Keimbahnreise

Antibiotika sind immer öfter gegen Tuberkulose machtlos

Medizin. Antibiotika sind immer öfter gegen Tuberkulose machtlos

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Text: Jochen Stadler, Fotos: Florian Bachmeier

Es handelt sich um einen der ärmlichsten Landstriche Europas: Mit gerade mal 100 Euro pro Monat müssen die Menschen in Moldawien ihren Lebensunterhalt bestreiten. Der bescheidene Standard schlägt sich auch in einem maroden Medizinsystem nieder. Vor allem die Zahl der Tuberkulosefälle ist in Moldawien erschreckend hoch: Mehr als 230 TBC-Kranke kommen dort auf 100.000 Einwohner, in Österreich sind es laut jüngsten Daten sieben, in Deutschland fünf. Allerdings ist die Rate dieser bakteriellen Infektionen, die 2012 weltweit fast neun Millionen Patienten betrafen, in Osteuropa generell besorgniserregend – vor allem angesichts all jener Keime, die sich einer Behandlung inzwischen hartnäckig widersetzen. Anlässlich des Welt-Tuberkulosetages am Montag dieser Woche warnten Experten vor einer Ausbreitung sogenannter Multiresistenzen: vor Infektionen, gegen die klassische Antibiotika nicht oder kaum mehr wirken.

Doch auch Afrika und Asien sind stark davon betroffen. In Indien steckte sich beispielsweise der Österreicher Martin Berger infolge eines Trekking-Unfalls an. Die Nachbehandlung und die Versorgung der entzündeten Operationswunden sollten in der Heimat erfolgen. Grundsätzlich kein Problem, denn dafür gibt es ja Antibiotika. Doch die brachten immer nur kurz Besserung. Die Krankheitserreger waren offensichtlich zäh und hatten gelernt, Antibiotika unschädlich zu machen. In den Körper des 35-Jährigen waren multiresistente Bakterien gelangt – jene gefürchteten Keime, die vor allem in Krankenhäusern auftreten, und wegen derer Ärzte warnen, dass die Medizin ins Prä-Antibiotika-Zeitalter zurückfallen könnte, in dem jede Infektion lebensgefährlich war.

Missbrauchsfolgen
Die dürftige medizinische Versorgung in Ländern wie Moldawien verschärft die Situation zwar drastisch, doch die Problematik hat auch eine globale Komponente, welche die westliche Welt ebenfalls tangiert: Denn jahrzehnterlanger Antibiotikamissbrauch in Medizin und Tierzucht sowie mangelndes Interesse, neue Wirkstoffe zu entwickeln, haben dazu geführt, dass sich weltweit Krankheitserreger ausbreiten konnten, gegen welche die Ärzte keine geeigneten Mittel mehr im Kühlschrank haben. Nun sind Infektionskrankheiten, deren baldiges Ende vor 50 Jahren großspurig verkündet worden war, auf dem Vormarsch. Tuberkulose wird schwieriger zu behandeln, weil die Medikamente weniger wirken, so die Weltgesundheitsorganisation. 1,3 Millionen Menschen sterben jährlich an der Krankheit. Laut WHO sind bei weltweit 630.000 Tuberkulosefällen mehrfachresistente Erreger im Spiel. Dies sei nicht nur in stark betroffenen Regionen wie Osteuropa problematisch, sondern auch eine „Gefahr für die weltweite Gesundheit“, denn ein gefährlicher Krankheitserreger könnte bei den modernen Reiseströmen in 24 Stunden jeden beliebigen Ort der Erde erreichen. Auch in Österreich gibt es immer wieder Fälle von Multiresistenzen. Im Jahr 2012 waren es laut Antibiotikaresistenzbericht des Gesundheitsministeriums 27. Insgesamt erkrankten im selben Jahr 648 Österreicher an Tuberkulose.

„Wenn wir jetzt keine neuen Antibiotika finden, wird wahrscheinlich in 20 Jahren eine banale Infektion aufgrund der resistenten Keime wieder eine Bedrohung darstellen, und zwar eine Lebensbedrohung“, warnt Thierry Langer vom Department für Pharmazeutische Chemie der Universität Wien. Dessen sind sich Mediziner und Forscher wohl bewusst – in den Krankenhäusern werden große Anstrengungen unternommen, damit sich vielfachresistente Erreger nicht ausbreiten können, und auch die Suche nach neuen Antibiotika wird wieder forciert.

Aufstieg und Fall der Antibiotika
Der Siegeszug der Antibiotika war rasant. Als Penizillin während des Zweiten Weltkrieges erstmals in großem Maßstab hergestellt wurde, war der Bedarf groß. Nach WHO-Schätzungen rettete es damals hunderttausende Soldaten vor dem Tod durch Wundfieber. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten die großen Pharmafirmen ein Antibiotikum nach dem anderen, sie fanden Substanzen mit neuen Wirkmechanismen und verbesserten Bewährtes. Die Infektionskrankheiten waren scheinbar am Aussterben. „Fast alle Experten stimmen überein, dass bakterielle Infektionen im Jahr 2000 ausgelöscht sein werden“, schrieb „Time“ am 25. Februar 1966.

Der Erfolg führte aber dazu, dass Antibiotika übertrieben und unvorsichtig eingesetzt wurden und sich Bakterien entwickelten, denen sie nichts mehr anhaben können. Berüchtigt sind etwa MRSA, ein mehrfachresistenter Staphylococcus aureus, Pseudomonaden und verschiedene Keime, die ein Enzym namens ESBL besitzen, das Penizillin und die meisten seiner Verwandten zerschneiden kann. Die Erreger sind für gesunde Menschen meist kein Problem, bei immungeschwächten, alten Leuten und Patienten auf der Intensivstation können sie aber tödlich sein. Laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sterben in Europa jährlich 25.000 Menschen an antibiotikaresistenten Erregern.

„Das Besorgniserregende an den Antibiotikaresistenzen ist, dass die Standardantibiotika nicht mehr wirken“, erklärt Elisabeth Presterl vom Allgemeinen Krankenhaus (AKH) und der Meduni Wien. „Man greift heute oft auf Substanzen zurück, die man vor zehn Jahren wegen ihrer Nebenwirkungen gescheut und auch nicht wirklich gebraucht hat“, sagt Petra Apfalter, Primaria am Krankenhaus der Elisabethinen in Linz. Die Situation in Österreich sei allerdings noch recht entspannt, im EU-Vergleich liege man bei den Antibiotikaresistenzen im unteren Drittel. Dafür sei auch die Krankenhaushygiene verantwortlich, die schon in den 1990er-Jahren forciert worden ist. „Hier waren wir lange Zeit Vorreiter in Europa“, meint Elisabeth Presterl.

Die versiegende Pipeline
Nach den 1970er-Jahren stagnierte die Entwicklung neuer Antibiotika. Bis dahin waren 20 Klassen davon entwickelt worden, in den vergangenen drei Jahrzehnten nur noch zwei. Sich Krebs und chronischen Krankheiten zuzuwenden, wurde für Forscher interessanter und für die Unternehmen lukrativer. „Die Mikrobiologie ist weniger spektakulär als die Krebsforschung. Jeder hat in seiner Bekanntschaft Krebstote, aber durch den Erfolg der Antibiotika haben Bakterien kaum den Schrecken von früher, man schluckt ein paar Tage Tabletten, und niemand fürchtet Todesfälle“, erklärt Mathias Winterhalter von der Jacobs Universität Bremen. Die Reichweite von wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu dem Thema halte sich daher in Grenzen.

Auch wirtschaftlich sei es nicht sonderlich attraktiv, in solche Medikamente zu investieren. „Ein neues Antibiotikum wird zunächst für wenige Notfälle aufgespart und so selten wie möglich eingesetzt“, so Winterhalter. Deshalb gebe es zu Beginn kaum Umsätze, welche die Entwicklungskosten von bis zu einer Milliarde Dollar ausgleichen könnten. Zudem sind Antibiotikakonsumenten kaum Dauerkunden: „Jeder, der schon eine bakterielle Infektion hatte, weiß, dass man Antibiotika nur fünf bis zehn Tage einnimmt. Danach ist man, wenn man kein Pech hat, wieder gesund“, sagt Ralf Schmid von der Wiener Biotechfirma Nabriva. Blutdrucksenker müsse man hingegen 20 bis 30 Jahre lang nehmen, Präparate gegen Diabetes ein halbes Leben lang.

Mittlerweile hat sich das Blatt aber möglicherweise gewendet. „Ich glaube, dass wir gerade an der Kippe stehen und die Entwicklung neuer Wirkstoffe wieder lukrativ sein kann“, meint Langer. Die EU hilft mit einem Aktionsplan gegen die steigende Bedrohung durch Antibiotikaresistenzen nach, zu dem ein Projekt ­namens „New Drugs for Bad Bugs“ (neue Medikamente gegen böse Keime) gehört, in dessen Rahmen Pharmafirmen gemeinsam mit ­Forschern nach neuen Antibiotika forschen. ­Winterhalter etwa sucht Strategien, wie man ­Antibiotika effektiv in Bakterien einbringt. „Das Wirkprinzip vieler Antibiotika beruht auf der Hemmung zellulärer Mechanismen, daher müssen die meisten davon in die Zellen hinein“, ­erklärt er. Möglicherweise richten manche Substanzen kaum etwas gegen Krankheitserreger aus, weil sie nicht durch die Bakterienhülle kommen.

Die Chemie der Natur
Andere Forscher suchen nach neuen Wirkklassen. Alexander Pretsch mit seinem kleinen Tullner Unternehmen Sealife Pharma zum Beispiel bei Meerestieren und Mikroben an Korallenriffen in Bali, der Karibik und im Roten Meer. Die Chance, dort neuartige Substanzen zu finden, sei höher als in anderen Lebensräumen, glaubt Pretsch. Denn die meisten Meerestiere haben kein klassisches Immunsystem, sondern können sich nur mit chemischen Wirkstoffen gegen Erreger wehren. Es gibt zwar in der Natur tatsächlich noch Potenzial, Antibiotika zu finden, doch die Suche werde immer schwieriger, meint Verena Dirsch vom Department für Pharmakognosie der Universität Wien. Heute könne man aber mit Erbgutanalysen untersuchen, welche bisher unbekannten Substanzen verschiedene Organismen herstellen könnten – und diese dann im ­Labor produzieren.

Die Nabriva-Forscher in Wien haben eine Substanz von Seitlings-Pilzen wiederentdeckt, die man schon 1959 gefunden, aber wegen ihrer Nebenwirkungen nicht bei Menschen verwendet hatte. Doch die Experten schafften es, diesen Pleuromutilinen die Nebenwirkungen abzugewöhnen, erklärt Entwicklungsleiterin Zrinka Ivezić-Schönfeld. Früher hätte sich kaum jemand die Arbeit und das Risiko angetan, doch in der heutigen Situation sei ein neuartiges Medikament den Aufwand wert. Auch große Unternehmen haben wieder Medikamente in der Pipeline. GlaxoSmithKline entwickelt derzeit drei Antibiotika, zwei davon mit neuen Wirkarten. Roche wiederum arbeitet an einem neuen Antibiotikum speziell gegen Pseudomonas aeruginosa, einen Keim, der für immunschwache Personen gefährlich ist. Das Wiener Unternehmen Biovertis versuchte vor einigen Jahren, Antibiotika überhaupt neu zu erfinden. Man nahm sich dazu Angriffspunkte an der Bakterienoberfläche vor, die man bei der Impfstoffentwicklung entdeckt hatte. Die Forscher suchten und fanden Substanzen, die dort anhaften und dadurch für die Bakterien lebenswichtige Vorgänge blockieren.

Martin Berger und die Ärzte rangen zwei Jahre lang mit den resistenten Bakterien, in diesem Fall MRSA- und ESBL-bildende Klebsiella pneumoniae. Der Kampf spielte sich vor allem in einem Krankenzimmer des Wiener AKH ab, wo Infusionen mit drei verschiedenen Antibiotika endlich Heilung brachten.

Der Chronist der Krankheit
Zweimal besuchte der Münchner Fotograf Florian Bachmeier, 39, die Republik Moldawien: zunächst im Spätherbst des Vorjahres, und dann, für weitere 20 Tage, im Jänner dieses Jahres. Eine Auswahl der berührenden und teils beklemmenden Bilder, die Bachmeier bei seinen Reisen in das von ­Armut geprägte Land mit knapp mehr als drei Millionen Einwohnern schoss, publiziert profil auf den folgenden Seiten. Für den Fotografen, dem aufgrund zahlreicher Fahrten in Krisenregionen dieser Erde die bedrückenden Seiten des Lebens nicht fremd sind, wirkt die wochenlange Begleitung von TBC-­Patienten, unter anderem in einer Klinik in der moldawischen Hauptstadt Chisinau, nach: „Großen Eindruck hinterlassen hat immer die Begegnung mit den Menschen, die man ja auch in intimen Momenten begleitet und die oft zu Weggefährten für einige Tage werden“, sagt Bachmeier. „Beim Abschied weiß man in vielen Fällen, dass es ein Abschied für immer werden wird.“