Archäologie: Die Balkanroute brachte die Kultur nach Österreich
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Wie wurden wir Menschen in Europa zu dem, was wir heute sind? Woher stammt unsere Kultur, unsere Technologie, unsere Lebensweise? Das sind die Fragen, die Barbara Horejs antreiben. Seit zwei Jahrzehnten erforscht die Wiener Archäologin und Prähistorikerin die Neolithisierung des Kontinents: die Ausbreitung von Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht, Materialverarbeitung und Sozialstrukturen im Verlauf der vergangenen 10.000 Jahre. „Es war einer der wichtigsten Transformationsprozesse der Menschheitsgeschichte“, sagt Horejs. „Alle unsere heutigen Praktiken und Lebensformen gehen auf diese Phase zurück.“
Gerade erst erschien eine neue Studie, an der die 48-Jährige maßgeblich beteiligt war. Ein Forschungsteam, dem Horejs angehörte, rekonstruierte mittels Gentechnologie die Route eines der wichtigsten Nutztiere des Menschen: Die Forschenden zeichneten nach, wie wandernde Menschen Schafe vor etwa 8500 Jahren nach Europa mitbrachten. Eine Wiege der Domestikation dürfte eine gut 10.000 Jahre alte steinzeitliche Siedlung in Zentralanatolien gewesen sein. Dort stieß die Wissenschaftergruppe auf Schafsknochen, denen sie Erbgut entnahm. Anschließend analysierte sie die mitochondriale DNA darin, die stets nur in der mütterlichen Linie weitergegeben wird. Indem man diese Art von Erbgut in Populationen an verschiedenen Orten untersucht und die zeitlichen Abstände zwischen den Generationen der Mütter berechnet, lässt sich ein Bewegungsmuster ableiten.
Die Biografie eines Steinwerkzeugs
Archäologie beschränkt sich nicht mehr auf den Einsatz von Spaten, Kelle und Pinsel. Eine Vielzahl moderner Methoden erweitert den Werkzeugkasten und ermöglicht Einblicke in die Vergangenheit, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. „DNA-Analytik und Bioarchäologie haben einen Paradigmenwechsel gebracht“, sagt Horejs. Eine der jüngsten Techniken ist die Mikromorphologie: Damit lassen sich sogenannte Dünnschliffe von Grabungsschichten anfertigen, die eine Art Zoom in feinste Ablagerungen in Gesteinen erlauben. Derart kann man Überreste entdecken, etwa Spuren der Rohstoffverarbeitung oder tierische Exkremente, die Aufschluss über Lebens- oder Ernährungsgewohnheiten geben und ein Fenster in die Vergangenheit öffnen.
Ein völlig neuer Zweig sei die Gebrauchsspurenanalyse, so Horejs, die eine „Biografie eines Artefakts ermöglicht“. Ein Stein kann bis ins Detail preisgeben, wofür er verwendet wurde: Abrieb zusammen mit Spuren von Stärke und versteinerten Pflanzenresten kann beispielsweise verraten, dass mit einem Steinobjekt Erbsen zermahlen wurden. Daher weiß man heute, dass vor 8000 Jahren am Balken Erbsenpüree hergestellt wurde.
Puzzlesteine einer großen Geschichte
Solche scheinbar kleinen Erkenntnisse, die wie historische Puzzlesteine Teile einer großen Geschichte preisgeben und Gebräuche und Technologien unserer Vorfahren erhellen, machen den Beruf besonders spannend, findet Horejs. Allerdings: Je mehr man dank immer raffinierterer Methoden herausfinde, desto deutlicher würden sich Wissenslücken und offene Fragen abzeichnen, was aber erst recht die Neugier befeuere. Und Neugier sei seit jeher ihre Motivation gewesen, so Horejs, die schon als Kind mit den Eltern antike Stätten besucht und eine Faszination für verflossene Welten entwickelt hat. „Die Antike war mir schon damals durchaus nah. Ich wusste bereits als Teenager, dass ich Archäologie studieren will.“
Archäologin Barbara Horejs
Schon als Kind begeisterte sich die heute 48-Jährige für die Antike und besuchte mit ihren Eltern Ausgrabungsstätten. Die Antike sei ihr näher als das Mittelalter, sagt sie. Und von dort sei der Weg zur Urgeschichte gar nicht mehr so weit. Bereits als Teenager fasste sie den Entschluss, Archäologie zu studieren.
Sie studierte in Wien, Berlin und Athen, schloss 2005 mit Auszeichnung ab und erhielt in den Jahren danach mehrere Forschungspreise und Stipendien für ihre Projekte. Heute ist Barbara Horejs wissenschaftliche Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Professorin an den Universitäten Wien und Tübingen, hat derzeit eine Gastprofessur in Venedig, rund 120 Publikationen für Fachzeitschriften und Dutzende Buchbeiträge verfasst und unterhält Kooperationen mit Instituten im Nahen Osten, Iran, den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Griechenland, Bulgarien, Serbien, Kroatien und demnächst auch in Albanien.
In Zusammenarbeit mit internationalen Teams, die mitunter aus 30 bis 40 Mitgliedern bestehen, nimmt sie auch ihre Grabungen in Angriff. Eine davon liegt an der türkischen Ägäisküste, nur einen Kilometer vom berühmten Ephesos entfernt. Auf einer Anhöhe namens Çukuriçi Höyük legten die Forschenden über die Jahre die Reste einer prähistorischen Siedlung frei, die vor etwa 9000 Jahren entstand und mindestens 2000 Jahre bewohnt war.
Ein frühes Zentrum für Handel und Metallverarbeitung
Das Niveau dieser frühen Zivilisation war beeindruckend: Die Menschen betrieben Ackerbau, hielten Tiere, fischten, errichteten Mauern aus Stein und Lehm und fuhren zur See. Sie importierten Rohstoffe wie Vulkangestein von der 300 Kilometer entfernten Insel Melos und fertigten daraus Klingen und Werkzeuge. Çukuriçi Höyük muss ein frühes Zentrum der Material- und Metallverarbeitung gewesen sein – und eine urgeschichtliche Wirtschaftsmetropole, die mit diesen Gütern Handel betrieb.
Nahmen ein paar Menschengruppen von dieser Pioniersiedlung ihre Erfindung und ihr Know-how eines Tages mit auf eine lange Reise Richtung Europa? Gut möglich, meint Horejs. Sicher sei, dass die Wiege unserer Zivilisation und Kultur in diesen Regionen liegt, in der heutigen Türkei ebenso wie im westlichen Iran. Eine „Schlüsselzone der Neolithisierung“ nennt Horejs diese Gegenden. Die Arbeiten im Iran stocken inzwischen aufgrund der politischen Lage. Aber das werde sich gewiss wieder ändern: „Niemand weiß besser als Archäologen, dass kein Imperium für immer existiert. Alle enden irgendwann.“
Eine völlig neue Lebensform
Aus dem ägäischen Raum strebten die frühen Menschen nach Südosteuropa und weiter nordwärts. „Das war die Eintrittspforte der völlig neuen neolithischen Lebensform nach Europa“, erklärt Horejs. Die Route führte entlang einer Süd-Nord-Achse von Thessaloniki nach Mitteleuropa, vom Mittelmeer Richtung Donau. Was heute von manchen Politikern abschätzig als Balkanroute bezeichnet wird, war der bedeutendste prähistorische Kommunikationsweg, auf dem Menschen, Tiere, Wissen, Technologien und Innovationen aus frühen kulturellen Zentren ins Herz Europas gelangten – eine Umwälzung, die den Kontinent für immer verändern sollte und die menschliche Gesellschaft bis heute prägt.
Es ist die historische Bedeutung dieser geografischen Region, die Horejs’ Forschungsinteresse derzeit auch auf Länder des Balkan lenkt. Sie forciert dort deshalb Grabungen und Kooperationen, wobei sie die Überzeugung vertritt, man müsse selbst bei der Feldarbeit dabei sein, um sich einen stimmigen Eindruck zu verschaffen. Seit dem Jahr 2018 laufen Grabungen in Südserbien, wo frühe Generationen sesshafter Bauern lebten und auf einer Ebene am Fluss Morava Äcker bestellten. Das Archäologenteam förderte Werkzeuge und Gefäße sowie Rückstände von Verbrennungsprozessen zutage. Die Siedlung scheint ein Missing Link zwischen den neolithischen Zivilisationen des ägäischen Raums und jenen Zentraleuropas zu sein, eine Zwischenstation des Kulturtransfers, wobei die Behausungen deutlich schlichter waren als in Çukuriçi.
Diese Erkenntnis stützt eine gängige Beobachtung: Kulturelle Entwicklung ist kein linearer Prozess und beruht nie auf einem kontinuierlichen Zuwachs an Fertigkeiten, sondern unterliegt ständigen Schwankungen, wobei bereits erworbene Kenntnisse mitunter wieder verloren gehen – und sich die Menschen unablässig anpassten, an die Natur, das Klima und verfügbare Ressourcen. Gruppen, die sich nicht hinlänglich resilient erwiesen, verschwanden eines Tages wieder vom historischen Atlas. „Die Neolithisierung verlief auch nicht vom fruchtbaren Halbmond bis Schweden gleich“, sagt Horejs. „Dieser Abschnitt der Vergangenheit dient auch als Reflexionsplattform, um zu verstehen, welche Innovationen in welchem Umfeld funktioniert haben und welche nicht.“
Der bedeutende Schritt zum sozialen Netzwerk
Heute bestimmt das Resultat früher Bemühungen unser Dasein. Es ist das Ergebnis von Versuch und Irrtum und des permanenten Ringens um Innovation. Was war die wichtigste Innovation dieser Zeit? Über eine Antwort auf diese Frage muss Barbara Horejs nicht lange nachdenken: „Es war der Entschluss, dauerhaft an einem Ort zu bleiben, ein Zuhause zu bauen und statt isolierter Gruppen Haus- und Dorfgemeinschaften zu errichten.“ Es handelte sich um die Etablierung sozialer Netzwerke, die über familiäre Bande hinausgingen und nach Horejs’
Definition Menschen, Tiere und Pflanzen genauso einschlossen wie Technologien, Materialien zu gewinnen und zu bearbeiten. Der Mensch machte damit einen Schritt in die Selbstbestimmung: Das Zusammenleben an einem Ort erlaubte planvolle Vorratshaltung und entließ die Spezies aus der ausschließlichen Abhängigkeit von der Natur.
Alle wesentlichen Innovationen wurden außerhalb Europas entwickelt. Migration brachte die Zivilisation.
Das Wachsen sesshafter Gemeinschaften brachte allerdings auch Probleme mit sich, die uns noch heute plagen: Ab einer kritischen Größe der Siedlungsstrukturen, in denen Menschen auf engem Raum mit ihren Nutztieren lebten, fanden Krankheitserreger einen wunderbaren Nährboden vor und schafften in Form von Zoonosen den Übersprung vom Tier auf den Menschen. Die Suche nach Überresten von Pathogenen ist ebenfalls ein Ziel der modernen Archäologie, die uns Aufschluss über frühe Epidemien geben kann, ausgelöst etwa durch das Pestbakterium oder das Masernvirus.
In jedem Fall kamen sämtliche Grundlagen der modernen Gesellschaft über die Balkanroute nach Europa – und sind somit Ergebnis von Migration. Alles, was unser heutiges Leben ausmacht, ob das Zusammenleben in Städten, soziale Strukturen oder die Produktion und der Austausch von Materialien, wurde importiert. „Alle wesentlichen Innovationen wurden außerhalb Europas entwickelt“, sagt Horejs. „Migration brachte die Zivilisation. Das gilt für den gesamten europäischen Kontinent.“ Vermeintlich ursprünglichen Lebensstil gegen Einflüsse von außen abschotten zu wollen, sei daher, historisch betrachtet, schlichtweg paradox.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft