Martin Hetzer, Präsident des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), über Kreativität in der Wissenschaft, die Notwendigkeit des Scheiterns und unsere ewige Skepsis gegenüber Neuem.
Amerikanische Kollegen rollten die Augen, als sie hörten, dass Sie ans ISTA wechseln. Dachten die, Sie tauchen jetzt in der Provinz ab?
Hetzer
Ich war 20 Jahre in den USA. Nach so langer Zeit wäre auf jeden Fall die Frage gekommen, wieso ich weggehe, egal wohin ich gegangen wäre. Aber sobald ich erklärt habe, was das ISTA ist und was wir hier leisten können, hat keiner mehr die Augen gerollt.
Wie haben Sie es erklärt?
Hetzer
Zum Beispiel damit, dass hier ein Top-Institut entsteht mit einer Finanzierungszusage bis 2036. So etwas gibt es in den USA nicht. Dort ist man von der Philanthropie abhängig, denn nach einer Förderung über in der Regel fünf Jahre muss sich eine Einrichtung selbst tragen.
Hier haben zwar viele Leute von der „Eliteuni“ bei Klosterneuburg gehört. Was hier geschieht, ist weniger bekannt. Lässt sich das kompakt erklären?
Hetzer
ISTA ist ein international ausgerichtetes Forschungszentrum, das sich allen Aspekten der Naturwissenschaft, Mathematik und Computerwissenschaft widmet und die nächste Generation an Forschenden ausbildet. Wir sind zwar sehr auf Grundlagenforschung ausgerichtet, Erkenntnisse daraus können und sollen aber auch in Anwendungen überführt werden. Wir haben den Anspruch, bahnbrechende Ergebnisse zu liefern, sehen uns aber nicht als Eliteeinrichtung. Für uns ist es wichtig, Spitzenforschern ein inspirierendes Umfeld zu bieten, aber auch im Kontakt mit der Bevölkerung zu bleiben, also Wissenschaft für sie zugänglich und erlebbar zu machen.
Welche Durchbrüche in welchen Forschungsfeldern möchten Sie in, sagen wir, fünf oder sieben Jahren erreicht haben?
Hetzer
Geistesblitze lassen sich nicht planen. Wir setzen auf Talente aus der ganzen Welt und wollen ihnen ein Umfeld bieten, in dem sie sich nicht auf einzelne Disziplinen beschränken müssen. Ich glaube, dass wir im Vergleich zu anderen Top-Instituten so gut positioniert sind, weil wir eben keine starren Strukturen haben.
Das bringt Forschung eher voran?
Hetzer
Wir kennen die großen Fragen unserer Zeit, ob Klimawandel, Altern, Quantencomputer, künstliche Intelligenz oder Energiespeicherung. Diese Fragen können nie von einer einzelnen Disziplin beantwortet werden. Wir schaffen ein Ökosytem, in dem ambitionierte Leute frei forschen und große Probleme fächerübergreifend angehen können.
Zum Beispiel?
Hetzer
Ein Physiker, von der Biologie inspiriert, überlegt, wie Flüssigkeiten durch Rohre fließen und findet heraus, dass deutlich weniger Turbulenzen entstehen, wenn das wie beim menschlichen Herz pulsierend geschieht. Flüssigkeiten werden so viel effizienter durch Rohre bewegt. Wenn wir also Fächergrenzen überschreiten, entstehen ganz neue Denkansätze. Das ISTA soll genau das sein: ein Ort, an dem kreative Leute Geistesblitze zu wichtigen Themen der Zeit haben können. Die Forschung zur Entwicklung von Quantencomputern ist ein weiteres Beispiel.
Eine neue Generation von viel leistungsfähigeren Computern.
Hetzer
Sie sind eine der großen Herausforderungen, denn die Experimente dazu funktionieren bisher nur nahe dem absoluten Nullpunkt von minus 273,15 Grad Celsius, was extrem energieaufwendig und technisch schwierig ist. Wir haben zwei Forschungsgruppen, die sich aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengeschlossen haben. Sie können Qubits, also die Recheneinheiten, mit Licht- und Mikrowellen bei Raumtemperatur kontrollieren, also bei deutlich weniger Aufwand. Das ist ein wichtiger Schritt.
Was eigentlich ist Grundlagenforschung, und warum ist sie wichtig?
Hetzer
Zunächst zeichnet uns Menschen die Fähigkeit aus, neue Erklärungen und Lösungen auf Fragen zu finden…
Weil Neugier eine dem Menschen angeborene Eigenschaft ist?
Hetzer
Neugier und das Streben nach Erklärungen sind uns Menschen ureigen. Wir sind die einzige Spezies auf diesem Planeten, die in der Lage ist, Wissen zu schaffen das in der Lage ist gute Erklärungen für natürliche Phänomene zu liefern. Die Menschen haben schon immer fasziniert und fragend in den Nachthimmel geschaut. Und schon früh gab es Erklärungen für die Beobachtungen am Himmel, bloß waren sie oft falsch, es waren Mythen. Seit der Aufklärung haben wir enorme Fortschritte gemacht: Heute verstehen wir genau, welche Prozesse in einem fernen Stern ablaufen, ohne dass jemals jemand von uns dort war oder sein wird.
Oder blicken 14 Milliarden Jahre in die Vergangenheit.
Hetzer
Grundlagenforschung ist wichtig, um schlechte von guten Erklärungen zu unterscheiden. Schlechte Erklärungen führen in eine Sackgasse. Wir stellen ständig neue Hypothesen über Phänomene auf, und der wissenschaftliche Prozess zeigt uns den Weg zu den guten Erklärungen. Mit jeder Antwort stellt sich dabei aber auch eine neue Frage. Würden wir damit aufhören, würden wir stagnieren. Wir hätten dann vielleicht immer bessere Kerzen entwickelt, aber nie die Elektrizität entdeckt. Oder wir würden in der Medizin immer noch glauben, dass Krankheiten durch abgestandene Luft entstehen.
In der Kunst stellt niemand infrage, dass es sich um einen kreativen Prozess handelt, aber in der Wissenschaft ist Kreativität genauso entscheidend.
Martin Hetzer, ISTA-Präsident
Erläutern Sie bitte, wie Grundlagenforschung funktioniert.
Hetzer
Grundlagenforschung ist ein kreativer Akt. Das mag manche erstaunen. In der Kunst stellt niemand infrage, dass es sich um einen kreativen Prozess handelt, aber in der Wissenschaft ist Kreativität genauso entscheidend. Für jede Einsicht, die man gewinnt, führt der kreative Prozess über viele Annahmen und Ideen, die erst einmal in die falsche Richtung leiten können, bis man dann den Durchbruch schafft.
Es fällt offenbar nicht leicht, das zu akzeptieren. Während der Pandemie mussten manchmal täglich wissenschaftliche Aussagen revidiert werden. Jetzt könnte man attestieren, die Forscher sind klüger geworden, oft hieß es aber, die Wissenschaftler wissen ja selber nichts.
Hetzer
Da wirft man der Wissenschaft genau das vor, was sie eigentlich ausmacht. Wenn sich Experten widersprechen, wird das als verwirrend wahrgenommen, aber es ist Teil des wissenschaftlichen Prozesses. Kreativität in der Wissenschaft setzt mindestens zwei konkurrierende Vorstellungen voraus. Tausende Jahre hat niemand angezweifelt, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht und die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht. Irgendwann haben Menschen überlegt, dass Dasselbe zu beobachten wäre, wenn wir uns um die Sonne drehen. In solch einem Moment beginnt ein kreativer Prozess, ohne den es keinen Fortschritt gäbe.
Strebt Wissenschaft nach Wahrheit? Wonach sucht sie?
Hetzer
Die österreichische Physikerin Lise Meitner hat gesagt: Man kann sich in die Wahrheit verlieben und sich ihr nähern, sie aber nie erreichen. Die Welt zeigt sich nicht so, wie sie ist. Alles, was wir über die Welt wahrnehmen, geschieht in unserem Gehirn. Wir können der Wahrheit nur so nahe wie möglich kommen, aber absolute Wahrheit kann es nicht geben, weil mit jeder Antwort neue Fragen auftreten.
Wüssten wir schon alles, könnten wir die Wissenschaft und das ISTA abschaffen.
Hetzer
Wir können nie alles wissen. In früheren Jahrtausenden erhob man den Anspruch auf absolutes Wissen, das sogar von Klerikern und Monarchen verordnet wurde. Es war eine wichtige Leistung der Aufklärung, ein geradezu riesiger Sprung, dass Wissen nicht in einer Autorität verankert sein kann, sondern immer ein Kind der Vergangenheit ist und ständig erneuert werden muss.
Vermutlich existieren falsche Vorstellungen davon, wie Wissensgewinn heute abläuft. Man denkt an ehrwürdige Professoren…
Hetzer
Ja, an den Elfenbeinturm. Die Idee vom einsamen Genie, von weltfremden Forschenden, ist völlig falsch. Moderne Wissenschaft ist ein Teamsport. Je besser das Team funktioniert, desto erfolgreicher ist es. Wissenschaft findet auch bei uns nicht im Vakuum der Grundlagenforschung statt. Wir haben zum Beispiel eine Forschungsgruppe, die neue Materialien sucht, um Energie speichern zu können. Das ist auch eine wichtige Frage für konkrete Anwendungen, etwa für die Entwicklung neuartiger Batterien. Kreatives Forschen führt dabei über ganz verschiedene Ansätze, und das funktioniert wieder besser im Team. Wenn ich das einsame Genie bin, das angeblich alles weiß, ist es viel wahrscheinlicher, dass ich in die falsche Richtung gehe.
Die Technik ist heute auch ganz anders als in Zeiten, als Gelehrte mit Papier und Bleistift in der Schreibstube saßen.
Hetzer
In fast allen Wissenschaftsbereichen erleben wir gerade Revolutionen, von der Quantenwelt bis zur Astrophysik. Das James Webb Space Telescope ermöglicht ungeahnte Einblicke, in den Lebenswissenschaften sehen wie ebenfalls enorme technische Fortschritte. Am ISTA haben wir Techniken entwickelt, die es ermöglichen, die Schaltkreise im Gehirn mit unglaublicher Präzision zu studieren. Wir leben in einer Zeit mit vielen Innovationen in einer wirklich rasanten Geschwindigkeit.
Ist es nicht absurd, dass in gerade so einer Zeit die Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaft so groß wie vielleicht nie zuvor ist?
Hetzer
Mitten in der Pandemie habe ich mir Zeitungsberichte aus den 1950er-Jahren angesehen, als Jonas Salk die Impfung gegen Kinderlähmung entwickelte. Wenn man das liest, ist es fast deckungsgleich mit dem, was wir zuletzt erlebt haben.
Salk hat sich selbst geimpft, um zu demonstrieren, dass es ungefährlich ist.
Hetzer
Salk hat das nur gemacht, weil es auch damals viele Leute gab, die dem sehr kritisch gegenüberstanden. Diese Skepsis Neuem gegenüber ist dem Menschen auch eigen. Ein weiteres Beispiel: der Telegraf. Als das erste Kabel zwischen Europa und den USA gelegt wurde, brauchte man plötzlich nur vier Minuten, um eine Nachricht über den Atlantik zu schicken, statt Wochen per Schiff. Die „New York Times“ schrieb damals, das sei zu schnell für die Wahrheit. Die Furcht, dass alles zu schnell ist, um mit der Wahrheit Schritt zu halten, erleben wir jetzt beim Thema künstliche Intelligenz. Andererseits gab es immer Leute, die angesichts neuer Erkenntnisse dachten, jetzt sei alles gelöst.
Max Planck wurde geraten, nicht Physik zu studieren, weil es keine offenen Fragen mehr zu gebe.
Hetzer
Und dann kamen Albert Einstein und Werner Heisenberg. Die einen überschätzen den Einfluss von Technologie, die anderen glauben, alles führt zur Auflösung der Gesellschaft, ob Dampflok, Fernseher oder Computer.
Zuletzt fiel eine Haltung auf, wonach jede Meinung als gleichberechtigt mit wissenschaftlicher Expertise betrachtet wurde. Während der Pandemie wurde das konzentriert sichtbar.
Hetzer
Ich war damals in den USA und habe das in starkem Zusammenhang mit der politischen Instrumentalisierung der Wissenschaft gesehen. In Amerika sehen wir, wohin das führen kann: Es gibt dort Schulen, in denen beispielsweise die Evolutionstheorie nicht gelehrt wird. Generell haben wir aber schon ein neues Level erreicht, weil es immer schwieriger wird, Fakten von Fiktion zu unterscheiden.
Was dagegen tun?
Hetzer
Ich glaube, dass Kommunikation wichtig ist. In der Öffentlichkeit herrscht oft Verwirrung. Auch als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler kann man in Bereichen, die nicht zur eigenen Expertise gehören, nicht immer alles nachvollziehen. Deshalb müssen wir den wissenschaftlichen Prozesses, gemeinsam mit den Medien, richtig kommunizieren. Wenn wir über eine wissenschaftliche Erkenntnis berichten, entsteht nicht selten der Eindruck einer Stringenz: man sei nur diese oder jene 15 Schritte bis zur Entdeckung gegangen. Was nicht erklärt wird: Für diese 15 Schritte ist man vorher viele, viele Schritte in die falsche Richtung gegangen.
Auch als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler kann man in Bereichen, die nicht zur eigenen Expertise gehören, nicht immer alles nachvollziehen. Deshalb müssen wir den wissenschaftlichen Prozesses, gemeinsam mit den Medien, richtig kommunizieren.
Martin Hetzer
Muss man öfter sagen, dass Sackgassen keine Schande sind?
Hetzer
Eine Kultur des Scheiterns ist Teil des kreativen Prozesses. Ich hätte gerne, dass wir das klarer benennen. Beethoven hat seine Neunte auch nicht gleich ins Reine komponiert. Vermutlich ist viel Papier im Mistkübel gelegen, genauso wie bei jedem Schriftsteller. In der Kultur hat man Verständnis für diesen kreativen Kampf um das fertige Werk, aber in der Wissenschaft ist es genauso. Der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, ist ein enorm kreativer Akt, der viel Scheitern mit sich bringt.
Worauf man sich erst einmal einlassen muss.
Hetzer
Den jungen Menschen, die in die Wissenschaft gehen, müssen wir dankbar sein, dass sie den Mut und die Bereitschaft aufbringen, immer wieder in die falsche Richtung zu gehen, bis sie dann den Geistesblitz haben.
Zumindest einige von ihnen.
Hetzer
Von denen wir dann aber alle profitieren. Das sind Innovationen, die wir heute einfach als gegeben ansehen, die aber auf der Leidenschaft von Leuten basieren, die auf wissenschaftliche Durchbrüche hinarbeiten. Eine Gesellschaft, die das nicht schätzt, wird ärmer. Da kommen wir wieder auf die Kerzen zurück.
Vielleicht hätten wir nicht einmal das Feuer entdeckt.
Hetzer
Das Feuer ist ein gutes Beispiel. Vielleicht hat irgendwann ein Blitz eingeschlagen und die Menschen auf Ideen gebracht. Aber wenn ich das Feuer dann in meiner Höhle habe und es mir Licht und Wärme spendet, habe ich plötzlich neue Probleme: Wie werde ich den Rauch los? Mit jeder Entdeckung entstehen also neue Fragen.
Vielleicht gabs auch damals Skeptiker, die vor dem Feuer oder dem Rad gewarnt haben.
Hetzer
Oder vor dem Braten von Fleisch über dem Feuer. Roh ist doch viel besser! Aber derjenige, der sein Steak gebraten hat, hat festgestellt, dass er es besser verträgt, mehr Energie hat und daher besser jagen kann. Oder was ist mit dem Ersten, der seine Hand an die Höhlenwand gelegt und ein Muster hinterlassen hat?
Kritiker haben womöglich gesagt, mach‘die Höhle nicht schmutzig.
Hetzer
Genau. Aber es waren vielleicht die ersten Künstler, die kreativsten Köpfe. Missverstanden von den anderen Höhlenbewohnern.
Martin Hetzer, 56,
übernahm Anfang des Vorjahres die Präsidentschaft des Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Die 19 Jahre davor war der Molekularbiologe am privat finanzierten Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien tätig, zuletzt als Senior Vice President. Der gebürtige Wiener studierte an der Universität Wien Biochemie und Genetik und wechselte anschließend nach Heidelberg ans Europäische Laboratorium für Molekularbiologie EMBL und 2004 nach Kalifornien, wo er seiner Leidenschaft, dem Surfen, nachgehen konnte. Als Forscher befasst sich Hetzer besonders mit dem Alterungsprozess des Menschen.
Wie vermittelt man all das am besten?
Hetzer
Indem wir auch in der Wissenschaft Geschichten erzählen, genau wie in der Kultur. Die spannendsten davon fangen immer mit einer Idee an. Forschende sind zudem extrem interessante Persönlichkeiten, wenn ich zum Beispiel an Anton Zeilinger denke und wie er in der abstrakten Quantenwelt neue Ideen entwickelt und davon erzählt.
Wer sind Ihre Lieblingswissenschaftler?
Hetzer
Die Jungen, die mit offenen Augen, intelligent und leidenschaftlich Dinge in Frage stellen, Dogmen frech hinterfragen. Für die mache ich den Job.