Hormon-Hype

Hormon-Hype: Ist Vitamin D wirklich ein Wundermittel?

Wundermittel. Ist Vitamin D wirklich so toll wie behauptet?

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Ingrid K. hat ein ramponiertes Immunsystem. In den Wintermonaten taumelt die 54-jährige Wiener Handelsangestellte von einem grippalen Infekt in den nächsten. Ihr Arzt verschreibt ihr die synthetischen Vitamine A und D zur Stärkung der Körperabwehr. Vitamin A ist ein altbekannter Immunfaktor, Vita­min D erst in den letzten Jahren ins Spiel gekommen. Normalerweise wird die Substanz durch Einwirkung von Sonnenlicht in der Haut gebildet, weshalb sie eigentlich kein Vitamin, sondern ein Hormon ist.
Weil wir im Winter zu wenig Sonnenlicht bekommen, sinkt der Vitamin-D-Spiegel im Blut, ein Faktor, der die Entstehung verschiedenster Leiden begünstigt. Deshalb wird jetzt synthetisch hergestelltes Vitamin D, das den Mangel beheben kann, in Büchern und Medienberichten zum Wundermittel hochgejubelt, zum Alleskönner, der gut ein Dutzend Körperfunktionen steuere, vom Knochen- und Muskelaufbau über geistige und sexuelle Leistungskraft bis zur Krebsabwehr.

Wenig seriöse Langzeitstudien
Wenn das wirklich so wäre, müsste man täglich Vitamin-D-Pillen oder -Tropfen löffelweise schlucken. Doch kritische Wissenschafter sagen, es gebe zwar eine ganze Reihe von Hinweisen in verschiedenste Richtungen, aber kaum überzeugende Studien, welche all die dem Stoff nachgesagten Segnungen beweisen könnten. Das liegt auch daran, dass die Pharmaindustrie an der ursprünglich aus Schafswollfett gewonnenen, heute aber vielfach schon biotechnologisch hergestellten Substanz kein gesteigertes Interesse hat. Schließlich lassen sich mit dem Billigprodukt, dessen Jahresbedarf pro Person kaum mehr als 20 Euro kostet, keine Millionen verdienen. Wozu also teure Studien? Zwar gibt es über Vitamin D Tausende kleinere Untersuchungen, aber deren Aussagekraft ist wegen kurzer Laufzeit oder zu niedriger Dosis zumeist gering. Bis dato existieren nur wenige seriöse Langzeitstudien (siehe auch Interview hier).

Kurzfristiger Modetrend?
Was ist also dran an dem angeblichen Wundermittel? Ist der seit Wochen und Monaten geschürte Hype wieder nur so ein Modetrend, der nach einem halben Jahr wieder vergessen ist? Wissenschafter, die sich eingehend mit dem Thema befassen, warnen davor, in Vitamin D eine Arznei für alles und jedes zu sehen. Es gibt aber auch keinen ernst zu nehmenden Mediziner, der den Stoff für eine wirkungslose Fehlinvestition hält. Sogar der bekannt kritische Chefkardiologe des Wiener AKH, Gerald Maurer, meint: „Die meisten Vitaminpillen und Nahrungsergänzungsmittel sind aus medizinischer Sicht reiner Betrug. Eine der wenigen Ausnahmen ist Vitamin D.“ Auch der Verein für Konsumenteninformation, der Ende Jänner im Rahmen einer Pressekonferenz vor dem Kauf von Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminpräparaten warnte, zählt das Sonnenhormon zu den wenigen Ausnahmen.

Aber warum ist die seit rund einem Jahrhundert bekannte Substanz erst in den vergangenen Jahren zum heißen Thema geworden? Schon Anfang der 1920er-Jahre hatten britische und amerikanische Forscher entdeckt, dass ins Futter gemischte Kabeljau-Leber Hunde vor Knochenerweichung und Rachitis bewahren kann. Sie waren auf einen noch unbekannten Wirkstoff zur Rachitis-Prävention gestoßen und nannten ihn „Vitamin D“ – nach dem vierten Buchstaben im Alphabet, weil es das vierte bis dahin entdeckte Vitamin war. Diese Substanz spielte offenbar eine wichtige Rolle im Kalzium-Stoffwechsel und damit für den Knochenaufbau.

Entdeckung zweier Brüder
Auch in der Alpenrepublik wurde der neue Wirkstoff bald zur Rachitis-Vorbeugung eingesetzt. Ältere Österreicher erinnern sich mit Schaudern an den täglichen Esslöffel Lebertran, den sie als Kinder in den Nachkriegsjahren schlucken mussten. Die aus der Leber von Kabeljau, Dorsch und anderen Meerestieren gewonnene hellgelbe, übel schmeckende ölige Flüssigkeit enthielt hohe Konzentrationen von Omega-3-Fettsäuren, Phosphor, Jod sowie der Vitamine A, D und E. Jahre später wurde die Substanz in durchsichtige ovale Kapseln verpackt, damit die Kinder sie anstandslos mit etwas Wasser schlucken konnten, ohne dass sich ihre Peristaltik dagegen sträubte.

Jahrzehntelang wurde Vitamin D bloß als Mittel gegen Rachitis gesehen, bis zwei US-Epidemiologen, die Brüder Frank und Cedric Garland, in den 1980er-Jahren Zusammenhänge mit anderen Erkrankungen entdeckten: Im sonnenärmeren Norden der USA lebende Populationen erkranken häufiger an Typ-1-Diabetes und an Darmkrebs als ihre Landsleute im Süden. In einer Studie mit Probanden aus Chicago konnten die beiden Forscher erstmals nachweisen, dass Menschen mit hohem Vitamin-D-Level im Blut seltener an Darmkrebs erkranken. Daraufhin begannen US-Unternehmen Milch, Orangensaft und andere Nahrungsmittel mit synthetischem Vitamin D anzureichern. Ähnliche Initiativen gab es in skandinavischen Ländern, während die Anreicherung einzelner österreichischer Produkte über Pilotversuche nicht hinauskam.

Dem Thema wurde „keine weitere Bedeutung beigemessen“ (der deutsche Vitamin-D-Forscher und Buchautor Jörg Reichrath), bis Wissenschafter in immer mehr Körperzelltypen Vitamin-D-Rezeptoren entdeckten. Wenn eine einzelne ­Nervenzelle im Gehirn oder im Rückenmark 500 bis 1000 Vitamin-D-Rezeptoren beherbergt, dann muss das eine Bedeutung haben, so ihre Überlegung. Nach und nach entdeckten die Forscher in nahezu allen Körperzellen diesen bestimmten Typ von Rezeptoren – Breaking News für viele Fachmediziner, die schon länger vermutet hatten, dass das Thema Vitamin D auch für ihren klinischen Bereich Bedeutung haben könnte. Inzwischen konnte auch geklärt werden, wie der Körper die natürliche Hormonsubstanz produziert und welche Rolle sie im Organismus spielt.

Eine Vorstufe des eigenwilligen Hormons wird durch Einwirkung von UV-B-Strahlung aus Cholesterin in der Haut gebildet. Die Leber wandelt dieses Prohormon in eine Transportform mit der Bezeichnung Calcidiol (auch D2 genannt) um, die über die Blutbahn in alle Körpergewebe gelangt. Weil die Substanz im Serum messbar ist, dient sie als Basis zur Bestimmung des Vitamin-D-Levels im Blut. In der ­Niere wird das D2 in das aktive Hormon D3 umgewandelt – aber nicht nur dort. Auch andere Organe verfügen über ein spezielles Enzym, das imstande ist, aus dem im Blut zirkulierenden D2 das aktive Hormon herzustellen, ohne dass sie dieses wieder an den Blutkreislauf abgeben. Allerdings funktioniert das nur, solange im Blut eine ausreichende Menge D2 vorhanden ist – eine völlig neue Erkenntnis.

Mangel an Sonne
Im Jahr 2008 veröffentlichte das Berliner Robert Koch Institut eine Studie über Vitamin-D-Mangel in der deutschen Wohnbevölkerung, mit einem schockierenden Ergebnis: Im Durchschnitt hatten 60 Prozent aller Altersgruppen nicht genug Vitamin D im Blut, mit saisonalen Schwankungen. Im Winter waren die Werte deutlich niedriger als im Sommer. Am verbreitetsten war der Vitaminmangel unter Frauen im Alter zwischen 65 und 79 Jahren (mehr als 75 Prozent) und unter den Elf- bis Achtzehnjährigen (über 80 Prozent). Auch Personen mit Migrationshintergrund zeigten auffallend oft Mangelwerte.

In Österreich ist die Situation nicht ganz so krass, aber nicht grundlegend anders. Laut dem im vergangenen September veröffentlichten Österreichischen Ernährungsbericht 2012, in dessen Rahmen erstmals auch Laborwerte über den Vitamin-D-Status erhoben wurden, sind im Durchschnitt etwa 50 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung nicht in ausreichendem Maß mit dem Hormon versorgt, bei deutlicherem Mangel in den Wintermonaten. Das ist umso brisanter, als das angesehene Berliner Robert Koch Institut erst im Vorjahr in einer Aussendung erklärte: „Aktuellen Studien zufolge gibt es einen Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln und dem Auftreten zahlreicher chronischer Krankheiten.“

Bei tief stehender Sonne im Winterhalbjahr reicht die UV-B-Strahlung in Regionen nördlich des 40. Breitengrades (etwa die Linie Madrid – Neapel – Thessaloniki) nicht aus, um in der Haut genügend Vitamin D zu erzeugen, selbst wenn man sich beim Skifahren mit entblößtem Oberkörper in die Sonne legt. Da hilft nur die Einnahme von Vitamin D3, das in Form von Tabletten oder Tropfen rezeptfrei in Apotheken erhältlich ist. Weil die Resorption im Körper aufgrund verschiedener Rezeptor-Varianten unterschiedlich sein kann, empfehlen manche Experten, zuvor einen Vitamin-D-Status erheben zu lassen. Eine weitere Empfehlung lautet, die fettlösliche Substanz zusammen mit fetthaltiger Nahrung einzunehmen, weil sie dann vom Körper besser resorbiert werden kann.

„Vitamin D ist zu Recht ein Shootingstar“
Noch gibt es hierzulande keine öffentliche Diskussion über die mögliche Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D. Doch die wird vermutlich kommen, denn EU-Gesundheitspolitiker bereiten bereits eine diesbezügliche Richtlinie vor.

„Vitamin D wurde total vernachlässigt, es ist Zeit, dass das aufgeholt wird“, meint der Ernährungswissenschafter Nicolai Worm, Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement in Saarbrücken sowie Autor eines Buches mit dem Titel „Heilkraft D“ (siehe auch Buchtipps oben). „Jetzt schlägt das Pendel oft schon auf die andere Seite. Es ist kein Wundermittel. Im Prinzip geht es nur dar­um, einen Mangel zu vermeiden.“

Manche Ärzte, welche Vitamin-D-Präparate schon lange verordnen, äußern sich beinah euphorisch. „Vitamin D ist zu Recht ein Shootingstar“, meint beispielsweise Rainer Schroth, ärztlicher Leiter der Schrothkur im kärntnerischen Obervellach sowie Präsident der Österreichischen Gesellschaft für orthomolekulare Medizin (ÖGOM).

„Ich gebe Vitamin D seit vielen Jahren, allerdings nur, wenn ich einen Mangel sehe, streng nach der Devise der orthomolekularen Medizin: messen, therapieren, kon­trollieren. Viele meiner Patienten sind begeistert, wenn sie sich im Winter nach Vitamin-D-Gabe besser fühlen.“
Aber auch in etlichen schulmedizinischen Fachbereichen ist die Hormonsubstanz neuerdings ein heißes Thema. „Vi­tamin-D-Mangel ist eine häufige Ursache für Unfruchtbarkeit und Abortus. Deshalb ist Vitamin D für uns Gynäkologen so wichtig“, berichtet der Wiener Hormonforscher und Reproduktionsmediziner Johannes Huber. Viele Frauen, die nach der Menopause wegen Osteoporose behandelt werden, hätten gar keine Osteoporose, sondern schlicht einen Vitamin-D-Mangel, durch dessen Behebung man sich auch viele Mammografien ersparen könne.

Forscher der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel der Grazer Medizinuniversität befassen sich mit Auswirkungen von Vitamin D auf die Reproduktionsorgane von Mann und Frau. Auffallend ist, dass „in nahezu allen Geweben des weiblichen Reproduktionstraktes ein reger Vitamin-D-Stoffwechsel stattfindet“, erklärt Stefan Pilz, einer der Forscher.Ein höherer Vitamin-D-Level im Blut kann Zyklusunregelmäßigkeiten ausgleichen, führt laut Pilz zu „einer signifikant höheren Erfolgsrate bei In-vitro-Fertilisationen“, senkt das Risiko von Schwangerschafts-komplikationen, Frühgeburten und von gynäkologischen Krebserkrankungen.

Zwei Kolleginnen von Pilz, die beiden Hormonforscherinnen Barbara Obermayer-Pietsch und Elisabeth Lerchbaum, konnten in Studien zeigen, dass der Testosteronspiegel beim Mann genau parallel zu den jahreszeitlichen Schwankungen des Vitamin-D-Spiegels verläuft. Nach Verabreichung von Vitamin D stieg der Testosteronspiegel ihrer Probanden um 20 Prozent.

Die Grazer Forscher analysieren aber auch den Vitamin-D-Level von Frauen mit hohem Testosteronspiegel: „Vitamin D hat offenbar Einfluss auf den Zuckerstoffwechsel und könnte die Fertilität verbessern, wie wir in ersten Untersuchungen sehen konnten.“ Inzwischen laufen etliche weitere Studien zu diesem Themenkreis.

Spannende Neuigkeiten gibt es auch aus dem Forschungsbereich Immunologie. „Vitamin D ist ein ganz wichtiges Hormon für das Immunsystem“, erklärt der Innsbrucker Patho- und Immunologe Georg Wick, der auch ein privates diagnostisches Labor betreibt, in dem die Bestimmung des Vitamin-D-Levels im Blut zu den wichtigsten Untersuchungen gehört. Denn laut Wick hat das Hormon eine immunregulatorische Funktion, es hilft Immunzellen bei der Erkennung von Fremd- und Antigenen, schärft die Körperabwehr und senkt das Risiko von Allergien und Autoimmunerkrankungen wie multipler Sklerose oder Morbus Crohn. Es verstärkt sogar den Immuneffekt von Impfungen und spielt auch eine Rolle in der Krebsabwehr.

Infobox
Sonne tanken
Im Winter zeigen viele Österreicher einen eklatanten Vitamin-D-Mangel.

An einem sonnenreichen Sommertag genügt es, ein Achtel der Körperoberfläche (Beispiel: Gesicht und Arme) eine halbe Stunde lang der UV-Strahlung auszusetzen, damit der Körper ausreichend viel Vitamin D erzeugt. Früher galten 20 Nanogramm Vitamin D pro Milliliter Blut als ausreichend, doch in den vergangenen Jahren wurde dieser Wert aufgrund neuerer Forschungen auf 30 Nanogramm angehoben. Viele Österreicher, vor allem Kinder und Jugendliche, erreichen diesen Level allerdings selbst im Sommer nicht. Grund: Die in den vergangenen Jahren von Dermatologen massiv geäußerte Warnung vor Hautkrebs hat dazu geführt, dass viele Kleinkinder gar nicht oder nur mit Lichtschutzfaktor 30 bis 50 in die Sonne dürfen. Schon ab Lichtschutzfaktor 8 werden aber mehr als 90 Prozent der für die Bildung von Vitamin D benötigten UV-B-Strahlen herausgefiltert. Ergebnis laut Ibrahim Elmadfa, Vorstand des Instituts für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, der alle vier Jahre den Österreichischen Ernährungsbericht erstellt: „Selbst im Sommer erreichen nur 71 Prozent der österreichischen Kinder einen zufriedenstellenden Vitamin-D-Wert im Blut.“ Im Winter sind 60 Prozent der Kinder und 50 Prozent der Erwachsenen teils krass unterversorgt. Eklatante Mangelerscheinungen zeigen vor allem Senioren, die kaum jemals an die Sonne kommen. Funktionsstörungen der Haut und der Nieren verringern zusätzlich die körpereigene Vitamin-D-Produktion. Die Aufnahme des Hormons über die Nahrung spielt in unseren Breiten eine untergeordnete Rolle. Vor allem fette Fischsorten wie Lachs, Makrelen und Sardinen sowie Käse, Leber, Eidotter und Champignons enthalten Vitamin D. Allerdings: Um sich über die Nahrung ausreichend mit dem Hormon zu versorgen, müsste man Unmengen davon essen.

Buchtipps

Nicolai Worm: Heilkraft D: Wie das Sonnenvitamin vor Herzinfarkt, Krebs und anderen Krankheiten schützt. ­Systemed Verlag, Lüne, 2009, 176 S., EUR 15,95

Uwe Gröber, Michael F. Holick: ­Vitamin D: Die Heilkraft des Sonnenvitamins. Wiss.Verlagsgesellschaft, Stuttgart, August 2012, ­
301 Seiten, EUR 41,–

Jörg Spitz: Superhormon Vitamin D: So aktivieren Sie Ihren Schutzschild gegen chronische Erkrankungen. Gräfe&Unzer ­Verlag, München, September 2011, 128 Seiten, EUR 10,30,-

Jörg Reichrath, Bodo Lehmann u. Jörg Spitz: Vitamin D – Update 2012.
Dustri Verlag, Oberhaching, Jänner 2012, 256 Seiten, EUR 29,30,-