Prim. Dr. Harald P. David

Psychiater David: "Es gibt kein Seelenröntgen"

Harald P. David über Missverständnisse bei psychischen Erkrankungen, die Gefahren der leistungsorientierten Gesellschaft und den Begriff "Burn-out".

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INTERVIEW: CLEMENS ENGERT

profil: Speziell in den Wintermonaten kämpfen viele Menschen mit Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Was versteht man unter einer "depressiven Episode"? David: Man unterscheidet leichte, mittelgradige und schwere depressive Episoden, bei der der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität leidet. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.

profil: Wieso ist es für viele Leute so schwierig, zwischen "Traurigkeit" oder "Niedergeschlagenheit" als Gefühl und Depression als Krankheit zu unterscheiden? David: Weil die Depression eine Längsschnittbeschreibung (Anm.: Eine Beschreibung des Verlaufes einer Erkrankung), „Traurigkeit“ oder „Niedergeschlagenheit“ eine Querschnittsbeschreibung noch ohne Einbeziehung der Zeitdimension – also des Verlaufs – darstellen.

profil: Was kann getan werden, um diesen Missverständnissen entgegenzuwirken? David: Berichte und Sachinformation in Qualitätsmedien sind sehr wichtig - unter Betonung der Wichtigkeit des Wissensstandes, auch um ungünstigen Verläufen entgegenzuwirken.

profil: Bei den meisten körperlichen Erkrankungen kann fast jeder nachvollziehen, dass der Betroffene nicht arbeitsfähig ist. Warum gibt es bei psychisch Erkrankten in dieser Hinsicht noch eine Art Stigma? David: Vor allem weil es für viele körperliche Erkrankungen "objektive“ und "messbare“ Befunde gibt, die bei psychiatrischen Erkrankungen oft erst durch eine Zeit der Beobachtung und nicht durch einen raschen Blut- oder sonstigen technischen Befund erkennbar sind. Es gibt kein Seelenröntgen.

Es wird in den Medien immer noch das Bild der 'alten Psychiatrie' verbreitet: Der irre Verbrecher, die quälenden Anstalten, der verrückte Psychiater.

profil: Ist es die Angst, als „faul“ oder „schwach“ dargestellt zu werden, die viele Leute daran hindert, sich zu ihrer Depression zu bekennen? David: In einer leistungsorientierten Gesellschaft wird der Wert eines Menschen an seiner Schaffenskraft bemessen - bereits in der Volksschule gibt es eine Leistungsorientierung. Auch die aktuelle Sozialgesetzgebung tendiert immer mehr dahin, Menschen, die aus psychischen Gründen nicht arbeitsfähig sind, zu kontrollieren und oft entwürdigenden Untersuchungsprozeduren zu unterziehen.

profil: Es gibt mittlerweile sehr wirksame und nebenwirkungsarme Anti-Depressiva. Warum haben immer noch viele Menschen die Scheu, sich Psychopharmaka verschreiben zu lassen? David: Es wird in den Medien immer noch das Bild der „alten Psychiatrie“ verbreitet: Der irre Verbrecher, die quälenden Anstalten, der verrückte Psychiater. Außerdem ist der Weg zu den FachärztInnen vor allem am Land immer noch viel zu weit, die Kapazitäten zu gering.

profil: Wie viele Menschen, die mit Depressionen zu kämpfen haben, greifen zu Selbstmedikation wie Alkohol oder Drogen? David: Die Zahlenangaben sind sehr unterschiedlich und schwanken zwischen 24% und 48%, wobei auch der Begriff „greifen zu“ sehr unscharf ist. Die Komorbidität (Anm.: das Auftreten einer Begleiterkrankung) zwischen Alkoholmissbrauch und Depression ist aber häufig, wobei die Depression auch eine Folge des Alkoholmissbrauchs sein kann.

profil: Gibt es tatsächlich so etwas wie ein „Burn-out“ oder ist das nur ein eleganterer, gesellschaftlich weniger tabuisierter Ausdruck für eine Depression? David: „Burn-out“ ist ein derzeitig gängiger Begriff eines Leidenszustandes, der in den offiziellen Diagnosesystemen noch nicht enthalten ist, sich aber in Bereichen mit dem Bild der Depression überschneidet. Wenn der Begriff den Betroffenen den Zugang zu professioneller Behandlung erleichtert, soll es uns recht sein.

profil: Braucht es in unserer leistungsorientierten Gesellschaft mehr Mut zur „Schwäche“, um ein größeres Bewusstsein für psychische Erkrankungen zu schaffen? David: Mehr systemisches Denken und die Erkenntnis, dass wir alle irgendwie zusammenhängen und miteinander zu tun haben und jeder einzelne kranke, fremde, anders leistungsfähige, anders sexuell orientierte Mensch uns nur eine andere Facette unseres Mensch-Seins, unserer Bedürfnisse und unserer Kompetenzen zeigt, könnte für alle hilfreich sein, in dieser komplexen Welt gut miteinander zu leben.

Zur Person: Primar i.R. MR Dr. Harald P. David wurde 1950 in Wien geboren. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und psychotherapeutische Medizin. Außerdem ist er als allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger und als Vortragender an der Sigmund Freud-Universität tätig. Als Initiator des „fit for life“-Literaturpreises für Suchtkranke setzt er sich für die Entstigmatisierung von psychisch Kranken und Randgruppen ein. Seine Psychiatrie-Praxis, die auch als Galerie (Kunstraum Dr. David) verwendet wird, befindet sich im 23. Wiener Gemeindebezirk.