Manfred Lütz: "Wir sind Sklaven der Gesundheitsreligion"

Interview. Der deutsche Mediziner Manfred Lütz über die ausufernde Gesundheitsreligion und tyrannische Diäten

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Interview: Robert Buchacher

profil: In Ihren Büchern und Vorträgen wettern Sie pointiert gegen die „Gesundheitsreligion“. Was ist so schlecht daran, wenn jemand fit und gesund bis ins hohe Alter bleiben will?
Manfred Lütz: Nichts gegen vernünftige Bemühungen um Gesundheit, aber der allgemeine Gesundheits-Hype ist doch Realsatire pur. Dabei gibt es nur eine einzige wissenschaftlich klar belegte Methode, um alt zu werden: Sie müssen sich Eltern aussuchen, die ein hohes Alter erreichen. Das ist im Nachhinein natürlich schwierig. Aber im Ernst: Tatsächlich ist das, was uns gesund hält und ein langes Leben beschert, vor allem unsere genetische Ausstattung.

profil: Und die lässt sich etwa durch Bewegung nicht beeinflussen?
Lütz: Wenn Sie Ihre Gene schütteln, lässt die das ziemlich kalt. Die Gesundheit wird wohl bloß in etwa 30 Prozent von Umwelt und Lebensstil beeinflusst, alles andere ist Genetik. Und dennoch gibt es Menschen, die gar nicht mehr richtig leben, sondern nur noch vorbeugend. Die sterben dann gesund, aber auch wer gesund stirbt, ist leider definitiv tot.

profil: Auswüchse gibt es bei jeder Art von menschlichem Tun.
Lütz: Bei der Gesundheit gibt es aber bei vielen gar keine Grenzen mehr. Sie können doch hierzulande durch keinen Wald mehr laufen, ohne bierernst dreinschauenden Menschen mit zwei Stöcken zu begegnen, die offenbar das ewige Leben erwerben wollen. Fragen Sie die mal, wo sie denn den Schnee gelassen haben. Sie werden nur verachtende Blicke ernten. Die Gesundheitsreligion ist nämlich komplett humorlos. Jedenfalls muss man da einmal medizinisch aufklären.

profil: Sie tun das in Ihren Vorträgen unter anderem mit einer Begräbnisgeschichte.
Lütz: Ein Freund von mir war auf der Beerdigung eines bei einem Unfall verstorbenen jungen Familienvaters, der von seiner Frau bekanntermaßen immer zu Diäten gezwungen wurde, denen er sich nicht aus Einsicht, sondern aus Liebe unterzogen hatte. Und da schluchzte die Frau so laut, dass es alle hören konnten: „Jetzt haben die ganzen Diäten nix genützt!“ Da muss man dann auch noch ernst bleiben!

profil: Warum glauben Sie, dass Gesundheit heute zu einer Religion geworden ist?
Lütz: Mein Eindruck ist, dass viele Menschen heute nicht mehr an den lieben Gott glauben, sondern an die Gesundheit. Und alles, was man früher für den lieben Gott tat – Wallfahrten, Fasten und so weiter –, tut man heute für die Gesundheit. Seit es Menschen gibt, sehnen sie sich nach ewigem Leben. Das kann man schon in den Höhlenzeichnungen in Südfrankreich 30.000 vor Christus sehen. Und diese glutvolle Sehnsucht leben heute viele nicht mehr in den Altreligionen aus, sondern in der Gesundheitsreligion, und das meine ich gar nicht scherzhaft. Sie essen Körner und Schrecklicheres, doch sterben sie dann leider doch. Sie rennen durch hässliche Wälder …

profil: … gestorbene Wälder …
Lütz: … auch Fitnessstudios sind ja ziemlich tot. Die Leute haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie einen Tag nichts für die Gesundheit getan haben. Man fürchtet, dass man dann schlimmstenfalls stirbt. Was ja sogar stimmt, irgendwann.

profil: Von Ihnen stammt der Satz: Unsere Vorfahren bauten Kathedralen, wir bauen Kliniken. Gibt es auch neue Altäre?
Lütz: Na ja, es gibt tatsächlich Gesundheitspäpste und Gesundheitsgurus, die sich selbst zelebrieren und von manchen ihrer Anhänger geradezu angebetet werden. Da geht es dann übrigens nicht bloß um Gesundheit, sondern auch um Schönheit. Und als schön gilt nicht mehr Anmut oder Esprit, sondern junge, leicht gebräunte, knackige Haut. Doch ewig knackige Haut gibt es nicht. Schauen Sie sich mal solche Leute später an. Mit 80 sehen die genauso aus wie andere 80-Jährige, manchmal schlimmer.

profil: Aber gegen ein bisschen Fitness und Vorsorge ist nichts einzuwenden?
Lütz: Na klar. Natürlich überziehe ich die Situation satirisch, wenn ich damit im Kabarett auftrete. Doch ich bin auch Arzt und finde selbstverständlich einen verantwortungsvollen Umgang mit der Gesundheit wichtig. Gesundheit ist ein hohes Gut, doch nicht das höchste – nur dagegen polemisiere ich. Deswegen habe ich natürlich nichts dagegen, dass jemand ein Fitnessstudio aufsucht oder auf gesunde Ernährung achtet. Aber mal richtig lecker ungesund essen, cholesterinreich, fettreich, dazu ein himmlischer Wein, das muss doch noch erlaubt sein! Die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist auch die Freiheit zum ungesunden Leben.

profil: Und diese Freiheit ist in Gefahr?
Lütz: Bei uns in Deutschland gibt es demnächst das Präventionsgesetz, ich habe da die schlimmsten Befürchtungen. Man möchte die Deutschen zwingen, gesund zu sein. Die Deutschen sind ja sowieso ein Volk von Lehrern, das sich durch unterschiedliche Berufe bloß verkleidet, das scheint in Österreich anders zu sein.

profil: Wir hatten eine österreichische Gesundheitsministerin, die sich öffentlich zu ihrer Vorliebe für Schweinsbraten bekannte.
Lütz: Das wäre in Deutschland undenkbar. Wir hatten mit der Grünen Renate Künast eine Ernährungsministerin, die ein Buch schrieb mit dem Titel „Die Dickmacher“, in dem sie die Auffassung vertrat, alle Deutschen sollten so aussehen wie sie. Furchtbar.

profil: Stattdessen sollte man ruhig den Schweinsbraten genießen und sich getrost auf seine Gene verlassen?
Lütz: Man soll nichts übertreiben, aber auch der Schweinebraten muss zu seinem Recht kommen. Ich bin nur gegen die quasireligiöse Sakralisierung der Gesundheit als höchstes Gut. Das ist der wahre Grund, warum es in unseren Ländern schon seit Jahren keine wirkliche Gesundheitspolitik mehr gibt. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut können Sie überhaupt nicht abwägen. Dafür müssen Sie immer alles tun, es wenigstens behaupten. Und deswegen explodieren die Kosten.

profil: Haben wir überhaupt einen falschen Gesundheitsbegriff?
Lütz: Genau. Dazu kommt, dass die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit einst als „völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“ definierte. Wenn wir davon ausgehen, dass wir uns sozial wohl befinden, wenn wir eine Million Euro auf dem Konto haben und andererseits hoffen, dass auch Millionäre psychische Probleme haben, ist nach dieser Definition niemand wirklich gesund. Ein solcher utopischer Gesundheitsbegriff, der gleichzeitig sakral überhöht wird, ist natürlich ökonomisch hochinteressant. Wenn Gesundheit tatsächlich erreichbar wäre, kann man ja nichts mehr verdienen.

profil: Ein gewisses Streben nach Gesundheit schließt aber Genuss und Lebensfreude nicht von vornherein aus.
Lütz: Das ist ja klar. Im Gegenteil: Wer seine Gesundheit absichtlich ruiniert oder gleichgültig damit umgeht, kann sich nachher nicht seines Lebens freuen. Der griechische Philosoph Epikur hatte recht, wenn er zwar für Bedürfnisbefriedigung eintrat, aber mahnte, dabei stets Maß zu halten. Wir haben von unserer Geburt bis zu unserem Tod nur eine relativ kurze Zeit zu leben. Und da ist es doch schade, dass für manche Menschen gilt: Um den Tod zu vermeiden, nehmen sie sich das Leben, indem sie unwiederholbare Lebenszeit in Fitnessstudios und Wellnesseinrichtungen verbringen. Und dann liegen sie nachher auf dem Sterbebett, und es passiert nun unvermeidlich das, was sie mit all ihren Bemühungen immer vermeiden wollten. Wird sich dann nicht manch einer fragen: Hätte ich nicht mehr Zeit für meine Frau, für meine Kinder, für andere Menschen haben sollen, als immer bloß im Fitnessstudio herumzuhängen? In Wirklichkeit gilt: Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.

profil: In Österreich ist weniger das Streben nach Gesundheit verbreitet, sondern das Völlern, Trinken und Rauchen. Wenn die Menschen in den Wald gehen, sitzen sie nachher bei Surbraten und Backhuhn beim Heurigen.
Lütz: Das ist offenbar eine gesunde katholische Tradition, von der Sie in Österreich profitieren. Wir Deutsche sind bedauerlicherweise durch das leidige preußische Pflichtbewusstsein völlig verbildet. Solch asketische religiöse Traditionen kommen der tyrannischen Gesundheitsreligion mehr entgegen. Da lobe ich mir doch einen gewissen liberalen österreichischen Schlendrian, der mehr Lust am Leben zulässt.

profil: Wir haben eher das umgekehrte Problem. Zwar ist die Lebenserwartung hierzulande ähnlich hoch wie in Deutschland, der Schweiz oder in Skandinavien, aber die gesunde Lebenszeit ist um zwei Jahre kürzer als in diesen Ländern.
Lütz: Also mal ganz ehrlich: Wenn ich die Wahl hätte, zwei Jahre älter zu werden, wenn ich mich verpflichten würde, mein ganzes Leben lang Körner zu essen, mit Stöcken durch den Wald zu rennen oder mich sonst wie lächerlich zu verhalten, dann würde ich lieber auf die zwei Jahre Lebenszeit verzichten, dafür aber so leben wie die Österreicher. Es geht doch nicht bloß um ein langes, sondern um ein erfülltes, ein gutes Leben.

profil: Keine Frage, aber wir reden über die gesund verbrachten Lebensjahre. Es kann ja nicht erstrebenswert sein, Jahre mit chronischen Krankheiten und unter Schmerzen zu verbringen.
Lütz: Wenn das nicht sehr einschränkende Krankheiten sind, würde ich das auch noch in Kauf nehmen. Natürlich ist es belastend, wenn man unter Schmerzen leidet, aber noch einmal: Ich habe überhaupt nichts gegen einen verantwortungsvollen Umgang mit Gesundheit, ich wehre mich gegen die totalitären Zumutungen der Gesundheitsreligion. Wir sind Sklaven der Gesundheitsreligion. Möglicherweise sind Österreicher durch ihre etwas lustvollere kulturelle Tradition vor selbstkasteienden Auswüchsen des Gesundheitswahns mehr geschützt als andere.

profil: In Ihren Vorträgen äußern Sie die Vermutung, dass die Menschen nicht wirklich glücklich sind. Wie kommen Sie darauf?
Lütz: Wenn Menschen aus Angst vor dem Tod nur noch mit hängender Zunge durch die Wälder rennen und ein Leben aus Verzicht und Kasteiung führen, wenn sie nur noch an sich selbst und ihre Gesundheit denken und sich kaum mehr für andere Menschen interessieren, dann wird es eiskalt in unserer Gesellschaft, denn die Gesundheitsreligion ist total egoistisch. Glücklich dagegen ist man mit anderen Menschen. So hat sich das Menschenbild zutiefst verändert. Wenn der gesunde Mensch der eigentliche Mensch ist, dann ist der kranke, vor allem der unheilbar kranke, der behinderte, ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. Wer dagegen nicht in der Gesundheit seine Religion findet, sondern eine seriöse religiöse Grundlage hat, kann gelassener mit dem Leben und auch mit seiner Gesundheit umgehen.

profil: Strapazieren Sie die Parallele zur Religion nicht ein wenig zu häufig?
Lütz: Mir scheint, wir haben heute ein religiöses Vakuum, und das hat die Gesundheitsreligion ausgefüllt. Das Jahr 2000 war da sozusagen ein Wendejahr. Da erreichte die Zahl der Fitnessstudiobesucher in Deutschland 4,9 Millionen, während die Zahl der katholischen Sonntagsgottesdienstbesucher auf 4,2 Millionen sank. Inzwischen sind alle religiösen Phänomene im Gesundheitswesen angekommen. Wir haben Ärzte als Halbgötter, Diätbewegungen gehen wie wellenförmige Massenbewegungen übers Land, welche in ihrem Ernst die Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters bei Weitem übertreffen. Wir erleben den bruchlosen Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite, und blasphemisch können Sie inzwischen nur noch im Bereich der Gesundheitsreligion sein. Über Jesus Christus kann man inzwischen jeden albernen Scherz machen. Aber bei der Gesundheit hört der Spaß auf. Und in meinem Buch fängt er da an.

profil: Zum Beispiel?
Lütz: Die theologisch völlig präzise Bemerkung „Wer früher stirbt, lebt länger ewig“ stößt auch in Kirchenkreisen noch auf blankes Entsetzen. Über Raucher können Sie ohnehin inzwischen alles sagen. Wenn Sie das über Tiere sagen, kommt der Tierschutzverein, aber über Raucher ist jede sadistische Bemerkung erlaubt. Ein Freund von mir, Raucher, sagt gelegentlich: „Warum soll meine Lunge eigentlich älter werden als ich?“ Wenn Sie so etwas in gesundheitsreligiös bewegten Kreisen sagen, haben Sie mit allen Reaktionen zu rechnen, die im Mittelalter auf Gotteslästerung standen.

Zur Person
Manfred Lütz, 60, studierte Medizin, Philosophie und katholische Theologie. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist seit 1997 Chefarzt des psychiatrischen Alexianer-Krankenhauses in Köln sowie Mitglied der päpstlichen Akademie für das Leben. Lütz ist Autor mehrerer Bestseller, darunter „Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult“ (2002), „Irre! Wir behandeln die Falschen – Unser Problem sind die Normalen“ (2009), „Bluff! Die Fälschung der Welt“ (2012) und „Der blockierte Riese. Psychoanalyse der katholischen Kirche“ (2014).
profil sprach mit ihm anlässlich eines Vortrages, den er auf Einladung der Wiener Ärztekammer im Wiener Theatermuseum hielt.

Foto: Michael Rausch-Schott