Was isst Krebs?

Krebs: Patienten werden mit fragwürdigen Ernährungsempfehlungen verunsichert

Ratgeber-Industrie. Tumorpatienten werden derzeit mit fragwürdigen Ernährungsempfehlungen verunsichert

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Frau P. bekam vor Kurzem die Diagnose Brustkrebs. In der Hoffnung, selbst aktiv etwas gegen den Krebs unternehmen zu können, ging sie in die nächste Buchhandlung, um nach Ratgebern zu suchen. Schnell wurde sie fündig: Ihre Wahl fiel auf eines von mehreren Büchern, die beschreiben, wie man das Krebswachstum mit einer speziellen Diät hemmen könne. Hinter vielversprechenden Aussagen und akademischen Titeln, die diese Bände schmücken, verbirgt sich jedoch ein Thema, das mit der Hoffnung von schwer kranken Menschen spielt und meist mehr Leid als Erfolg bringt.
Es handelt sich dabei um die stark-kohlenhydratreduzierte oder „ketogene“ Diät, die zunehmend in der Krebstherapie populär wird. Sie basiert auf Forschungen, denen zufolge Zucker von Tumoren sehr gut verwertet werden kann und diese deshalb in ihrem Wachstum fördert. In der Theorie soll durch eine Einschränkung der Zuckerzufuhr das Tumorwachstum gebremst oder gar angehalten werden. Der Körper soll in einen Zustand namens Ketose gebracht werden. Dabei gewinnt der Organismus Energie aus der Verwertung von Fett statt wie üblich aus Zucker. Dies hat zur Folge, dass bei der ketogenen Diät Kohlenhydrate gemieden werden müssen, da diese im Körper zu Zucker abgebaut werden. Anstelle der Kohlenhydrate sollen viel Fett und Eiweiß verzehrt werden.

Ausführliche Schulung
In der praktischen Durchführung bedeutet dies eine Vermeidung von Getreide, Kartoffeln, Reis und Hülsenfrüchten. Ebenso ist Zucker in jeglicher Form – das gilt auch für damit gesüßte Lebensmittel und Obst – aus dem Speiseplan zu streichen. Dafür dürfen unbegrenzt Fleisch, Geflügel, Fisch, Eier, Wurst und Käse konsumiert werden. Diese sollten einen hohen Fettgehalt aufweisen und überdies mit reichlich Fett zubereitet werden. Aufgrund des geringeren Kohlenhydratgehalts dürfen immerhin Beerenobst und Milchprodukte wie Joghurt, Milch und Topfen in geringer Menge genossen werden. Darüber hinaus ist es gestattet, die meisten Gemüsesorten (in Abhängigkeit ihres Kohlenhydratgehalts) in größerer Menge zu essen. Wird indes eine zu große Menge an Kohlenhydraten – zum Beispiel eine Marmeladesemmel – verzehrt, verhindert dies die Ketose und macht die Wirkung der Diät zunichte. Ausnahmen sind daher nicht erlaubt.
Die Theorie hinter dieser Diät ist durchaus plausibel. Einen Tumor in seinem Wachstum zu stoppen, indem man ihm den „Treibstoff“ entzieht, ist eine berechtigte Überlegung. Untersuchungen auf Zellebene und Tierversuche lassen vermuten, dass dies bei manchen Tumorarten tatsächlich funktionieren kann. Ob die Diät im menschlichen Organismus den erwünschten Effekt erzielt, ist jedoch weitgehend ungeklärt. Der einzige Bereich, in dem die Wirksamkeit des ketogenen Speiseplans als wissenschaftlich gesichert gilt, ist bei Kindern mit schwerer Epilepsie. Die Durchführung der Diät ist jedoch nur mit einer ausführlichen Schulung des Kindes und der Eltern sowie mittels einer engmaschigen medizinischen Überwachung möglich. Eine der wenigen Studien, welche die ketogene Diät bei Tumorerkrankten untersuchten, wurde an einer deutschen Uniklinik mit 16 Patienten durchgeführt. Aus der Untersuchung lassen sich aber unter anderem aufgrund der geringen Teilnehmerzahl keine eindeutigen Aussagen treffen – bis auf eine: dass weniger als die Hälfte der Patienten die Diät durchhielt. Als Diätologin überrascht mich dieses Ergebnis nicht.

Ähnliches zeigt auch der Fall von Frau P., die zwei Monate nach Beginn ihrer Diät zu mir zum Beratungsgespräch kam. Sie berichtete von einem Gewichtsverlust von sieben Kilogramm in den vergangenen sechs Wochen und von ihrem schlechten Gewissen, weil sie es einfach nie schaffe, die Bratwurst ohne Kartoffelsalat zu essen.

Hier zeigen sich die wahren Probleme dieser Diät: Sie manifestieren sich zum einen in der Vorgehensweise der Ratgeberautoren, zum anderen in der praktischen Umsetzbarkeit der vermeintlichen Krebsbehandlung.

Eine wissenschaftliche Theorie zu erforschen, ist eine Sache – der breiten Öffentlichkeit einen Ratgeber zugänglich zu machen, der eine Therapieform empfiehlt, deren Wirksamkeit als nicht erwiesen gilt, eine ganz andere. Dass Krebszellen „gerne Zucker fressen“, scheint in der Bevölkerung, vor allem unter Betroffenen, angekommen zu sein; dass dies aber nicht bedeutet, dass Erkrankte von einer extremen Kohlenhydratreduktion profitieren, wohl nicht. Die große Medienpräsenz dieses Themas trägt immer mehr zur Verunsicherung der Patienten und ihrer Angehörigen bei. Offenbar wird aber nicht davon berichtet, dass die ketogene Diät in Fachkreisen (unter anderem von der deutschen Krebsgesellschaft) aufgrund fehlender wissenschaftlicher Beweise nicht empfohlen wird. Dass die diversen Ratgeberautoren (die, nebenbei bemerkt, Biologen und keine Mediziner sind) einen Debattenbeitrag zur Erforschung der Thematik leisten, ist sehr wohl zu betonen. Jedoch beim jetzigen Stand der Forschung Ratgeber zu veröffentlichen, die explizit an Betroffene und Angehörige gerichtet sind, ist definitiv der falsche Weg und ethisch äußerst bedenklich.
Es wird zwar in den Büchern betont, dass eine ärztliche und diätologische Betreuung während der Durchführung der Diät unabdingbar ist. Jedoch stellt sich die Frage, welchen Nutzen solche Bücher überhaupt haben, wenn die eigentliche Betreuung ohnehin durch eine Fachkraft durchgeführt werden sollte. Wahrscheinlich werden sie deshalb auf den Markt gestreut, weil weder Ärzte noch Diätologen, die nach evidenzbasierter Wissenschaft arbeiten, diese Diät jemals mit reinem Gewissen empfehlen würden.

Fadenscheinige Aussagen
Manche Buchautoren gehen sogar so weit, zu behaupten, eine stark kohlenhydratreduzierte Diät senke bei gesunden Menschen das Krebsrisiko. Mit fadenscheinigen Aussagen wird argumentiert, die hohe Krebsrate in der Bevölkerung sei unter anderem auf den Konsum von kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln zurückzuführen. Dass dies reine Mutmaßungen sind, da es keine Langzeitstudien gibt, die dies belegen würden, wird verschwiegen. Die international anerkannten Leitlinien zur Vorbeugung von Krebs (World Cancer Research Fund) raten dezidiert zum Verzehr von reichlich Vollkornprodukten und von einem hohen Fleischkonsum ab. Genau das Gegenteil zu empfehlen, ist in hohem Maße fahrlässig, zumal dies auch aus ökologischer Sicht unverantwortlich erscheint. Würde sich jeder Mensch zwecks Krebsprävention ketogen ernähren, wären vermutlich nicht einmal für die westlichen Nationen genügend Lebensmittelressourcen vorhanden.

Das zweite und noch größere Problem ist die praktische Durchführung der Diät. Eine ketogene Ernährung ist extrem schwer einzuhalten. Sie erfordert großes Wissen über Lebensmittel und deren Zusammensetzung sowie die Bereitschaft, vermehrt Zeit mit Kochen zu verbringen und auf diverse Lebensmittel zu verzichten. Es ist oftmals schon für kerngesunde Menschen schwierig, die Disziplin für eine Ernährungsumstellung aufzubringen. Wie soll dann ein schwer kranker Mensch die Ressourcen dafür haben?

Krebspatienten sind meist ohnehin mit einer Reihe von Ernährungsproblemen konfrontiert. Durch die Grunderkrankung selbst sowie durch konventionelle Krebstherapien (Operationen, Chemo- und Strahlentherapie, Hormon- und Immuntherapie) leiden sie häufig unter Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schmerzen und Verdauungsproblemen wie Durchfall oder Verstopfung. Dass sich diese Probleme schwer mit einer rigiden Diät vereinbaren lassen, ist evident. Ein gesunder Mensch würde bei Übelkeit auch eher eine Nudelsuppe als ein fettiges Schweinsschnitzel wählen. Was bei Krebspatienten ebenfalls sehr häufig auftritt, sind Lebensmittelaversionen. Durch Therapien verändert sich die Geschmackswahrnehmung der Betroffenen, allzu oft entwickeln sie eine regelrechte Abneigung gegen Fleisch. Hingegen beobachte ich häufig, dass die Betroffenen eine Vorliebe für süße Speisen ausprägen.

So war es auch bei Frau P., die während ihrer Chemotherapie den Geruch von Fleisch und Fisch nicht mehr ertragen konnte. Nun wusste sie jedoch nicht mehr, was sie essen sollte. Abgesehen von Milchprodukten, Eiern und Gemüse blieb in der ketogenen Diät nicht viel. Die aufwendigen Rezepte, die in dem erworbenen Ratgeber zu finden waren, konnte sie aufgrund ihrer körperlichen Schwäche nicht zubereiten – eine Situation, die bei ihr, wie auch bei vielen anderen, zu einem empfindlichen Gewichtsverlust führen kann. Als ich Frau P. in unserem Beratungsgespräch erklärte, dass sie weder auf ihren geliebten Kartoffelsalat noch auf alle anderen Beilagen verzichten muss, reagierte sie ebenso erstaunt wie erleichtert.

Keine Rede von mehr Lebensqualität
Oft wird in den besagten Ratgebern von Lebensqualität gesprochen. So wird behauptet, dass die Diät, selbst wenn sie nicht den erhofften Effekt auf den Tumor hat, doch auf jeden Fall die Lebensqualität steigere. Ich frage mich jedoch, wie eine rigide Diät, die keine Ausnahmen zulässt, die Lebensqualität verbessern soll. Bei meinen Patienten sehe ich nur, dass sie ungewollt an Gewicht verlieren, sich überfordert fühlen und von schlechtem Gewissen geplagt werden, wenn sie doch einmal zu einem Keks greifen. Von guter Lebensqualität kann hier wohl nicht mehr die Rede sein.

Dennoch nimmt die Ernährung einen wichtigen Stellenwert in der Krebstherapie ein, wenn auch nicht in Form einer speziellen Diät. Der Stoffwechsel eines Krebskranken ist im Vergleich zu einem gesunden Menschen stark verändert. Durch den Tumor kommt es zu einer Entzündungsreaktion im Körper, welche die Verwertung der Nährstoffe im Körper beeinflusst. Weitgehend bewiesen ist, dass der Energie- und Eiweißbedarf von Krebspatienten deutlich erhöht sein kann. Fett wird vom Körper sehr gut verstoffwechselt, die Kohlenhydrate verlieren deutlich an Wertigkeit im Vergleich zur Ernährung des Gesunden, da sie weniger gut verarbeitet werden können. Patienten, die keine Ernährungsprobleme während ihrer Therapie verspüren, sind gut beraten, abwechslungsreich und weitgehend gesund zu essen. Bei Betroffenen, die zu einer Mangelernährung neigen, liegt der Fokus auf eiweiß- und fettreichen Lebensmitteln. Eine adäquate Ernährung richtet sich jedoch immer nach dem aktuellen Zustand der einzelnen Person und kann durchaus während der Therapie eine Adaptierung (beispielsweise eine leicht verdauliche, fettarme Kost bei Verdauungsbeschwerden) erfordern.

Im Fall von Frau P. ging meine Empfehlung ebenfalls hin zu reichlich Fett und ausreichend Eiweiß, jedoch ohne die Kohlenhydrate zu verbieten. Eine adäquate Energiezufuhr wäre ohne diese bei ihr nur schwer möglich.

Die Einhaltung einer stark kohlenhydratreduzierten Diät ist nach der derzeitigen Studienlage absolut unberechtigt und darf erst recht nicht ohne Berücksichtigung der Art des Tumors und der Prognose des oder der Erkrankten angeraten werden. Wenn überhaupt, ist die Durchführung einer ketogenen Diät nur während eines stationären Aufenthalts im Rahmen einer Studie denkbar. Ratgeber, die an Erkrankte und ihre Angehörigen gerichtet sind, führen zu einer massiven Verunsicherung. Verständlicherweise sind diese Personen aufgrund der Hoffnung auf Heilung leicht zu beeinflussen und werden dazu verleitet, die Diät auf eigene Faust auszuprobieren. Letztlich endet dies aber meist in einem verschlechterten Ernährungszustand und einer verminderten Lebensqualität. Eine ernährungsmedizinische Beratung durch Ärzte und Diätologen kann durch kein Buch ersetzt werden und muss auf die individuelle Situation des Betroffenen abgestimmt sein.

Schließlich muss betont werden, dass für die Heilung von Krebs nach wie vor konventionelle Krebstherapien unabdingbar sind. Die Ernährung ist, obwohl keine eigenständige Therapieform, dennoch ein integraler Bestandteil der Behandlung. Ein angepasster Speiseplan steigert die Lebensqualität, stärkt den Menschen und vermag die Prognose deutlich zu verbessern. So viel ist bewiesen.

Zur Person
Johanna Lhotta ist Diätologin mit Schwerpunkt Onkologie an der Universitätsklinik Innsbruck. Sie betreut dort die meisten onkologischen Ambulanzen inklusive jener für Strahlentherapie.

Wie entsteht Krebs?
Jeder Mensch besteht aus Körperzellen. Wissenschafter vermuten, dass wir bis zu 100 Billionen Körperzellen besitzen. Aneinandergereiht ergäbe das eine Strecke, die 100 Mal rund um die Erde reicht. Gesunde Zellen durchlaufen einen natürlichen Prozess: Sie entstehen, reifen, erfüllen eine bestimmte Aufgabe, altern und sterben ab. In vielen Körperteilen wachsen immer wieder neue Zellen heran. Manchmal ist dieser Zyklus aber gestört, und der Körper verliert die Kontrolle über das Zellwachstum. Verschiedene äußere Einflüsse – zum Beispiel Rauchen und zu viel Sonnenlicht – können dazu beitragen, dass solche Zellen entstehen, sich immer weiter vermehren und das Wachstum nicht mehr gestoppt wird: Sie sind nun zu Krebszellen geworden.