Dossier: Infektionskrankheiten

Vogelgrippe: Die stille Pandemie

Millionen von Vögeln starben 2022 an Influenza, besonders in Europa. Kann von den Ausbrüchen eine Gefahr für den Menschen ausgehen?

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Die Zahlen sind ebenso beeindruckend wie bestürzend: 10.000 tote Kraniche in Israel, Hunderte verendete Gänse und Schwäne in Frankreich, Tausende tot aufgefundene Knuttstrandläufer in den Niederlanden, mehrere hundert verstorbene Pelikane in Griechenland. In Norwegen dürften zehn Prozent der Nonnengänse ums Leben gekommen sein, in anderen Ländern erhebliche Bestände bedrohter Arten. In Summe starb zwischen Herbst 2021 und Frühjahr 2022 fast eine halbe Million Wildvögel. Noch deutlich höher sind die Todesraten in Geflügelbetrieben: Dem Fachjournal „Nature“ zufolge mussten beinahe 80 Millionen Vögel – etwa Hühner, Gänse und Puten – gekeult werden.

Der Grund für das Massensterben trägt die Bezeichnung H5N1, auch aviäre Influenza, Vogelgrippe oder Geflügelpest genannt. Während der Blick immer noch auf das Coronavirus gerichtet ist, wütet zugleich auch eine Vogelgrippe-Pandemie, also eine globale Seuche, ohne dass die Öffentlichkeit viel Notiz davon nimmt. Mittlerweile zirkuliert das Virus auf allen Kontinenten, ausgenommen Australien, Südamerika und die Antarktis. Besonders stark ist Europa betroffen: Im ersten Halbjahr 2022 wurden laut dem Wissenschaftsmagazin „Science“ mehr als 2800 Ausbrüche erfasst. Das deutsche Friedrich-Löffler-Institut sprach von der bisher „stärksten Geflügelpest-Epidemie überhaupt“. In Österreich registrierte die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) bis Mitte Mai 110 Fälle von infiziertem Wild- oder Hausgeflügel, vorwiegend konzentriert auf den Osten des Landes. Der Subtyp H5N1 konnte bei allen österreichischen Fällen nachgewiesen werden.

Übertragungen von H5N1 auf Säugetiere sind äußerst selten, aber durchaus möglich: Bekannt ist, dass sich zum Beispiel Katzen, Füchse, Otter, Seehunde, Schweine und Tiger infizieren können. Und was ist mit Menschen? In der aktuellen Welle hat sich bisher, soweit bekannt, eine einzige Person das Virus eingefangen: ein 79-jähriger Mann in Südwestengland, der sich im vergangenen Jänner bei erkrankten Enten angesteckt hat. Der Mann hatte offenbar regelmäßig engen Kontakt zu Geflügel und soll sich vollständig erholt haben.

Wie aber ist die gesamte Situation einzuschätzen? Stellt die Vogelgrippe eine ernsthafte Bedrohung dar? Und wäre es denkbar, dass wir die Vorboten einer weiteren Pandemie sehen, die auch die menschliche Gesellschaft betrifft? Die Antwort auf letztere Frage lautet: rein theoretisch ja, jedoch deuten keine konkreten Anzeichen auf solch eine Entwicklung hin hin. H5N1 stelle „ein potenzielles pandemisches Risiko dar“, konstatieren die australischen Forschenden Michelle Wille und Ian Barr in „Science“.

Die aviäre Influenza selbst ist eine alte Bekannte. Die ersten Fälle von Geflügelpest fielen 1878 in Italien auf (ohne freilich damals als virale Krankheit identifiziert werden zu können). Bis heute entstanden durch genetische Veränderungen zahlreiche Linien, welche die Molekularbiologie anhand zweier Eiweiße auf der Virusoberfläche unterscheidet. Dies sind die Proteine Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N). Heute sind 16 H- sowie neun N-Untertypen bekannt. Natürliches Reservoir all dieser Viren sind meist wilde Wasservögel, und von diesen können sie auf andere Vögel oder – nach Artsprüngen infolge von Mutationen – auf Säugetiere übergehen, manchmal auch auf den Menschen. Alle Grippe-Pandemien hatten ihren Ursprung in Vögeln, auch die Spanische Grippe von 1918/1919. Es handelt sich daher um eine zoonotische Infektionskrankheit, die eines Tages die Barriere vom Tier zum Menschen in Form eines sogenannten „Spillover“ überwindet und schließlich auch zwischen Menschen übertragbar ist.

Davon kann im aktuellen Fall zum Glück vorerst keine Rede sein. Der Typ H5N1 wurde erstmals 1996 in China nachgewiesen, fällt in die Gruppe der Influenza-A-Viren und ist besonders für Hausgeflügel hoch infektiös. Ursprung waren vermutlich die auch seit der Coronaviruspandemie bekannten Wildtiermärkte und Hinterhoffarmen in Asien. Von dort ausgehend breitete sich das Virus sukzessive in die Türkei, nach Europa, den mittleren Osten und Afrika bis nach Nordamerika und Kanada aus. Häufig tragen Zugvögel die Erreger über den Globus und infizieren die jeweiligen lokalen Vogelbestände. Mitte der 2000er-Jahre beispielsweise starben Schwäne in Wien an der Alten Donau, erinnert sich der Wiener Virologe Norbert Nowotny.

Erste humane Infektionen traten bereits 1997 in Hongkong auf. Besonders zwischen 2003 und 2017 kam es zu – relativ – vielen Übertragungen auf den Menschen. 865 Fälle weltweit wurden insgesamt bis heuer registriert, 456 Patienten starben. Die Todesrate beträgt damit gut 50 Prozent. Allerdings: Gemessen an mehreren Hundert Millionen infizierten Vögeln in diesem Zeitraum und verglichen mit anderen viralen Erkrankungen ist die Gefahr von H5N1 für den Menschen bisher vernachlässigbar. Dies nicht zuletzt deshalb, weil das Virus nur schwer auf den Menschen übertragbar ist: „Es braucht direkten und intensiven Kontakt zwischen Mensch und Vogel“, sagt Nowotny. Risikogruppen sind daher zum Beispiel Personen, die in Geflügelbetrieben arbeiten. Sie stecken sich etwa über Fäkalien, Blut oder über stark mit Viren beladene Tröpfchen an – und zwar immer unmittelbar bei Vögeln, H5N1 ist nicht von Mensch zu Mensch übertragbar.

Die im Jahr 2022 zirkulierende H5N1-Linie scheint für den Menschen sogar noch weniger problematisch zu sein als frühere Varianten, sonst hätten sich angesichts der hohen Fallzahlen unter Vögeln wohl deutlich mehr Menschen angesteckt. Für Wild- und Hausgeflügel dagegen dürfte das gegenwärtig in Umlauf befindliche Virus hoch infektiös und zugleich hoch pathogen sein – worauf eben die heftigen Ausbrüche der vergangenen Monate hindeuten. Die Ursache dafür ist nicht klar. Soweit bekannt, hat das Virus keine entscheidenden Änderungen durchlaufen, sein Profil ist im Wesentlichen seit fast zehn Jahren einigermaßen konstant. „Normalerweise würde solch eine dramatische globale Welle durch eine erhebliche Veränderungen des H-Proteins verursacht“, erläutern Wille und Barr. Doch genau solch ein Wandel sei nicht zu beobachten.

Auch wenn die genauen Ursachen der aktuellen Pandemie ungeklärt sind, hält Nowotny den Umstand, dass sich das Virus offenbar wenig verändert hat, für eine gute Nachricht für uns Menschen. „Es zirkuliert schon sehr lange in weiten Teilen der Welt. Wäre es in der Lage, sich besser an den Menschen anzupassen, wäre das vermutlich schon geschehen. Das hat es aber nicht geschafft. Es ist also unwahrscheinlich, dass uns dadurch die nächste Pandemie blüht.“

Allerdings: Letztgültige Antworten sind in der Naturwissenschaft leider selten. Was heute auf Basis der verfügbaren Fakten eine bestimmte Aussage rechtfertigt, kann morgen aufgrund neuer Daten eine andere erzwingen. Und auch wenn eine bestimmte Viruslinie nicht das Zeug zur globalen Bedrohung hat, bedeutet das längst nicht, dass man sich nicht mit dem grundsätzlichen Risiko einer Influenza-Pandemie auseinandersetzen sollte. Mehrere Faktoren machen das Auftreten von Pandemien sogar wahrscheinlicher als vor einigen Jahrzehnten, darunter intensivere Reisetätigkeit und globaler Warenverkehr, das Vordringen der Menschen in noch unberührte Natur (wo sie auf allerlei virale Erreger treffen können) sowie der Klimawandel, der zum Beispiel die Verbreitung infektiöser Stechmücken begünstigt. Das Potenzial, eine Pandemie auszulösen, haben vor allem Atemwegsinfekte, weil Ansteckungen über Tröpfchen oder Aerosole in der Luft der effizienteste Weg sind, Viren großflächig zu verteilen. Und da kommen speziell zwei Virenfamilien infrage: Corona- und Influenza-Viren.

Viele Virologinnen und Virologen würden Wetten abschließen, dass wir das nächste Mal – wann immer das ist – am ehesten mit einer neuen Form der Influenza konfrontiert sein werden. Denn Grippeviren besitzen Eigenschaften, die es ihnen erleichtern, in ständig neuer Gestalt aufzutreten und ihre Wirte gleichsam unvorbereitet zu erwischen. Der Schlüssel für ein Virus ist Veränderung seiner selbst: Dadurch gelingt der Artsprung von einer Spezies (dem bisherigen Reservoir) zu anderen (neuen Wirten), die Anpassung an eine neue Spezies und die weitere Zirkulation unter Angehörigen dieser neuen Art. Dies geschieht durch Mutationen, durch die zufällige Änderung einzelner Stellen im Erbgut. Im Grunde handelt es sich dabei um „Lesefehler“ bei der Replikation des Virus. Grippeviren besitzen jedoch – anders als Coronaviren – noch einen zusätzlichen Mechanismus der Veränderung: Sie bestehen aus acht genetischen Segmenten, die sich zerlegen und wie Puzzlestücke neu zusammenfügen können. Das Resultat dieser Reassortierung zusammen mit Mutationen kann ein komplett neuartiges Virus sein, so Nowotny, „gegen das niemand geschützt ist“. Aus genau diesem Grund traf die Spanische Grippe anfangs auf eine weitgehend schutzlose Bevölkerung.

Ob und wann das wieder geschieht, kann naturgemäß niemand sagen. Das Autorenteam in „Science“ sieht in der gegenwärtigen H5N1-Variante ähnlich wie Nowotny keinen geeigneten Kandidaten, jedenfalls nicht im Moment. Dazu seien weitere Anpassungen des Virus an den Menschen und eine effiziente Übertragung zwischen Menschen erforderlich, was sich bisher eben nicht abzeichne. Andererseits, so Wille und Barr: Jene Prozesse, die zu solch einer verbesserten Anpassung führen, seien nur unzulänglich verstanden. Zudem seien im Moment schlicht hohe Mengen an Virusmaterial im Umlauf, was Transmissionen auf andere Spezies, rein statistisch betrachtet, erhöhe. Sollte jedoch einem hoch infektiösen und weit verbreiteten Virus wie H5N1 die Adaption an den Menschen gelingen, so die Forschenden, „wäre es nahezu unmöglich zu kontrollieren“.

Ihre Empfehlung lautet daher: möglichst engmaschige Überwachung von Influenza-Viren und deren Evolution. Was freilich ohnehin nicht schaden kann – selbst wenn sich alle Befürchtungen unbegründet oder als übertrieben erweisen.

Der Steckbrief des Erregers

Das zurzeit zirkulierende Vogelgrippevirus H5N1 fällt in die Gruppe der Influenza-A-Viren, der problematischsten Klasse der Grippe-Erreger. Unterschieden werden die Subtypen anhand der Oberflächenproteine Hämagglutinin (H) und Neuraminidase. H5N1 ist seit 1996 bekannt, seit damals haben sich zahlreiche genetische Linien etabliert. Momentan ereignet sich die bisher größte Welle mit mehr als 2800 Ausbrüchen allein in Europa. Das Virus wird über Kot, Speichel oder große Tröpfchen übertragen, die Inkubationszeit beträgt zumeist ein bis drei Tage. Bisher haben sich nur wenige Menschen an infiziertem Geflügel mit H5N1 angesteckt, die „Case fatality rate“, die Todesrate, beträgt jedoch gut 50 Prozent.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft