Das ewige Mädchen: Bibiana Zellers ergreifende Memoiren

Mit jugendlichen 87 Jahren legt die Wiener Schauspielerin Bibiana Zeller ihre anrührenden Memoiren vor, in denen sie auch von Ängsten und Verzweiflung erzählt.

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Sie ist gar nicht gekränkt, dass sie demnächst eine 91-Jährige in einem Film spielen muss. Also fast nicht. Denn diese Greisin hat nicht einmal einen Satz, die sitzt nur stumm und sorgenvoll da. Aber macht in Wahrheit auch nichts: „Dann muss ich wenigstens nichts lernen.“ Sie kichert wie ein Backfisch. „Schatz“, sagt sie, „hör zu, irgendwann muss doch Schluss sein. Man ist müde, man ist alt, seit zwei Jahren fahre ich nicht mehr Auto, sondern nur mehr mit der Straßenbahn. Ich habe mich in die Kategorie Greisin eingereiht. Und so will ich jetzt aber auch behandelt werden.“

Wir haben uns gerade kennengelernt. Man sieht Bibiana Zeller dennoch an, dass sie ein bisschen schwindelt.

Im Vorzimmer kläfft ihr Hund, Schritte im Stiegenhaus dürften ihn erschüttert haben. Der kleine Dalmatiner ist pflegeleicht. Er ist aus Plastik und dient zur Einbrecherabwehr. Alles, alles haben sie ihr einmal gestohlen. Den ererbten Schmuck, den Computer, man macht sich keine Vorstellungen. Die Altbauwohnung in der Wiener Josefstadt, die mit puristischen Möbeln und großflächigen Bildern an der Wand ganz greisenuntypisch gestaltet ist, hat ihr die erste große Liebe geschenkt, der Dirigent Michael Hutterstrasser. Zum Trost, nachdem er sie verlassen hatte.

„Damals war ich endlos traurig und hätte so viel lieber den Mann gehabt …“ Später hat er sich das Leben genommen, so ganz ohne Grund. In einer Nachbarwohnung. Sie hat ihn gefunden. Nein, in diesen 87 Jahren war nicht nur alles schön.

Ende März erscheint ihr Buch mit dem Titel „Bitte lasst mich mitspielen!“ bei Amalthea. Es ist ein für Schauspieler ungewöhnlich später Zeitpunkt, seine Memoiren zu publizieren. Üblicherweise werden da schon in der Lebensmitte die Chroniken der Triumphe und nicht ganz so großen Triumphe hinausgepfeffert.

Endlose Stapel von Schulheften

Bibiana Zeller musste bekniet werden, sie hatte eigentlich überhaupt keine Lust, sich dieser Art von Lebensarchäologie zu stellen. Aber da waren Tagebücher, endlose Stapel von Schulheften, die sie seit den 1940er-Jahren dicht beschrieben hatte – und die Frau, der sie vertraute: Die Rundfunkjournalistin Marina Watteck ließ einfach nicht locker. „Die arme Marina musste sich da durchkämpfen“, gluckst sie.

Das Produkt dieses Kampfes, der von vielen Tonbandsessions begleitet wurde, ist ein teilweise auch erschütterndes Dokument eines für den außenstehenden Betrachter so erfüllten Künstlerinnenlebens. Jeder in Österreich kennt ihre Ilse Kottan, die leidensfähige Gattin des Klamauk-Majors, die für die drei Kottan-Darsteller Peter Vogel, Franz Buchrieser und Lukas Resetarits zum personifizierten Vorwurf wurde. 17 Folgen und zwei Kinofilme lang. Neben Peter Patzak arbeitete Zeller mit Filmregisseuren wie Harald Sicheritz, Wolfgang Murnberger, Xaver Schwarzenberger, David Schalko und Robert Dornhelm. Die Burgtheater-Listen ihrer Rollen sind meterlang.

Der flehende Ton des Buchtitels – „Bitte lasst mich mitspielen!“ – hat dennoch eine tiefere Bedeutung: Theater ging im Leben der gebürtigen Wienerin oft auch mit Kränkungen und Ängsten Hand in Hand. 1972 wurde sie ans Burgtheater geholt, und ihr Verhältnis zu jener Institution, die sie als Kind wie das „Paradies“ schlechthin empfunden hatte, trägt sowohl im Buch als auch in unserem Gespräch nicht den Hauch von verklärender Nostalgie. Sie notierte: "Ich habe hier mehr als vierzig Jahre verbracht. In dieser Zeit habe ich unglaubliche Durststrecken erlebt, als ich überhaupt nichts angeboten bekam. Wartend, ob ich was kriege, wartend und sitzend – mehr als kämpfend, denn das kann ich leider nicht –, hab ich alle möglichen Zustände gehabt, die man sich überhaupt nur vorstellen kann … Ich habe mir die Tagebücher binden lassen, damit nicht so flatternde Schulhefte herum- liegen … Egal ob ich 1983, 1997 oder 1970 aufschlage: Das Theater und meine Verzweiflung, das ist durchgehend niedergeschrieben …"

Fünf oder sechs Direktoren hat sie erlebt, und durchgehend verließ sie dabei nie das Gefühl: „Ich bin so lange nicht drangekommen.“ Die einzige Ausnahme stellte Klaus Bachler, der vor Matthias Hartmann das Haus leitete: „Der war wunderbar, der hat mir zu spielen gegeben.“

Protagonistin mit unsicherem Seelenleben

„Bei meiner Arbeit mit Bibi Zeller habe ich erst begreifen gelernt, wie unglaublich empfindsam Schauspieler sein können. Und wie groß ihre Angst ist, nicht mehr gebraucht zu werden“, beschreibt Marina Watteck dieses Verunsicherungsgefühl, das sich durch das Seelenleben ihrer Protagonistin zieht.

Unlängst hat Bibi Zeller so einen „netten Zettel“ vom Burgtheater bekommen, mit den Zeilen: „Ab jetzt sind Sie nur mehr als Gast beschäftigt.“ So ist das jetzt eben. Warum sollte das zählen, dass man dort ein Leben verbracht hat. Das ist doch völlig egal. Bloß nicht sentimental werden. Das ist der Beruf. In diesem Beruf sollte man ohnehin besser kränkungsresistent sein, aber natürlich kränkt sie sich trotzdem. Jetzt herrschen dort so Institutions-Knöpfchendrücker in den Büros.

Und die neue Frau Bergmann, von der Zeller gar nicht so begeistert ist wie alle anderen, muss natürlich ausputzen und säubern. Die muss ja schließlich einen Erfolg abliefern, und wenn’s auch nur in Form von Ersparnissen ist.

Ihre möglicherweise letzte Rolle in dem Haus ist die Großmutter in Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, eine Zeller-untypische, weil durch und durch bösartige Figur, die das „Bankert“ ihrer Enkelin Marianne im kalten Freien schlafen lässt, um sich demnächst einen Esser zu ersparen: „Da gebe ich meiner hässlichen Tochter eine solche Ohrfeige, dass ich wirklich glücklich bin, das überhaupt geschafft zu haben. Und dann verfluche ich alle, die mir den Tod wünschen. Es ist sicherlich die böseste Rolle, die ich je gespielt hab.“ In ihren Memoiren schreibt sie im Vorwort: "Als alter Mensch hat man das Gefühl, es wünscht einem fast jeder den Tod. Aber ansonsten bin ich sehr glücklich. Eigentlich. Nun ja, und die Tagebücher. Die sind ja eine Katastrophe, das ist alles nichts, nichts, gar nichts."

„Die Verunsicherung liegt nur in ihr selbst“, sagt Peter Patzak, der Zeller ein Kottan-Leben lang begleitete. „Ich kenne kaum eine Schauspielerin, die in Österreich dauerhaft so beschäftigt war und ist wie die Bibi – am Theater wie im Film und Fernsehen.“ Immer wieder schrieb er ihre Figur in den Kottan-Episoden „dreckig“ – Korruption, Intrigen Promiskuität, sogar mit dem Polizeipräsidenten: „Aber sie hat es trotzdem immer geschafft, jedes Mal wie ein Engel auszusteigen. Auch das Alter hat im Gesicht der Bibi einfach keine Zeichen gesetzt.“ Er schickt einen Brief aus dem Jahr 1983, den die Zeller nach der endgültig allerletzten Klappe des TV-Kottan verfasst hat. Das Schreiben hat sie jedoch erst 25 Jahre danach abgeschickt. Wenn man Bibi Zeller länger kennt, verwundert einen das nicht besonders, sagt Patzak.

"Lieber P.P.! Ich konnte nicht weinen in der allerletzten Einstellung: Ich musste versuchen, positiv in die Welt zu blicken, auch wenn alles aus ist … Die Jahre mit dir haben mir so viel gegeben. Glaube nicht, dass ich deshalb nicht leide an meiner Erinnerung. Wollen wir nicht versuchen, lachend zu sterben?"

"Stress ist für mich nichts Böses"

Das Lachen und die Traurigkeit liegen in Bibi Zellers Seele nahezu immer in Griffnähe. Wirklich beklemmend ist für sie, dass die nächste Vorstellung von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ erst im Juni ist. Und zwar im Juni 2016. Man braucht doch Pläne. Erst recht mit 87. Bis dahin gibt es am Theater gar nichts zu spielen, vielleicht auch sonst gar nichts außer dieser wortlosen Greisinnen-Rolle beim Film. Dabei liebt sie „Stress“: „Der belebt mich, Stress ist für mich nichts Böses.“ Sie füttert den Fotografen mit Schokolade. Dann seufzt sie: „Ich habe doch noch immer eine solche Sehnsucht, eine solche Sehnsucht.“

Und man sieht in diesem Augenblick das 17-jährige Mädchen, das im Bombenhagel von Wien jeden Tag weniger um sein eigenes Zuhause als um das Überleben des Burgtheaters bangte. Sowohl die Elternwohnung in der Gölsdorfgasse nahe der Wiener Universität als auch „dieses Haus am Ring, das für mich ein magisches Land beherbergte“, wurden dann doch trotz aller Gebete in Schutt und Asche gelegt. Das Burgtheater erwischte es erst in den allerletzten Kriegstagen, am 12. April 1945. Und Bibi Zeller, Tochter einer stillen, häufig traurigen Mutter und eines fröhlichen Vaters, der unter anderem die Bibi-Bar in der Rotenturmstraße und sonst auch viel Unfug betrieb, vor allem mit Frauen, reihte sich sofort in die lange Menschenschlange, um bei den Aufräumarbeiten mitzuhelfen: „Ich hatte die Ziegel des Burgtheaters in der Hand. Schon damals entwickelte ich eine nahezu körperliche Verbundenheit mit dem Burgtheater. Dort wollte ich hin, dort, glaubte ich, konnte einem nichts passieren, dort schien man geschützt.“ Eine Kindheit im Krieg und ein aufrechter Antifaschist als Vater, der vielen jüdischen Freunden beim Überleben half, haben das Gefühl der Verunsicherung in ihrem Empfinden implantiert.

Und erst nach viel Kellertheater und einer Ochsentour durch die deutschen Theater gelang es ihr, den Traum vom Burgtheater-Engagement zu realisieren. In den 1960er-Jahren spielte sie die ersten dramatischen Monologe von Thomas Bernhard auf dem Kärntner Tonhof, dem Landsitz des Ehepaars Lampersberg: „Der Thomas war so herrlich boshaft. Tödlich konnte er sein. Ich habe das geliebt.“ Doch der Ort des Spiels war für Bibi Zeller eigentlich ohnehin immer zweitrangig. Es ging vor allem um die nahezu physische Notwendigkeit des Spielens. Die Tagebuch-Notiz aus dem Oktober 1946 vor ihrem ersten Bühnenauftritt im Alter von 18 Jahren dokumentiert das: "Ich fiebere, ich lebe, nun erst richtig; ich kann nicht mehr schlafen noch essen. Ich lebe nur mehr im Spiel. Dann wach ich auf, dann bin ich „ich selbst“. Nun weiß ich immer mehr, was mir die Bühne bedeutet. Ich kann nicht mehr ohne sie sein, du weißt es Gott, dich bitt ich täglich um Hilfe und Beistand; alles gebe ich hin, du weißt’s, nur du, wie ich mich sehne nach dem Spiel. Ich kenne nichts anderes mehr; es tut mir nichts mehr weh; ich kenne keine andere Qual, keine andere Liebe mehr als euch, ihr dunklen Gestalten, nach denen ich mich sehne, darzustellen …"

Peymann war schrecklich (...). Aber er war so unglaublich lustig.

Das erste Stück war das dramatische Gedicht „Indipohdi“ von Gerhart Hauptmann, an den Ort des Auftritts kann sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Ist ja auch egal. Es riecht stark nach Lavendel in Bibi Zellers Stadtwohnung. Eine SMS ihres Ehemanns, des Schauspielers Eugen Stark, trudelt ein. Er lebt am Land, im niederösterreichischen Traunfeld, sie pendelt: Nur das Land, die Hunde und die Lavendelplantage – das wäre nichts für sie. „Wann kommst du?“, will der Ehemann wissen. „Ich habe noch zu tun“, schreibt sie zurück. „Er hat jetzt eine Frau aus dem Dorf gefunden, die für ihn kocht“, kichert sie.

Über einem Foto, das einen lachenden Claus Peymann zeigt, hängt ein getrockneter Strauß. Das Bild hat etwas nahezu Altarhaftes: Die „Kinder“ (der Kameramann und Regisseur Fabian Eder und seine Frau, die Schauspielerin Katharina Stemberger) haben es ihr geschenkt. Zwei Söhne aus ihrer ersten Ehe mit dem Regisseur Otto Anton Eder hat sie großgezogen: „Die haben mich manchmal nur zum Gute-Nacht-Sagen zwischen der Vormittagsprobe und der Abendvorstellung gesehen: Servus! Wie geht’s? Und baba. Die wenigsten Burgschauspielerinnen meiner Generation hatten Kinder. Da gab es so viele Abtreibungen; erst mit den Ostdeutschen, die mit Peymann gekommen sind, hat sich das geändert. Plötzlich waren da auch Kinder im Schminkraum.“

War es eine schöne Zeit unter Claus Peymann? „Paah“, ruft sie: „Er war schrecklich. Unter ihm habe ich die größten Qualen durchmachen müssen. Die kleinsten und schiachsten Rollen gekriegt. Manchmal musste ich wie ein Schwein aussehen. Als Regisseur war er gnadenlos. Er ist in jeden so weit vorgedrungen, bis er zerplatzte. Mein Gott, wie oft bin ich von der Probe auf’s Klo gerannt und habe geweint und gespieben und was nicht alles.“ Nach einer Pause sagt sie: „Aber er war so unglaublich lustig. Und deswegen hängt er da bei mir.” Sie schürzt ihren Mund. Durchaus kokett. Ganz das Mädchen, das angeblich 87 Jahre alt ist. Ihre Lebensbilanz hat was von Thomas Bernhard: „Alles eine Katastrophe. Aber ansonsten bin ich sehr glücklich.“

FOTO: PHILIPP HORAK (http://www.philipphorak.com)

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort