Henning Beck

Gehirnforscher Beck: "Zu viel Routine schadet"

Der deutsche Biochemiker, Gehirnforscher und Sachbuchautor Henning Beck ("Irren ist nützlich") über Denkschubladen, Kreativität und unser fehleranfälliges Gehirn.

Drucken

Schriftgröße

INTERVIEW: SEBASTIAN HOFER

profil: Es herrscht gerade eine große Konjunktur des Aufräumens und Ordnens. Ist das aus der Sicht des Neurowissenschafters begrüßenswert? Beck: Nicht alles, was eine Struktur hat, würde man objektiv als ordentlich beschreiben. Ich kenne viele Wissenschafter, die an scheinbar chaotischen Schreibtischen arbeiten. Aber sie haben alle eine innere Struktur von diesem Schreibtisch. Auch unser Gehirn sortiert die Dinge nicht in Schubladen.

profil: Aber es weiß doch immer, wo es die Dinge suchen muss? Beck: Das wage ich zu bezweifeln. Das Gehirn ist sehr unordentlich - und trotzdem strukturiert. Es gibt nicht ein einziges Schema, nach dem Informationen geordnet werden. Das verläuft nicht systematisch.

profil: Sie schreiben, es ist die Ungenauigkeit, die uns den Computern überlegen macht. Beck: Der große Unterschied zwischen einem Gehirn und einem Computer besteht darin, dass das Gehirn nicht dafür da ist, Regeln möglichst effizient zu verfolgen und starre Muster zu erfüllen. Im Laufe des Lebens verändert sich im Gehirn die Art, wie wir ordnen. Kreativität, neue Ideen können überhaupt erst entstehen, wenn man mit Mustern oder Denkschablonen bricht.

Je häufiger man gleich denkt, desto schwieriger wird es, neu zu denken.

profil: Kann das Gehirn - durch zu viel Routine und zu wenig Input - auch verkümmern wie ein untrainierter Muskel? Beck: Das kann theoretisch passieren, ist in unserer Welt aber selten der Fall. Zum Glück können wir gegen Routinen ankämpfen, dann wirken sie sich nicht mehr negativ aus. Je eintöniger der Beruf, desto eher sucht man sich ein Hobby. Denn natürlich ist es so: Zu viel Routine schadet. Je häufiger man gleich denkt, desto schwieriger wird es, neu zu denken.

profil: Sind Konzentration und Kreativität grundverschieden? Oder kann man konzentriert auf eine kreative Lösung kommen? Beck: Wir sprechen einerseits vom analytischen, andererseits vom abschweifenden Denken. Das sind in der Tat verschiedene Denkprozesse, die in verschiedenen Gehirnregionen ablaufen. Weder das eine noch das andere würde für sich ausreichen, um clever zu denken. Wir neigen allerdings dazu, das analytische Denken zu bevorzugen. So werden wir erzogen: Konzentrier dich! Streng dich an! Lass dich nicht ablenken! Wenn man das zu sehr pflegt, kommt man aber nicht mehr aus seiner Denkschublade heraus.

profil: Wie soll ich mir als Laie das Gehirn vorstellen? Als chaotisches Lagerhaus? Beck: Man darf nicht glauben, dass konkrete Erinnerungen an konkreten Orten gespeichert sind. Erinnerungen werden immer neu erzeugt. Ein besseres Bild wäre ein Orchester: Wenn die Wiener Philharmoniker spielen, ist die Musik nicht im Orchester abgespeichert, sondern wird im Moment erzeugt. Ganz ähnlich erzeugen die Nervenzellen eine Harmonie, die zum Gedanken wird. Beim Orchester gibt es allerdings einen Dirigenten und eine Partitur. Die gibt es im Gehirn nicht.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.