Sigi Bergmann

Sigi Bergmann: Schießen können wir!

Boxexperte Sigi Bergmann berichtet seit mehr als 40 Jahren von Olympischen Sommerspielen. Für profil schreibt er über Sport in unsicheren Zeiten und die kommende Woche startenden Spiele in Rio de Janeiro.

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PROTOKOLL: WOLFGANG PATERNO

Zu meinem 70. Geburtstag hielt einer meiner Freunde eine Festrede. "Für mich bist du die Jungfrau von Orléans des österreichischen Sports“, lauteten die ersten Worte. Ich sei jemand, der für den Sport mit Feuereifer eingetreten sei, ohne Rücksicht auf gewisse Realitäten. Eine flotte Hommage, dachte ich: der Sportreporter als Sportjungfrau. Später, als ich das Leben der französischen Nationalheiligen in Lexika nachschlug, fand ich stets das Attribut "naiv“. Die Lobrede war die schallende Ohrfeige eines lebenslangen Freundes. Er wollte mich verklausuliert darauf aufmerksam machen, dass ich als Moderator und Sendungsmacher das Sportgeschehen die vergangenen 40 Jahre allzu kritiklos betrachtet hatte.

Ich bin ein Enthusiast des Sports, ein Amateur im Sinne Egon Friedells, der schrieb, dass allein beim Amateur der ganze Mensch in seine Tätigkeit ströme, sie mit seinem ganzen Wesen sättige. Natürlich war und ist der Sport auch ein weites Feld krimineller Ungeheuerlichkeiten, von Menschenopfern bis zu Dopingskandalen, von Betrug bis Bestechung. Sport diente als Steigbügelhalter für Diktatoren. In Nordkorea, China, der DDR und der Sowjetunion mischte er sich mit Nationalchauvinismus. Als ich den damaligen DDR-Staatschef Erich Honecker interviewte, sagte er mir, Sport sei nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Das Ziel war, die weltweit unbeliebte DDR durch Sport in ein besseres Licht zu rücken.

Soweit ich mich erinnern kann, wurde auch der olympische Sport gern instrumentalisiert. Es lief immer schief, wenn die Politik ihre Pratzen im Spiel hatte. München 1972, das Jahr der Geiselnahme jüdischer Sportler und der vielen Toten. Seit dieser Zeit gleichen die olympischen Dörfer Hochsicherheitstrakten, der Sport findet an hermetisch abgeriegelten Schauplätzen, in einer fast schon militärischen Kasernenhofatmosphäre statt. Wo sich Massen sammeln, sendet das Fernsehen in alle Welt. Terroristen könnten dabei ihre kranken Botschaften mit Blut und Tränen verkünden.

Wütender IOC-Präsident Brundage

München 1972 ist aber auch diese Szene: Der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Avery Brundage, rennt einem österreichischen Gewichtheber hinterher, der verschwitzt und mit geschulterter adidas-Tasche die Trainingshalle verlässt. Brundage brüllt den Sportler an, keine Schleichwerbung zu machen, sonst werde er umgehend der damals noch rein von Amateuren bestrittenen Spiele verwiesen. Heute sind es die Spiele der Sportmillionäre.

Montreal 1976. Sechs Stunden lang kommentiere ich die Eröffnung. Es ist bis zum Ende der Live-Schaltung unklar, ob die afrikanischen Länder die Spiele boykottieren werden (was sie schließlich auch tun). In Montreal holen Österreichs Schützen gleich zu Beginn der Wettkämpfe eine Bronzemedaille. Seitdem sind sie die heimischen Nothelfer für den Medaillenspiegel. Schießen können wir!

Moskau 1980. Der Westen boykottiert die Spiele. In Los Angeles 1984 bleibt Russland der Veranstaltung fern. In Moskau wird eigens ein Hotel für Journalisten eröffnet. Es sind die einzigen Spiele, bei denen ich beim Betreten wie beim Verlassen der Unterkunft gefilzt werde. Soldaten salutieren beim Eingang, die Zimmer werden abgehört. Ein Deutscher hat ein metallenes Bruchband. Er muss beim Detektor jedes Mal seine Hosen runterlassen.

Barcelona 1992 und Sydney 2000: Traumspiele. In Australien gehe ich vom Hotel über die Straße in die Boxhallen. In Peking 2008 musste ich vier Stunden lang mit dem Autobus anreisen. In Sydney schwänze ich eine Boxvorrunde für die "Tosca“ im Opernhaus. Die "Tosca“ ist brutaler als Boxen.

Schließlich London 2012. Ich bin seit 50 Jahren Diabetiker. Für meine Spritzen benötige ich erstmals schriftliche Bestätigungen. In Atlanta 1996 war die oberste Sicherheitsbeamtin eine Frau, deren Mann selbst zuckerkrank war. "My sweet boy from Vienna“ nannte sie mich und schenkte mir eine selbstgemachte Diabetikertorte.

Jeder Weltmeister ist irgendwann ein Ex-Weltmeister. Olympiasieger bleibt man ewig.

Doping? Gemogelt wurde immer. Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, 1896 in Athen, verkürzte der Dritte im Marathon die Distanz. Er legte ein Teilstück der Strecke in einer Kutsche zurück. Doping war bereits im 18. Jahrhundert bekannt, es findet bis in die Gegenwart hinein statt. Nicht wenige Athleten werden wohl auch in Rio de Janeiro darauf bauen. Dabei weiß man, dass die Leistungssteigerung durch Drogen den Menschen seines eigenen Selbst beraubt, die Psyche zerstört. Sportler aus der DDR durfte man prinzipiell nicht interviewen, man musste die Fragen vorab bekanntgeben. Wenn ich daran denke, mit welchem Jubel ich einst stundenlang olympische Eröffnungszeremonien live kommentierte, hat der Freund mit dem Jungfrau-von-Orléans-Vergleich vielleicht nicht ganz unrecht gehabt.

Dennoch waren für mich die Spiele stets wie für Opernliebhaber Bayreuth und Salzburg zusammen, die Festspiele des Sports. Olympia ist der Gipfel. Sport in Starbesetzung, in jeder Disziplin. Ein Hochamt der Athletik, bei dem Menschen zusammenkommen, ohne die jeweils anderen Sprachen und Kulturen zu kennen. Es zählen keine Religionen und Hautfarben. Man kämpft gegeneinander im Zeichen der Freundschaft. Das allein ist unendlich viel wert. Jeder Weltmeister ist irgendwann ein Ex-Weltmeister. Olympiasieger bleibt man ewig.

Und mein schönstes Olympia-Jahr? Seoul 1988. Zwei Bergmanns am Start. Meine Tochter Elisabeth tritt im Wettbewerb der Rhythmischen Sportgymnastik an. Ich sitze zeitgleich als Kommentator am Boxring und bin von langjährigen Kollegen umgeben, darunter auch der Kabarettist und Boxkenner Werner Schneyder, der für einen deutschen Sender berichtet. Schneyder (er war es übrigens, der mich später liebevoll-maliziös zu einer Sportjungfrau adelte) organisiert eine Überraschung. Im Ring schlagen sich die Boxer mörderisch in die Goschen. Ich sitze mit versonnenem Lächeln da, den Blick auf den Monitor mit Elisabeths Kür. Plötzlich stehen alle Kollegen auf, applaudieren meiner Tochter - und kommentieren unverdrossen die blutigen Ereignisse im Ring.

Sigi Bergmann, 78, moderierte die TV-Sendung "Sport am Montag“ und kommentierte mehr als 3500 Boxkämpfe. In Rio de Janeiro wird er als ORF-Reporter von den Boxwettbewerben berichten.