Umweltverschmutzung: Das Meer und der Müll

Noch bevor wir die Ozeane richtig erkundet haben, verschmutzen wir sie bereits gnadenlos: Plastikabfall dringt bis in die Arktis vor, winzigste Partikel werden zur globalen Bedrohung - und finden sich sogar im Meersalz. Forscher entwickeln nun innovative Ideen, um das Problem einzudämmen.

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"Chains off!“ Die Bodencrew löst die Ketten, die den Hubschrauber im Hangar sichern. Er wird aufs Flugdeck gezogen. Eine Minute später steigt der BO-105 vom Eisbrecher "Polarstern“ auf und ist rasch über den Eisschollen der Arktis verschwunden. Maximal drei Stunden hat er Zeit. Mit an Bord sind Forscher des Alfred-Wegener-Instituts in besonderer Mission. Der deutsche Eisbrecher hat über 50 Expeditionen in die Arktis und Antarktis absolviert. Er umrundete als erstes Forschungsschiff weltweit den Nordpol, aber so einen Auftrag hatte die "Polarstern“ noch nie.

Die Forscher der Arktisexpedition suchen nach Müllteilen, die auf der Meeresoberfläche treiben. Während der doppelwandige Eisbrecher sich seinen Weg durchs Nordpolarmeer bahnt, halten die Wissenschafter auch auf der Brücke Wache: Müllwache, und dies auf einer Strecke von 5600 Kilometern bei dieser Expedition.

Erst Ende Oktober gab das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven schlechte Neuigkeiten über den Arktischen Ozean bekannt: Plastikmüll treibt nun auch bereits in der Arktis. Erstmals erfassten Wissenschafter Kunststoffmüll zwischen Grönland und Spitzbergen. Das war die erste Müllzählung nördlich des Polarkreises. Der Plastikabfall ist damit in den letzten, entlegensten Winkel der Erde vorgedrungen und bedroht auch dort Flora und Fauna.

Drei Monate zuvor: Seit Tagen bläst der Embat, der mallorquinische Wind aus dem Süden, ohne Unterlass. Der Seewind treibt riesige Mengen Plastikmüll an die Südstrände Mallorcas. Urlauber schwimmen inmitten von Plastikfolien. Das Europäische Vogelschutzgebiet zehn Kilometer vor der Südspitze Mallorcas mit großen Kolonien von Meeresvögeln und endemischen Tierarten ist voll mit Plastikmüll. Während Josep Maria Aguiló vom Amt für Wasser und Umwelt die Touristen beruhigt - drei, vier Tage Nordwind, und das Treibgut sei dann ja wieder weit draußen im Meer -, schickt er seine Müllschiffe hinaus: 15 vor Mallorca, acht vor Menorca, acht vor Ibiza und zwei nach Formentera. 33 Schiffe sammeln bis Ende September tonnenweise Abfall ein, im August sogar bis zu 1500 Kilogramm täglich.

Hohe Konzentrationen von Mikroplastik

Im Wasser treiben außerdem hohe Konzentrationen von Mikroplastik - zu winzigen Partikeln zerriebener Kunststoff. Bei Formentera etwa erreicht die Verschmutzung bis zu 2500 Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer. Die kleinen Plastikteilchen sind inzwischen in allen Meeren zu finden. Die fünf bekannten globalen Müllstrudel - dichte Ansammlungen von Abfall - im Pazifik, Atlantik und Indischen Ozean bestehen nicht nur aus sichtbarem Müll, sondern auch aus Megawolken von Mikroplastik.

Am Alfred-Wegener-Institut (AWI) blickt die Tiefseeforscherin Melanie Bergmann auf die Computersimulation auf dem Bildschirm. Sie vergleicht die Zahlen, zeigt dann auf die Barentssee: "Hier entsteht vermutlich gerade der sechste globale Müllwirbel.“ In der Barentssee nördlich von Norwegen und Russland sammle sich der Abfall aus den dicht besiedelten Küstenregionen Nordeuropas. Ein Teil davon könnte bis in die Framstraße treiben.

Werden die Ozeane zu Müllhalden unseres Planeten? Welche Dimension bereits erreicht ist, zeigt die intensive Forschungsarbeit dazu. Kein Monat verstreicht ohne neue Veröffentlichungen aus der Wissenschaft. Ging es vor Jahren noch um angespülte Getränkeflaschen an Urlauberstränden, nimmt das Problem inzwischen gänzlich neue Dimensionen an. Erst Mitte November wiesen Wissenschafter aus Shanghai Plastikpartikel sogar in Speisesalz nach - jede der 15 untersuchten Proben enthielt Plastik.

Mit gigantischem Aufwand könnte man gewisse Abfallmengen absammeln, doch längst nicht alles. Denn Einflüsse wie Wellenschlag, Abrieb, UV-Licht und Temperaturschwankungen setzen den Plastikobjekten zu und verwandeln Bruchstücke davon zu tückisch kleinen Partikeln: zum sogenannten Mikroplastik. Zudem wird tonnenweise primäres Mikroplastik aus Industrie und Haushalten in die Gewässer eingetragen. Klärwerke können die winzigen Körnchen etwa aus Peelings und Zahnpasten bisher nicht zurückhalten. Bereits eine Fleece-Decke setzt pro Waschgang um die 2000 Mikrofasern frei. Die Plankton zum Verwechseln ähnlichen Teilchen werden von Meeresbewohnern aufgenommen. Und die Partikel sind unverwüstlich für Jahrhunderte.

Bei Hunderten Tierarten wurden Plastikteile im Magen nachgewiesen, etwa bei Meeressäugern, Schildkröten, Fischen, Vögeln, Langusten und Grönlandhaien. Aktuelle Untersuchungen aus dem Isfjord auf Spitzbergen zeigen, dass 88 Prozent der untersuchten Eissturmvögel Plastik gefressen hatten. Die Folgen: ein vorgetäuschtes Sättigungsgefühl, Verstopfung und Entzündungen des Verdauungstraktes bis hin zum Verenden. Auch Miesmuscheln zeigen Entzündungsreaktionen nach der Aufnahme von Mikroplastik, wies die AWI-Biologin Angela Köhler nach. Meerasseln hingegen scheiden gefressenes Mikroplastik unverdaut wieder aus, berichtete Lars Gutow vom AWI-Nordseebüro, einer der Experten für Mikroplastik weltweit. Die Forscher untersuchen jetzt, wie Anatomie, Lebensweise und Lebensraum von Meeresbewohnern die Aufnahme und Verwertung von Mikroplastikpartikeln beeinflussen, um eine Gefährdungsmatrix für Organismentypen zu erstellen. Neben den physikalischen Effekten ist es wichtig, mögliche toxische und biochemische Effekte zu überprüfen. Hier geht es um Weichmacher, Flammschutzmittel, gesundheitsschädliche Chemikalien, Östrogene und hormonell wirksame Inhaltsstoffe. "Mit diesen millimeterkleinen Teilchen fangen die ökologischen Probleme aber wohl erst richtig an“, sagt Bergmann. "Denn Mikroplastik bietet eine willkommene Oberfläche für fettliebende Giftstoffe.“

"Brauchen unbedingt Klarheit"

Inwieweit Mikroplastik am Ende der Nahrungskette dem Menschen gefährlich werden kann, steht ebenfalls im Brennpunkt der Forschung. In "MikrOMIK“, einem Netzwerk von zwölf Forschungsinstituten, arbeiten Mikrobiologen, Infektionsbiologen und Biochemiker an der Frage, wie gefährlich Mikroplastik ist. Sie untersuchen, inwieweit Krankheitserreger wie pathogene Keime auf driftendem Mikroplastik mitreisen und sich im Biofilm auf der Oberfläche vermehren können. Vibrio-Bakterien in Gewässern wie der Ostsee führten immer wieder zu Todesfällen. "Es gibt Szenarien, die von so gravierenden Risiken ausgehen, dass wir unbedingt Klarheit brauchen“, sagt der Koordinator Matthias Labrenz.

Der US-Forscher Marcus Eriksen rechnete am Five Gyres Institute in Santa Monica, Kalifornien, auf Basis zahlreicher Untersuchungen die Gesamtplastikmenge im Meer aus: Mehr als fünf Billionen Plastikteile dürften in den Weltmeeren treiben. Als Hotspots nannte er die globalen Müllstrudel, Australiens Küstengewässer, den Golf von Bengalen und das Mittelmeer. Dort treibt der Müll von Hauptverursacherländern wie China, Indonesien, Philippinen, Vietnam und Sri Lanka.

Und Europa ist keine Ausnahme, im Gegenteil: Kein europäisches Meer ohne Müll - so die Bilanz einer großflächigen Untersuchung aller europäischen Meere vor einem Jahr. "Die häufigste Sorte, die wir gefunden haben, war Plastik“, berichtet Christopher Pham von der Universität der Azoren. Im Mittelmeer kommt Schätzungen zufolge auf zwei Plankton-Teilchen ein Teil Mikroplastik. Auch die Binnengewässer sind betroffen: Beispielhaft zeigten Forscher der Uni Wien bereits, dass in der Donau mehr Plastikpartikel als Fischlarven treiben. Der Fluss spüle täglich 4,2 Tonnen Plastikmüll ins Schwarze Meer, wo wohl ein Plastikteppich heranwächst - womöglich zum Müllstrudel Nummer sieben.

Jedes winzig kleine Stück Kunststoff, das in den vergangenen 50 Jahren produziert wurde und ins Meer kam, ist, in welcher Form auch immer, heute noch immer dort draußen - oder bereits in einem Fisch oder Seevogel. Die Wissenschafter des AWI rechnen mit einem jährlichen Neueintrag von bis zu 13 Millionen Tonnen Plastik. Damit könnte man ganz Wien hüfthoch mit Plastikmüll zudecken.

Noch rätseln die Forscher über den Verbleib der riesigen Masse Plastik in den Meeren. "Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den errechneten Einträgen und den tatsächlichen Messungen“, weiß Bergmann. Sie sieht in der unterschiedlichen Methodik der weltweiten Studien eine Ursache. Zudem zerfällt Müll zu Mikroplastik, reichert sich in der bislang kaum untersuchten Wassersäule zwischen Oberfläche und Boden sowie in den Fischen und Meeresorganismen an, parkt sich sogar im arktischen Meereis ein oder verwandelt sich in gänzlich neue Gesteinsarten: Vor einigen Monaten entdeckten Geologen an der Küste von Hawaii felsige Gebilde aus Vulkangestein, Korallen, Sand und geschmolzenen Kunststoffen. Sie nannten das neue Gestein Plastiglomerat.

"Plastikabfall kann Jahrhunderte überdauern"

"Wir mussten feststellen, dass heute doppelt so viel Müll in der Tiefsee liegt wie vor zehn Jahren“, berichtet Bergmann. An Bord der "Polarstern“ untersucht sie regelmäßig die Tiefsee: In 2500 Metern Tiefe zieht der Eisbrecher einen Unterwasserschlitten mit Spezialkameras über den Grund der Arktis. "Den ganzen Müll sieht man dann auf dem Monitor“, erklärt Bergmann. Das Müllaufkommen bei Spitzbergen gleiche bereits dem in den Meeressenken vor der Metropolregion Lissabon. Doch Plastik in der Tiefe zerfällt noch langsamer in Mikropartikel als an den Küsten. Denn unten fehlen Sonnenlicht und starke Wasserbewegung. "Unter diesen Bedingungen kann Plastikabfall wahrscheinlich Jahrhunderte überdauern“, so Bergmann. "Er sammelt sich in der Tiefsee wie in einem Endlager.“

Was also tun? Die Kunststoffproduktion legt zu, allein 2013 wurden weltweit an die 300 Millionen Tonnen hergestellt, und die Produktion steigt um etwa vier Prozent pro Jahr. Einige Länder haben inzwischen Plastiktaschenverbote ausgesprochen. Nach einem Beschluss des Europäischen Parlaments soll der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von derzeit 200 Plastiktaschen bis 2019 auf 90 Stück sinken, bis 2025 dann auf 40 Stück pro Einwohner. Kunststoffe als wertvolle Ressource und nicht als Billigmaterial zu betrachten, ist eine erste Maßnahme.

Das dachte sich auch ein bekannter Sportartikelhersteller und holte gemeinsam mit Meeresschützern von "Sea Shepherd“ und der Umweltschutzinitiative "Parley for the Oceans“ treibende Fischernetze vor der Westküste Afrikas ein, um sie zu einem coolen Schuh zu verarbeiten. Diesen Winter soll der Adidas-Schuh aus Fischernetzen und Plastikabfall aus dem Meer in Serie gehen.

Auch die Jeansmarke G-Star setzt auf Meermüll. Für die Herbst-Winter-Kollektion 2015 von "RAW for the Oceans“ wurde Plastik aus den Meeren vor Indonesien herausgefischt - für Jeans aus RecyclingGarn von jeweils sieben Plastikflaschen. Hinter "Bionic Yarn“ wiederum steht der US-Sänger Pharrell Williams als Kreativdirektor. Sein Motto: "Let’s turn ocean plastic into something phantastic.“

Andere Initiativen arbeiten konventioneller: Bei "Fishing for Litter“ entsorgen Fischer den in ihren Netzen gefundenen Plastikmüll kostenlos in eigens aufgestellten Containern. Die schottische Idee verbreitete sich bereits in mehr als 100 europäischen Gemeinden.

Den gesamten Plastikmüll aus dem Meer zu holen, halten die Forscher allerdings für eine naive Wunschvorstellung. Es geht vielmehr um die Entwicklung von gänzlich abbaubaren Kunststoffen und umweltverträglicheren Polymeren, etwa um Kunststoffe, die bei Berührung mit Meerwasser ökologisch zerfallen.

Der 19-jährige niederländische Luft- und Raumfahrttechnikstudent Boyan Slat wiederum stellte kürzlich sein "Ocean Cleanup-Projekt“ vor. Er will mit seinem System Millionen Tonnen Plastik aus den Meeren abfischen. 50 Kilometer lange, V-förmig auf der Wasseroberfläche schwimmende Schläuche sollen Plastikmüll ab zwei Zentimetern Größe unter Ausnutzung der Meeresströmung einsammeln. Slat kalkuliert fünf Jahre für die Reinigung eines der großen Ozeanmüllstrudel. Im nächsten Jahr soll es losgehen.

Reinigung ist auch das Thema bei Kläranlagenbetreibern, motiviert vor allem durch das Thema Mikroplastik. Für Mikroplastik im Abwasser gibt es keine Richt- oder Grenzwerte. Spätestens 2020 soll sich das ändern: Dann wird die gesetzliche Anordnung einer sogenannten vierten Reinigungsstufe für Kläranlagen erwartet. Dasselbe Jahr ist auch aus einem anderen Grund eine kritische Grenze: Noch bis Ende 2015 muss ein Maßnahmenprogramm für die EU-Meeresstrategierahmenrichtlinie vorliegen. Denn die Länder der EU haben sich vorgenommen, nur fünf Jahre später einen guten Umweltzustand in allen europäischen Meeren erreicht zu haben. Ein mehr als ambitioniertes Ziel.

Buchtipp:

"Marine Anthropogenic Litter“, Fachbuch zur aktuellen Forschung als freier Download: http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-319-16510-3

Müll zum Anhören:

Wissenschafts-Podcast der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren: https://resonator-podcast.de/2015/res051-muell-im-meer/