, seit immerhin einem Vierteljahrhundert.

Wollen Sie selbst zumindest 100 Jahre alt werden?

Jopp
Durch meine Arbeit habe ich unzählige Beispiele positiv gestimmter, sehr humorvoller 100-Jähriger kennengelernt. So oder so ähnlich sehr gerne! Allerdings gibt es natürlich auch 100-Jährige, die da weniger Glück hatten. Ein sehr langes Leben mit Schmerzen und kognitiven Einschränkungen würde mich weniger reizen.

Daniela Jopp, 50,

lehrt Psychologie an der Universität Lausanne. Sie hat an der Freien Universität Berlin (FU) Psychologie studiert und über erfolgreiches Altern promoviert. Seit gut 20 Jahren erforscht sie die besonderen Bedürfnisse von Hochbetagten: zunächst an der FU in Berlin, später an der Universität Heidelberg, ab 2008 an der Fordham University in New York und seit 2014 an der Universität Lausanne. Derzeit leitet sie die Studie SWISS100 über Menschen im Alter von 100 plus in der Schweiz, die 2024 abgeschlossen werden soll.