Hirnforschung

Evolution der Furcht: Woher unsere Ängste stammen

Wir fürchten uns oft vor Risiken, die uns eher nicht umbringen werden. Warum sind viele Ängste ziemlich irrational? Eine Rolle dürften alte Muster der Gefahrenerkennung spielen.

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Wahnsinn! 500 Prozent mehr tödliche Haiangriffe! Wenn das kein Grund ist, sich vor einem Sprung ins Meer zu ängstigen. Keine Übertreibung, die Zahl stimmt wirklich – wenn auch nur für das Jahr 2020. Damals kam es im Vergleich zu 2019 zu einer Verfünffachung tödlicher Haiattacken. Der Befund ist aber nur dann furchteinflößend, wenn man die Gefahr in Prozent angibt. In absoluten Zahlen ist die Sachlage weniger dramatisch: 2019 kamen weltweit zwei Menschen durch Haie zu Tode, im Jahr darauf zehn. Die Chance, Beute eines Hais zu werden, bleibt verschwindend gering.

Dennoch: Viele Menschen haben eher die gruselige Vorstellung einer unvermittelt aus den Wellen auftauchenden Flosse im Kopf als das kaum emotionsbeladene Risiko eines (viel wahrscheinlicheren) tödlichen Autounfalls auf der Fahrt zum Strand; sie fürchten einen Terroranschlag (knapp 400 Tote in Europa seit 2015), aber kaum ein Unglück im Haushalt oder beim Sport (etwa 3000 Opfer jährlich allein in Österreich); sie schrecken sich vor Elektrosmog, steigen aber bedenkenlos in ein Linienflugzeug, wo sie weit höheren Strahlendosen ausgesetzt sind; sie haben Angst vor Gift und Gentechnik im Essen, ignorieren aber gerne die mit Abstand größte Gefahr, die von Nahrungsmitteln ausgeht: zu große Mengen davon.

Gefahr im Gebüsch

Unser evolutionär geprägtes Gehirn überlegt nicht lange, wenn es Hinweise auf Gefahr sieht – zum Beispiel den Körperteil eines Raubtiers. Zu lange nachzudenken, ob es sich wirklich einen Löwen handelt, hätte unsere Vorfahren das Leben kosten können. Daher galt die Devise: lieber gleich flüchten. Heute könnte uns diese mentale Strategie eher schaden, meinen Fachleute.

Ein ganzer Zweig der Wissenschaft, speziell aus den Sparten Psychologie und Verhaltensökonomie, geht seit geraumer Zeit der Frage nach, warum wir uns vorzugsweise vor Risiken fürchten, die uns höchstwahrscheinlich nicht umbringen – während uns echte Gefahren selten schlaflose Nächte bereiten. In österreichischen Umfragen geben regelmäßig 25 bis 30 Prozent der Befragten an, sich besonders vor Atomunfällen und Terroranschlägen zu sorgen. Viel ernster sollten wir aber andere Killer nehmen, wie der deutsche Statistiker und Ökonom Walter Krämer gerne anmerkt: Haushalt, Straßenverkehr, Übergewicht, Krankenhauskeime, Tabak- und Alkoholkonsum.

Keine dieser unspektakulären Alltagsbedrohungen vermag offenbar unsere Angstinstinkte effektiv zu stimulieren, im Gegensatz zu nuklearen Katastrophen, Terroranschlägen, Flugzeugabstürzen und Morden, die zusammen nie für mehr als ein Prozent aller jährlichen Todesfälle verantwortlich sind, wie der schwedische Mediziner Hans Rosling in einem viel beachteten Buch ausführte.

Tödliche Fehlentscheidungen

Ein inzwischen berühmtes Beispiel für eine verzerrte Gefahrenwahrnehmung, die zu fatalen Fehlentscheidungen führte, stammt von Gerd Gigerenzer, Psychologe und Risikoforscher an der Universität Potsdam. Nach den Attentaten des 11. Septembers 2001 stiegen viele Amerikaner aus Angst vor dem Fliegen aufs Auto um. Gigerenzer rechnete aus, dass die vermehrte Pkw-Nutzung im Jahr nach dem Anschlag zu einem Anstieg der Verkehrstoten um rund 1600 Personen führte. Das waren gut sechsmal mehr Menschen, als in den von den Terroristen gekaperten Flugzeugen ums Leben kamen.

Der Mensch, so zeigen Untersuchungen immer wieder, ist nicht besonders geschickt darin, Risiken rational zu beurteilen. Der renommierte Harvard-Psychologe Steven Pinker betont beispielsweise in vielen seiner Bücher, dass wir – entgegen aller Evidenz – die Welt häufig als bedrohlichen Ort voller

Gefahren sehen, dessen Zustand sich ständig verschlechtere. Pinker behauptet unermüdlich, dass das Gegenteil zutreffe. In scharfem Kontrast zu unserer Intuition werde die Welt immer besser, so Pinkers Einschätzung: Die Mordrate und die Kindersterblichkeit sinken, die Lebenserwartung steige, immer weniger Menschen müssen in extremer Armut leben, mehr Kinder haben Zugang zu Bildung, Infektionskrankheiten richten viel weniger Schaden an als früher.

Warum aber richten sich unsere Ängste auf Faktoren, die diese Emotion häufig gar nicht verdienen? Und wieso fürchtet sich der Mensch überhaupt?

Viele Erklärungsversuche gehen davon aus, dass das Gehirn gleichsam automatisiert ein evolutionär gespeichertes Programm abspult, wenn es gilt, eine potenziell bedrohliche Situation zu beurteilen. Beispiel Terroranschlag: Solch eine Katastrophe birgt ein „Schockrisiko“. Dabei sterben viele Menschen gleichzeitig am selben Ort. In jenen fernen Tagen, als Homo sapiens in kleinen Gruppen um seinen Platz auf dem Planeten kämpfte, hätten solche Ereignisse die ganze Spezies erheblich dezimieren können: Mit einem Schlag hätte etwa eine Naturkatastrophe komplette Clans auslöschen können. Gigerenzer nimmt an, dass durch Schockrisiken ein uralter Alarmmechanismus aktiviert wird, auch wenn dieser im 21. Jahrhundert oft nicht mehr angemessen sein mag. Dennoch reagiere auch heute „unser evolutionär geprägtes Gehirn mit großer Angst“.

Sehen Sie die Schlange?

Ein Gefahrenreiz löst eine Kaskade biochemischer Reaktionen aus, die unsere Reaktions- und Leistungsbereitschaft erhöhen: Intuitiv entscheidet das Gehirn, ob wir fliehen, kämpfen oder erstarren. Bis heute wirken Ängste vor giftigen Tieren wie Spinnen oder Schlangen oder auch verdorbener Nahrung nach.

Auf welche Weise das Gehirn furchteinflößende, potenziell lebensgefährliche Situationen bewältigt, ist ein wichtiges Thema der Kognitionsforschung. Ein klassischer Ansatz geht davon aus, dass uns prinzipiell zwei Strategien zur Verfügung stehen: eine langsame und eine schnelle. Erstere wäre der Weg der Vernunft. Man prüft und vermisst die jeweilige Situation genau, erwägt auf Basis möglichst vieler Fakten und mittels logischer Schlüsse, welche Reaktion, rational betrachtet, die beste ist. Das ist zwar klug und grundsätzlich erstrebenswert, konnte in den frühen Tagen der Menschheit aber schnell das Leben kosten: Ließ sich in einem Gebüsch der Schwanz eines Löwen ausmachen, wäre es eher nicht die beste Idee gewesen, erst mal nachzusehen, ob es sich wirklich um einen Löwen handelt und eine Fluchtentscheidung dann von dessen Größe, Kraft, Stimmungslage und Sprungbahn abhängig zu machen. Langes Nachdenken konnte lebensgefährlich sein.

Sofort abhauen!

Stattdessen gab das Gehirn die Devise aus: Wo Schwanz, da Löwe, also hau sofort ab. Das ist die zweite, schnelle, intuitive Strategie, bei der das Gehirn gleichsam eine Abkürzung nimmt, die Faktenlage zunächst einmal ignoriert und uns zu einer raschen Reaktion veranlasst: hastig wegrennen oder sich verstecken, kämpfen oder totstellen. In der Konfrontation mit Raub- oder giftigen Tieren wie Spinnen oder Schlangen kam eine physiologische und biochemische Kaskade in Gang: Das Herz raste, der Blutdruck stieg, die Bronchien weiteten sich – der Körper fuhr blitzartig und ohne bewusstes Zutun Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit hoch. Die Amygdala, das Angstzentrum im limbischen System des Gehirns, meldete den Reiz an weitere Hirnareale, und es wurden die Hormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Das Auslösen von Furcht samt der folgenden körperlichen Kettenreaktion erfüllte somit eine Schutzfunktion, die den Menschen vor tödlichen Gefahren bewahren konnte.

Und heute? Wir haben unser evolutionäres Erbe in die Gegenwart mitgenommen. In unserem Organismus läuft exakt dasselbe Angstprogramm ab, wobei der Ekel vor Spinnen, Schlangen und verdorbenem Essen oder auch das Unbehagen bei Dunkelheit wohl emotionale Überbleibsel vormals echter Gefahren sind. Generell ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo ein gefräßiger Löwe ums Eck kommt, heute einigermaßen überschaubar.

Manche Forschenden meinen daher, dass die einst ausgeprägten, vielfach instinkthaften Strategien oft mehr schaden als nützen, wenn es um den Umgang mit heute relevanten Gefahren geht. Denn diese sind oft komplex, abstrakt und verweigern sich der Intuition, wie zum Beispiel der Klimawandel; oder sie sind nur mit nüchterner Statistik zu fassen, weil sie – anders als Schockrisiken – leise, großräumig, ganz ohne Knalleffekt und über lange Zeiträume enorm hohe Opferzahlen fordern, wie Fehlernährung oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Unser von den Vorfahren geerbtes Instrumentarium ist offenbar nicht besonders gut geeignet, solche Risiken als bedrohlich zu empfinden.

Die Folge wäre, nach dieser Denkschule, eine chronische Anfälligkeit für nutzlose Furchtreize und daraus resultierende irrationale Entscheidungen, wobei der Hai (Achtung, Raubtier!) ebenso unser Alarmzentrum stimuliert wie Spuren von Pestiziden im Essen (Vorsicht, unsichtbares Gift!) – ohne zu prüfen, um welche Mengen Pestizide es sich handelt, und ohne einzukalkulieren, dass ein Gewinn im Lotto viel wahrscheinlicher ist als eine Begegnung mit einem Hai.

Hai-Alarm

Die Zahl der weltweiten tödlichen Haiattacken ist verschwindend gering, wie diese Grafik von Statista.de zeigt. Von 2019 auf 2020 kam es dennoch um eine Steigerung um 500 Prozent – von zwei auf zehn. Das Beispiel zeigt, dass es irreführend sein kann, Risiken lediglich in Prozent anzugeben.

Die Angst der sozialen Blase

Ist es aber wirklich so einfach? Ist der Mensch ein hilfloser Sklave der Evolution, die ihm diktiert, wovor er sich fürchten muss? Viele Ängste erscheinen tatsächlich wie ein irrationaler Nachhall vergangener Zeiten: indem man etwa einfach fürchtet, was der eigene Clan fürchtet. Beispielsweise haben die Menschen in verschiedenen Ländern vor verschiedenen Dingen Angst, obwohl die Gefahren hier wie dort exakt dieselben sind (wenn man es ganz genau nimmt, müsste man zwischen der auf ein konkretes Objekt gerichteten Furcht und der allgemeineren, diffuseren Angst unterscheiden). In Österreich und Deutschland haben die Leute größte Sorgen vor Gentechnik in Nahrungsmitteln und lehnen solche Produkte vehement ab. In den USA dagegen rauben gentechnisch veränderte Nutzpflanzen kaum jemandem den Schlaf.

Dafür ängstigen sich dort viele Menschen vor Weihnachtskerzen, wie Gerd Gigerenzer in einer Anekdote berichtet: Allein die Vorstellung, brennende Kerzen am Weihnachtsbaum zu haben, löse in den USA eine mittelstarke Panikreaktion aus, während in Europa sanft zuckende Kerzenflammen als feierlich, romantisch und stimmungsvoll empfunden werden. Gleichzeitig haben viele US-Bürger wenig Bedenken, ihren Lieben eine hübsch verpackte Rifle unter den Weihnachtsbaum zu legen.

„Fürchte, was deine soziale Gruppe fürchtet“, erläutert Gigerenzer das Grundprinzip. Mit rationaler Gefahreneinschätzung hat das nichts zu tun – genauso wenig wie der Umstand, dass sich gern mal Kettenraucher vor Pestizidrückständen in Gemüse ängstigen. Oder im Bier: Vor einigen Jahren herrschte in Österreich helle Aufregung, als der Unkrautvernichter Glyphosat in Bier nachgewiesen wurde. Man fand vier Mikrogramm pro Liter Bier, was wochenlang für Schlagzeilen sorgte. Niemand wird jedoch hysterisch in Anbetracht eines anderen Gifts, von dem zehn Millionen Mal so viel enthalten ist: Alkohol.

Fürchte, was deine soziale Gruppe fürchtet.

Gerd Gigerenzer, Psychologe

Manche Forschende hingegen glauben nicht, dass wir unserer evolutionären Ausstattung gänzlich ausgeliefert sind und wir uns nicht dagegen wehren können, denselben Impulsen zu folgen wie unsere Jäger- und Sammlerahnen. Wie Steven Pinker argumentiert, hat der Mensch immerhin ein umfangreiches, klug ausgedachtes und vielfach bewährtes Instrumentarium entwickelt, um die Welt zu untersuchen, zu vermessen und stückweise immer besser zu verstehen. Uns stehen Werkzeuge des rationalen Denkens zur Verfügung, die uns überhaupt erst in die Lage versetzen, zwischen rationalen und irrationalen Ängsten zu unterscheiden. Dass wir darüber nachdenken können, ob die Evolution daran Schuld trägt, dass wir uns vor einer Spinne fürchten, nicht aber vor einer Steckdose, verdanken wir unserer Fähigkeit, über uns selbst und unser Verhalten zu reflektieren.

Pinker verweist außerdem darauf, dass wohl auch die Frühmenschen nicht bloß impulsgesteuerte Wesen waren. Betrachte man Volksgruppen, die noch heute weitgehend als Jäger und Sammler leben, könne man Interessantes beobachten: wie sie bei der Jagd logisches Schlussfolgern, Würdigung von Evidenz, Wahrscheinlichkeiten und Methoden gleichberechtigten Diskurses anwenden. Die Grundmuster rationalen Denkens, meint Pinker, waren in unserem Gehirn schon immer angelegt – und sind wohl eine Erklärung für den Erfolg des Homo sapiens.

Mit anderen Worten: Wir besitzen praktikable Mittel und Wege, um zu überprüfen, wovor wir uns wirklich fürchten sollten.

Und diese Nachricht ist eindeutig ermutigend.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft