Giftmilch-Skandal: Die große Verwirrung um die Schädlichkeit von HCB

Umweltgifte. Die große Verwirrung um die Schädlichkeit von HCB

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Die Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 wirft dem staatlichen AGES-Untersuchungslabor nun vor, eine dreifach über dem Referenzwert mit HCB belastete Muttermilchprobe als „normal“ bewertet zu haben. Diese Kritik stellt nur einen von vielen Streitpunkten zwischen den Experten dar, die Verunsicherung unter den Betroffenen wächst. profil-Autorin Tina Goebel zeichnet das Protokoll einer Verwirrung nach.

Es ist kompliziert. Trotzdem bemühen sich alle Seiten, den aufgebrachten Menschen im Görtschitztal zu erklären, welches Gesundheitsrisiko nun tatsächlich durch das Umweltgift Hexachlorbenzol (HCB) besteht, das vermutlich seit vergangenem Sommer unbemerkt durch den Rauchfang einer Zementanlage entwichen ist, die Gegend verseucht und seinen Weg in die Milch der Bauern gefunden hat.

Das Problem ist nur: Die Ergebnisse dieser Bemühungen weichen gravierend voneinander ab – je nachdem, wen man fragt. Dabei haben die Betroffenen relativ einfache Fragen: Wie schlimm ist das Ausmaß wirklich? Was bedeutet das für meine Gesundheit und die meiner Kinder? Wie soll ich mich verhalten? Was darf ich noch essen? Dürfen meine Kinder noch ins Freie?

Statt klarer Antworten bekommen die Menschen allerdings seit Wochen von Experten, Behörden und Umweltorganisationen höchst Widersprüchliches oder Vages zu hören: Irgendwie bestehe ein Risiko, gleichzeitig aber auch nicht – und dazwischen gibt es jede Menge schwer verständliche Wissenschaft. Ein Skandal im Skandal, findet der deutsche Chemiker Michael Braungart: „Wichtig ist vor allem die absolute Transparenz der Behörde, denn psychische Angst ist schließlich auch eine Belastung für Menschen.“

Was bisher geschah, ist vor allem eine Chronik der Verwirrung:

26. November 2014

Der Kärntner VP-Agrarlandesrat Christian Berger gibt bekannt, dass HCB in Milch und Futter aus dem Görtschitztal gefunden wurde; 35 Betriebe seien betroffen. Zunächst wird von „Emissionen ungeklärter Herkunft“ gesprochen. Am nächsten Tag verlautbart das Zementwerk Wietersdorfer, bereits am 10. Oktober von Landwirten aus dem unmittelbaren Einzugsgebiet informiert worden zu sein, dass in deren Rohmilch Schadstoffe gefunden wurden. Die Lebensmitteluntersuchungsanstalt sei aktiv. Das Werk veranlasst selbstständig Messungen und findet die Ursache im eigenen Betrieb: Blaukalk war bei zu geringen Temperaturen – bei 400 statt 1000 Grad Celsius – verbrannt worden, weshalb das darin enthaltene Umweltgift HCB nicht zerfiel, sondern über den Schornstein ins Freie gelangte. Dort wurde es über das Gras von Kühen aufgenommen.
Das Werk stellt sofort die weitere Entsorgung von Blaukalk ein. Später wird bekannt, dass die Molkerei „Sonnwendalm“ bereits im März 2014 von erhöhten HCB-Werten erfuhr. Die Anrainer sind empört. „Zuerst haben alle Zuständigen gesagt, sie hätten von nichts gewusst. Nun stellt sich heraus, dass alles längst bekannt war. Das ist Betrug an der Bevölkerung“, schimpft der Buschenschankbesitzer Anton L. gegenüber profil. Erst vor zwei Jahren konzentrierten sich er und seine Frau vollständig auf den Familienbetrieb. Nun fürchtet er um seine Existenz und hofft, dass die Touristen im Frühjahr nicht ausbleiben.

5. Dezember 2014

In Milch aus dem Handel wird eine HCB-Grenzwertüberschreitung gemessen, obwohl zuvor von verschiedenen Seiten garantiert worden war, dass keine belastete Milch im Umlauf sei. Der Vorwurf, nicht früher informiert zu haben, wird dadurch begründet, dass „die Gesundheitsbehörde zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung für die Görtschitztaler Bevölkerung sah“. Nun plötzlich warnt das Land Kärnten offiziell vor Lebensmitteln aus der Region. Am 6. Dezember wird das Umweltgift auch in Schweinefleisch und Wild gefunden. Anton L. fürchtet mittlerweile um die Gesundheit seiner dreijährigen Tochter, wie er sagt. Eine Bekannte, die im nächstgelegenen Spital arbeitet, hat dem Mädchen bereits Blut abgenommen. Das Ergebnis wird kommende Woche erwartet, für L. ist die Wartezeit „unerträglich“.

12. Dezember 2014

Nun treten die Experten auf den Plan, wodurch die Sachlage entsprechend komplex wird. Bei einer ersten offiziellen Informationsveranstaltung des Landes Kärnten erklärt der Wiener Umwelthygieniker Michael Kundi vor rund 400 besorgten Menschen: „Ich kann Ihnen garantieren, dass Sie keine Gesundheitsgefährdung erlitten haben.“ Er berichtet, dass der höchste gefundene Wert pro Kilogramm Milch 0,04 Milligramm HCB gewesen sei. Kundi erklärt: „Sie müssten davon 50 Liter pro Tag trinken, damit eine gesundheitliche Gefährdung unmittelbar gegeben wäre.“

Dieses Zitat wird von vielen Medien aufgegriffen, profil gegenüber erklärt Kundi nun, leider von der Mehrheit falsch verstanden worden zu sein. Der Wert habe sich nur auf eine einmalige Kontaminierung bezogen, nicht jedoch auf eine längere Belastung: „Wäre die Emission nicht sofort gestoppt worden, hätte daraus eine Belastung werden können. Doch zum jetzigen Zeitpunkt und aus der bekannten Datenlage schließe ich weiterhin eine gesundheitliche Gefährdung aus.“

Umweltchemiker Helmut Burtscher von der Umweltschutzorganisation Global 2000 kann diese Aussage hingegen nicht nachvollziehen: „Es stehen noch zahlreiche Messergebnisse aus. Zudem ist unklar, wie lange die HCB-Belastung gedauert hat. Bereits jetzt eine völlige Entwarnung zu geben, ist völlig unseriös.“

16. Dezember 2014

Umweltschutzorganisationen kritisieren die offizielle Risikobewertung über die HCB-Belastung im Görtschitztal. Der entsprechende Bericht wurde von der österreichischen Agentur für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (AGES) angefertigt und kommt zu dem Schluss, dass zumindest bei einer akuten Exposition von „keiner unmittelbaren Gefährdung für die menschliche Gesundheit“ auszugehen sei.

Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass „unmittelbare Gefährdung“ vor allem eine Frage der Mathematik ist: Grundsätzlich gibt es kein Gesetz, dass den Richtwert festlegt. Doch in der Regel wird in Europa der Richtwert für die täglich vertretbare Aufnahme (TDA) und die akute Referenzdosis (ARfD) mit jeweils 0,01 Mikrogramm pro Kilogramm, Körpergewicht und Tag festgesetzt. Fachlich korrekt angegeben sieht dies so aus: 0,01 µg/kg KG/d. Die Richtwerte der US-Agentur für toxische Substanzen und Erkrankungsregister (ATSDR) übersteigen jedoch den europäisch festgesetzten TDA um das Zehnfache und die ARfD gar um das 800-fache.
Unter anderem ist in der AGES-Bewertung zu lesen: „Durch Tierversuche hat sich bei einer mittelfristigen Exposition ein Sicherheitsfaktor von 90 ergeben. Stellen Sie sich nun eine Schutzmauer von 90 cm vor. Durch die gemessene siebenfache Überschreitung der tolerierbaren Aufnahmemenge hat sich diese nun um 7 cm reduziert.“ Demnach bestünde also kein Risiko – dazu brauchte es dieser Rechnung nach eine zigfach höhere Exposition, um die Schutzmauer einzureißen.

Burtscher wiederum findet diesen Vergleich skandalös, da hier „Unsicherheitsfaktoren und Sicherheitsfaktoren“ verwechselt würden. Von einer Schutzmauer könne keine Rede sein, schließlich seien die Grenzwerte deutlich überschritten worden. Die Betroffenen sollen sich eher vorstellen, in einem vernebelten Raucherlokal zu stehen. Wie gesundheitsschädlich dieser Rauch nun ist und wie lange sie schon im Dunst stehen, das könne zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand sagen.

Zudem habe sich die AGES verrechnet: Bei einer siebenfachen Überschreitung der täglich duldbaren Aufnahme wäre die Mauer nur mehr 13 cm und nicht mehr 83 cm dick.

18. Dezember 2014

Die AGES kritisiert ihrerseits die Kritikpunkte der Umweltschützer, die weiters ihren Unmut darüber äußern, dass für die Risikoberechnung plötzlich weitaus „laschere“ US-Faktoren als die in der EU üblichen herangezogen wurden und die AGES plötzlich von den eigenen Richtlinien abrückt.

Umweltmediziner Kundi verteidigt dieses Vorgehen: „Die in der EU üblichen Faktoren beziehen sich auf eine lebenslange Kontamination. Dies trifft im Fall der Bevölkerung des Görtschitztals jedoch zum Glück nicht zu. Deshalb wurde hier ein Referenzwert verwendet, der sich nur auf eine mittelfristige Aufnahme bezieht. Das finde ich wissenschaftlich durchaus berechtigt.“

Huem Otero, Landwirtschaftssprecherin von Greenpeace, findet wiederum die Argumentation von Ages und Kundi inakzeptabel: Dies sei ein fahrlässiger Umgang mit Unsicherheiten und stehe im Widerspruch zum Vorsorgeprinzip, bei dem vorsichtshalber strengere Richtlinien verwendet werden. „Es ist wichtig, keine Panik zu verbreiten.

Grenzwertüberschreitungen bedeuten nicht automatisch, dass jemand krank wird, aber ein Gesundheitsrisiko kann nicht ausgeschlossen werden. Das muss den Menschen ehrlich gesagt werden, damit sie Vorsorgemaßnahmen treffen können und etwa öfter Vorsorgeuntersuchungen besuchen.“

Kundi beschwichtigt indes weiter und erklärt, dass HCB, das früher als Fungizid eingesetzt wurde, erst seit 1992 in Österreich verboten ist: „Die älteren Generationen waren daher wesentlich mehr belastet als nun die betroffenen Kärntner.“

Es wäre für einen Laien nicht unbedingt eine Schande, an dieser Stelle einzugestehen, allmählich den Überblick zu verlieren. Zumindest die Bevölkerung in der Region kennt sich nicht mehr aus. Vielleicht lag es in der Absicht der Behörden, Panik zu vermeiden; durch zunächst langes Schweigen und dann widersprüchliche Meldungen hätten sie aber genau das Gegenteil erreicht, findet der Görtschitztaler Nebenerwerbsbauer Hannes K.: „Die einen werfen den Behörden vor, alles herunterzuspielen, diese wiederum den Umweltschutzorganisationen eine Panikmache, und die Medien heizen das alles auch noch auf.“

So sei in den Zeitungen gestanden, dass die HCB-Bluttests zwischen 400 und 500 Euro kosteten. Dies sei völlig falsch, entrüstet sich K.: „Ich habe private Kostenvoranschläge eingeholt, die 70 bis 90 Euro ausmachen. Wenn nicht einmal solche Beträge stimmen: Was soll man denn da noch glauben?“