Mangelmärchen: Sind Obst und Gemüse aus dem Supermarkt wirklich ungesund?

Sind Obst und Gemüse aus dem Supermarkt wirklich ungesund?

Viele Mythen kursieren um den Nährwert von heutigem Obst und Gemüse: Supermarktware habe kaum Vitamine, die Menschen seien unterversorgt, die Böden ausgelaugt, Pestizide eine Gefahr. Das Problem besteht vielleicht darin, dass wir zu wenig Grünzeug essen - am Angebot liegt es aber nicht.

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Schon im Kindergarten lernen wir: Esst viel Obst und Gemüse, denn ob nun Salat, Tomaten, Gurken, Radieschen oder Äpfel - da stecken Vitamine drin, und die benötigen wir dringend für unsere Gesundheit. Doch haben Früchte und Gemüse überhaupt noch den gleichen gesundheitlichen Wert wie früher?

Gar nicht selten wird zuletzt suggeriert, dass all das Grünzeug aufgrund der modernen, international orientierten Lebensmittelproduktion, aufgrund von weiträumiger Lieferung und wochenlanger Lagerung quasi nicht mehr das sei, was es einmal war. Stattdessen: blasse Farbe, fader Geschmack, wenig Vitamine und andere Mikronährstoffe.

Damit nicht genug: Unsere Böden sollen durch massive landwirtschaftliche Nutzung dermaßen ausgelaugt sein, dass die Früchte, die auf ihnen wachsen, kaum mehr als gesund bezeichnet werden könnten. Und überdies: Müssen wir nicht Angst vor Pestizidrückständen haben?

Tatsächlich scheinen viele Menschen bereits zu befürchten, dass sie eine Mangelernährung gewärtigen müssen oder konventionellen Pflanzen nicht mehr trauen dürfen. 39 Prozent der Österreicher schlucken regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel, um vermeintliche Defizite auszugleichen. Sind nun die Ängste berechtigt? Was hat es wirklich mit vitaminarmen Obst- und Gemüseprodukten, was mit vermeintlich müden Böden auf sich?

Sind die österreichischen Böden ausgelaugt?

In Österreich wird circa ein Drittel der Fläche bewirtschaftet, was im Jahr 2016 zu einer Produktion von 700.000 Tonnen Obst und Gemüse führte. Ein Auslaugen des Bodens hätte tatsächlich eine Senkung des Gehalts an sogenannten Mikronährstoffen zur Folge. Gleichzeitig bedeutet ein unfruchtbarer Boden aber auch eine Minderung des Ertrags -was kaum im Interesse der Produzenten sein kann. Deshalb wird in Österreich fleißig gedüngt. Die Folge davon ist, dass tendenziell eher eine Überdüngung der Böden zu beobachten ist als deren Auslaugung.

Was beeinflusst den Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen?

Nicht nur der Boden ist für den Gehalt an Nährstoffen wichtig. Auch die Ausrichtung zur Sonne, die Anzahl der Sonnentage im Jahr, die Sorte und der Reifegrad der Früchte spielen eine entscheidende Rolle. Beispielweise haben zur Sonne ausgerichtete Orangen auf dem Baum eine höhere Dichte an Vitamin C als schattenseitige Orangen. Nach der Ernte haben auch die Art und Länge der Lagerung im Handel und zu Hause relevanten Einfluss auf den Erhalt der Nährstoffe. Äpfel und Birnen etwa sondern viel des Reifegases Ethylen ab, was bewirkt, dass anderes, im Obstkorb neben diesen Früchten liegendes Obst schneller nachreift und damit Vitamine verloren gehen können. Zudem kann auch die Zubereitung einen extrem großen Effekt auf die Nährstoffdichte der auf unserem Teller landenden Speisen haben. Wer zum Beispiel seine Paprika mehr als eine Woche im Kühlschrank lagert und dann klein aufgeschnitten in einem großem Topf mit Wasser kocht, bekommt kaum mehr Vitamin C, Kalium und weitere Vitamine ab.

Hat der Gehalt an Nährstoffen zuletzt abgenommen?

Aus Österreich gibt es keine veröffentlichten Daten dazu, ob sich der Nährstoffgehalt unserer Frischkost verändert hat. Zwei Studien, die von der Deutschen sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung in Auftrag gegeben wurden, sind jedoch gut mit dem österreichischen Lebensmittelstandard vergleichbar und zeigen: Der Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen in unserem Obst und Gemüse hat in den vergangenen 50 Jahren nicht abgenommen. Dass jedoch Schwankungen bei den Mikronährstoffgehalten auftreten, ist völlig normal und hängt von vielen Faktoren ab. Einerseits sind Daten aus Nährwerttabellen immer errechnete Mittelwerte oder werden mit einer teils sehr großen Spanne angegeben. Andererseits haben sich die Analysemethoden in den vergangenen 50 Jahren deutlich verbessert und liefern jetzt präzisere Daten. Angst vor einer Unterversorgung mit Nährstoffen wegen einer möglichen mangelnden Qualität unserer Frischkost muss man demnach auf keinen Fall haben. Wenn schon, dann ist das Problem, dass die Menschen insgesamt zu wenig Obst und Gemüse konsumieren: Solange die Bevölkerung die empfohlene Menge Frischkost nicht einigermaßen diszipliniert isst, wird die Ursache eines - theoretischen - Mangels nicht in nährstoffverarmten Pflanzen zu suchen sein, sondern eine Frage der dürftigen Verzehrsmenge bleiben.

Sind denn die Österreicher mangelversorgt?

Abgesehen von den Lebensmittelanalysedaten, die einer Reduzierung des Nährstoffgehaltes in Obst und Gemüse widersprechen, ist zu beobachten, dass in den vergangenen Jahrzehnten Mängel an Vitaminen und Mineralstoffen nicht messbar häufiger geworden sind. Und das selbst dann nicht, wenn nicht auf Nahrungsergänzungsmittel zurückgegriffen wird. Aus den Daten des österreichischen Ernährungsberichts ist zwar herauszulesen, dass die Bevölkerung bei einigen Vitaminen und Mineralstoffen nicht die empfohlenen Mengen aufnimmt. Um einen manifesten Mangel zu entwickeln, der sich auf die Gesundheit auswirkt, muss ein Nährstoff aber lange in der Ernährung fehlen. Grundsätzlich vermag der Körper eines gesunden Menschen vereinzelte Nährstoffdefizite relativ lange auszugleichen. Es gibt jedoch durchaus ein paar kritische Mikronährstoffe, etwa Vitamin D, Kalzium, Eisen und Vitamin B12, an denen es dem einen oder anderen Österreicher mangelt. Jedoch nehmen wir diese Substanzen hauptsächlich aus anderen Lebensmittelgruppen als Obst und Gemüse auf. Beim Paradebeispiel Vitamin C sind Mängel in Mitteleuropa quasi nicht existent, weil es in sehr vielen Lebensmitteln enthalten ist, allen voran als Antioxidationsmittel in Wurst: Vitamin C (Ascorbinsäure) dient der Konservierung von Lebensmitteln. Der manchmal beinahe als Witz kolportierte Ratschlag, man möge eine Wurstsemmel essen, ist faktisch also tatsächlich korrekt.

Woher kann ein Mangel kommen?

Generell gilt, meint Professor Karl-Heinz Wagner, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung: "Das Wichtigste ist, dass Obst und Gemüse überhaupt gegessen werden, und wenn man das regelmäßig macht, hat man eine entsprechend gute Abdeckung der Nährstoffe." Beim Obstverzehr würden die Österreich fleißiger werden, beim Gemüse sei aber noch viel Luft nach oben. Wer also einen echten Mangel entwickelt, wird diesen eher nicht durch vitamin-und mineralstoffarmes Obst und Gemüse bekommen haben. Vielmehr werden Ursachen wie eine generell einseitige Ernährung mit einem zu geringen Konsum an Frischkost, eine ungünstige Lagerung sowie Zubereitung und zudem auch Erkrankungen, Medikamente oder eine genetische Veranlagung ausschlaggebend sein.

Warum hält Obst und Gemüse aus dem Supermarkt so lange im Vergleich zu Früchten aus dem eigenen Garten?

"Das hängt damit zusammen, dass in der industriellen Landwirtschaft geerntet wird, bevor die Produkte vollständig gereift sind, denn nur so kann die Haltbarkeit für Transport und Lagerung verlängert werden", erklärt Wagner. Wer hingegen aus dem eigenen Garten erntet, wird dies in der Regel erst tun, wenn die Früchte ganz reif sind, wodurch diese dann nicht lange haltbar sind. Man könne jedoch im Haushalt mit der richtigen Lagerung gut dafür sorgen, die Haltbarkeit zu verlängern.

Hat der Geschmack etwas mit dem Gehalt an Mikronährstoffen zu tun?

"Der Geschmack hängt zum Teil mit dem Gehalt an sekundären Pflanzeninhaltsstoffen und dem Wasseranteil zusammen", so Wagner. "Wenn der Wassergehalt einer Tomate sehr hoch ist und sie eine blasse Farbe hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie weniger intensiv schmeckt, und auch, dass einige Nährstoffe nicht in der Zahl enthalten sind, wie sie es bei einer frisch geernteten, reifen Tomate wären." Er rät jedoch dazu, das nicht überzubewerten, denn die Auffassung, wonach früher alles besser war, stimme in diesem Fall nicht. Denn früher hatte man viele Obst- und Gemüsesorten nicht das ganze Jahr verfügbar und tendierte eher zu einer regionalen und saisonalen Auswahl der Sorten. "Aber wenn, wie es in der industriellen Landwirtschaft üblich ist, etwas frühzeitig geerntet und dann nachgereift wird, hat das sicherlich Einfluss auf den Geschmack." Das bedeute aber nicht, dass diese Früchte schlechter wären und immer einen geringeren Gehalt an wertvollen Inhaltsstoffen hätten.

Ist Gemüse aus dem Glashaus weniger gesund?

Wer im Winter einen Salatkopf kauft, kann davon ausgehen, dass dieser ziemlich sicher aus dem Glashaus stammt. Eklatante Unterschiede im Gehalt von Vitaminen und Mineralstoffen sind nicht zu erwarten. Laut Untersuchungen enthält Glashausgemüse aber meist einen etwas höheren Gehalt an Nitrat. Dieses Nitrat kann durch Bakterien in Nitrit umgewandelt werden - beispielsweise bei schlechter Lagerung, mehrmaligem Aufwärmen von Speisen oder durch Bakterien im Verdauungstrakt. Nitrit kann im menschlichen Körper zur Bildung von sogenannten Nitrosaminen führen, welche aufgrund von Ergebnissen aus Tierversuchen im Verdacht stehen, krebserregend zu sein. Aber keine Panik: Ob das auch im menschlichen Körper geschieht, wurde noch nicht völlig geklärt. Was aber als sicher gilt: Die positiven Effekte eines hohen Gemüsekonsums überwiegen die negativen Folgen. Oder um es mit den Worten von Professor Wagner zu sagen: "Mir ist lieber, man isst einen Salat aus dem Glashaus, als man isst gar keinen Salat." Wer indes zu saisonalem Obst und Gemüse greift, hat neben einem vermutlich geringeren Nitratgehalt auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass es aus der Region kommt, frisch geerntet ist, intensiv schmeckt und auch viele gute Inhaltsstoffe liefert.

Machen uns Pflanzenschutzmittel krank?

In der Landwirtschaft werden zweifellos Chemikalien einsetzt, um die Pflanzen vor Schädlingen zu schützen und entsprechende Erträge zu erhalten. Laut dem Lebensmittelsicherheitsbericht der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit wurden 2015 mehr als 2800 Lebensmittelproben auf Pflanzenschutzmittel untersucht. 36 Prozent davon wiesen Rückstände über der Bestimmungsgrenze auf, wovon aber weniger als ein Prozent der Proben den erlaubten Höchstgehalt überschritt und Grund zur Beanstandung boten. Nur eine einzige Probe wies so hohe Gehalte auf, dass sie als gesundheitsschädlich eingestuft wurde. Bedeutet also, dass mehr als 99 Prozent der Proben im grünen Bereich waren. Wie hoch der Gehalt an Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln sein darf und welche Stoffe erlaubt sind, wird von der EFSA, der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, festgelegt. Auf Grundlage von aktuellen Forschungsergebnissen wird dabei von einer unabhängigen Expertengruppe zu jeder Substanz eine Risikoeinschätzung gemacht. Bisher gibt es keine eindeutigen Studien, die bei zugelassenen Mitteln schädliche Auswirkungen auf den Körper beweisen. Unbekannt bleibt aber auch, wie sich die Kombination von mehreren Substanzen (2015 lag die höchste Anzahl in einem einzigen Lebensmittel immerhin bei elf) auf den Organismus auswirkt. Allerdings gibt es eine gute Lösung: Lebensmittel aus biologischer Landwirtschaft. Ob diese mehr Vitamine und Mineralstoffe enthalten, ist zwar nicht gänzlich geklärt. Sie unterliegen aber strengeren Kontrollen und Grenzwerten bei Pestizidrückständen.

Wieso fehlen verlässliche Aussagen über Bedenklichkeit oder Nährstoffgehalt von Lebensmitteln?

Tatsächlich scheint die Frage fehlender Nährstoffe in Österreich nicht so weit zu interessieren, dass umfassende Studien gemacht würden. Der Grund: Weil das, genau wie die Problematik der Pflanzenschutzmittelrückstände, nicht sonderlich relevant ist. Denn die positiven Wirkungen von Obst und Gemüse überwiegen jeden negativen Effekt - ob dieser nun in Form potenziell reduzierter Vitamingehalte oder einer geringen Belastung mit Pestiziden auftritt. Ein hoher Gemüsekonsum hingegen hilft, ein normales Gewicht zu erreichen und zu halten, da Gemüse dank seiner Ballaststoffanteile sättigt und zugleich einen geringen Energiewert hat. Wenn wir viel Gemüse essen, nehmen wir tendenziell weniger Lebensmittel auf, die reich an Kalorien sind. Umgekehrt kann man das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöhen, wenn man Gemüse wegen angeblich krankmachender Schadstoffe oder weniger Vitamine meidet. Denn wer Gemüse weglässt, isst stattdessen anderes, um satt zu werden - etwa Wurst, Fleisch, Käse und Süßigkeiten. Aber diese Speisen machen auch dick und können negative Veränderungen in den Blutgefäßen fördern. Fazit: Wenn man mit 50 an einem Herzinfarkt stirbt, kann es einem egal sein, ob man wegen der Pflanzenschutzmittel mit 80 Krebs bekommen hätte. Unterm Strich haben wir also keine nennenswerte Alternative zu Obst und Gemüse.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 18 vom 28.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.