Der heilige Trinker

Hommage. Vor 25 Jahren starb Helmut Qualtinger. Er machte Ernst mit der Satire – und war seiner Zeit weit voraus

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Von Alexander Bartl und Stefan Grissemann

Alkohol.
Selbstzerstörung und Lebenslust bildeten bei ihm eine prekäre Balance. Lange konnte das nicht gut gehen: Vor 25 Jahren, am 29. September 1986, starb Helmut Qualtinger 57-jährig an einem Leberleiden. Der Alkohol war sein Ventil, seine Chance auf kurzfristige Flucht vor der eigenen „Uneinheit“, wie André Heller das formuliert: „Wir spazierten oft stundenlang debattierend durch den Prater, meist gefolgt von einem Besuch im Schweizerhaus, wo er immer Bier mit Büffelgraswodka bestellte. Ich hielt als junger Spund natürlich mit, das war selbstzerstörerische Ehrensache. Wir haben gesoffen, als gälte es einen Unvernunftsrekord aufzustellen.“

Bronner.
Mit dem Autor und Musiker Gerhard Bronner (1922–2007) arbeitete Helmut Qualtinger ab 1950. Neben Carl Merz, der wie Michael Kehlmann auch zu ihrer Gruppe gehörte, war Bronner wohl Qualtingers entscheidender Partner. Ihr erstes gemeinsames Kabarettprogramm hieß „Brettl vor’m Kopf“ (1952), es folgten viele weitere – und etliche Qualtinger-Erfolgsnummern, die Gerhard Bronner geschrieben hatte („Der g’schupfte Ferdl“ oder etwa „Der Papa wird‘s scho richten“). Ein Kabarett-Neuling war Qualtinger schon 1952 nicht mehr: Er hatte seine Bühnenkarriere mit Carl Merz im Kabarett „Lieber Augustin“ im Keller des Café Prückel bereits unmittelbar nach dem Krieg begonnen. 1957 schufen Bronner und Qualtinger die Figur des „Travnicek“, der Dumpfheit und Bauernschläue auf stets überraschende Weise kombinieren konnte.

Ernst.
Zwar brachte er früh die Leute zum Lachen, aber dass er selbst ein glücklicher Mensch gewesen wäre, behauptet kaum einer, der Qualtinger kannte. Man könnte sein Gespür fürs Pointierte sogar als eine Facette seiner Ernsthaftigkeit deuten, schließlich wohnte dem Lustigen bei ihm stets die Verzweiflung über die herrschenden Zustände inne. Dass viele nur die heitere Oberfläche goutierten und den bitterbösen Tiefsinn übersahen, lag zum wenigsten an Helmut Qualtinger selbst.

Film.
Qualtingers eigenartige Filmlaufbahn setzte mit Possen-Kurzauftritten in den Revuen, Lustspielen und Liebeskomödien der fünfziger Jahre ein. Als Charakterdarsteller ernster nahm ihn damals nur der Fernsehregisseur Erich Neuberg, der später bekanntlich auch für die lakonische Inszenierung des „Herrn Karl“ verantwortlich zeichnen sollte: 1957 spielte Helmut Qualtinger in dem TV-Film „Das Abgründige in Herrn Gerstenberg“ seine erste gewichtigere Rolle. 1961, im Jahr des „Karl“, besetzte Neuberg Qualtinger auch als Oskar in „G’schichten aus dem Wienerwald“ – und zeigte darin einem breiteren Publikum erstmals, zu welcher Brutalität der als Clown so lange Missverstandene vor der Kamera tatsächlich fähig war. Als schlecht gelaunter Oberpolizeirat warf Qualtinger in dem Krimi „Mann im Schatten“ ebenfalls 1961 bereits seinen Schatten auf die viel spätere „Kottan“-Figur voraus. Filme seien praktisch „militärisch organisiert“, sagte er, die Verantwortung verteile sich auf unüberschaubar viele Menschen, und man bringe seine Zeit fast ausschließlich „mit sinnlosem Warten“ zu. Lediglich zwei Filmauftritte absolvierte Qualtinger in den letzten sieben Jahren seines Lebens – beide in seinem Todesjahr: In Michael Schottenbergs Doderer-Adaption „Das Diarium des Dr. Döblinger“ war er ebenso zu sehen wie, neben Sean Connery, in der Eco-Großverfilmung „Der Name der Rose“.

Frauen.
Einen glaubwürdigen Frauenhelden gab Qualtinger allenfalls auf der Bühne ab. Jenseits des Rampenlichts war er keiner, der in der Damenwelt als besonders versierter Verführer auffiel, als Freund wehrhafter, starker Frauen aber durchaus. Über seiner Ehe mit der Autorin Leomare Qualtinger ballten sich oft genug Gewitterwolken. In Hamburg lernte er die österreichische Schauspielerin Vera Borek besser kennen und lieben. Größe bewies auch sie, denn Qualtinger begann nach der Scheidung von Leomare und vor der geplanten Hochzeit mit ihr eine Affäre mit einer Wiener Kostümbildnerin. Vera Borek nahm den reumütigen Qualtinger schließlich trotz allem zurück und 1982 zum Mann.

Gutruf.
Das Wiener Lokal „Gutruf“ versteht sich auf kühles Understatement. Jedenfalls lässt sich die Bar, die heute neben einer aufgestylten Champagnerboutique hinter der Peterskirche kauert, von außen nichts anmerken von ihrer glorreichen Vergangenheit. Im Hinterzimmer wurde einst Wiener Kulturgeschichte geschrieben: Hier sammelte sich die Kreativszene um Helmut Qualtinger, hier erlebte der Schmäh sein goldenes Zeitalter. Es war eng, es war stickig, und der Wirt besaß keine Schank­lizenz. Kurz, das „Gutruf“ versprach seinen Gästen die ideale Melange aus Gemütlichkeit, Nervenkitzel und Genie im Hinterzimmer.

Hamburg.
So exquisit wie während seiner Hamburger Jahre Anfang der Siebziger hat Qualtinger in Wien kaum jemals gewohnt. Unweit der Alster quartierte er sich ein, um seine Karriere als Autor und Schauspieler voranzutreiben. Seine Freizeit verbrachte er allerdings fern der guten Adressen: Am liebsten kehrte er am Hafen ein, denn dort „unten gibt’s einige Kneipen, in die tatsächlich ein paar Matrosen kommen. Leute, die nicht ambitioniert sind.“

Jugend.
„Wir waren Schmuddelkinder“, erinnert sich die Schauspielerin Erni Mangold ironisch an ihre frühe, sehr innige Freundschaft zu Helmut Qualtinger, den sie kurz vor Kriegsende, als sie beide noch Teenager waren, in der Wiener Leopoldstadt kennen gelernt hatte. „Wir hielten uns gern in Kohlenkellern und in den Ruinen der Stadt auf; wir waren happy, dass alles kaputt war, dass nun etwas Neues nachkommen konnte. Erst später haben wir gemerkt, dass damit nicht zu rechnen war.“ Die „sehr antinationalsozialistische Einstellung“ habe Mangold und Qualtinger gleich verbunden: „Nach dem Krieg haben wir gemeinsam eine Nazi-Villa besetzt, grundsätzlich jede Nacht zum Tag gemacht; geschlafen haben wir so gut wie nie. Existenzialistisch waren wir auch.“

Kobalek.
Der vielleicht engste Freund, den Helmut Qualtinger hatte, hieß Otto Kobalek, er war Happening-Künstler und selbst ernannter „Arbeiterdichter“. Auch er ging im „Gutruf“ ein und aus – und war, wenn man den vielen kursierenden Legenden trauen darf, ein Selbstdarsteller und Wortwitzkünstler, der an guten Tagen selbst Qualtinger das Wasser reichen konnte.

Merz.
Was für ein Glück, an der Seite Qualtingers arbeiten zu dürfen, aber auch: Was für ein Pech! Denn aus dem Schatten dieses nicht nur körperlichen Großkalibers zu treten war neben Carl Merz auch anderen Kollegen unmöglich. Ob der Mitautor des „Herrn Karl“ das Zeug gehabt hätte, in einer anderen Zeit Karriere eigenen Rangs zu machen, lässt sich rückblickend schwer sagen. Gemeinsam mit Qualtinger hat er jedenfalls österreichische Kulturgeschichte geschrieben – wenn auch als Nummer zwei.

Nationalsozialismus.
Der NS-Terror, den er selbst noch erlebt hatte, war das giftige Zentrum in Qualtingers Arbeit. Spät in seinem Leben wagte er sich noch daran, die Rhetorik in Hitlers „Mein Kampf“ in einer Serie von Lesungen zu entlarven. André Heller: „Helmut hatte etwas, das ich bei einem Nichtopfer des Nationalsozialismus nur sehr selten derart ausgeprägt sah: einen geradezu tobsüchtigen Ekel vor dem Faschismus und dem mörderischen Hitlerdreck. Er litt quälend unter seinem Nazi-begeisterten Vater – und wurde zum ersten radikalen Achtundsechziger, lange vor 1968.“

Travnicek.
Vermutlich wäre Qualtinger nie als Travnicek ins Scheinwerferlicht getreten, hätte er geahnt, wie beharrlich ihn die Rolle verfolgen würde. Im Urlaub war ihm ein Österreicher aufgefallen, der sich ständig über das Fremde in der Fremde beschwerte. Als Wiedergänger dieser Nörgelnatur ließ sich Qualtinger von Gerhard Bronner ins Gespräch verwickeln. Mit dem Ergebnis, dass bald alle, die ihm auf der Straße begegneten, den Travnicek sehen und hören wollten, wahlweise auch den „G’schupften Ferdl“, einen ähnlich hartnäckigen Verfolger.

Todesgefühl.
Das Morbide war in Qualtingers Weltbild nicht bloß ein wohlfeiles Wiener Kunstmittel. Seit seinen frühen Jahren schon begleite ihn eine Art Todesgefühl, gab er lakonisch in den siebziger Jahren zu Protokoll. Natürlich fürchte er sich vor dem Sterben, sagte er noch, aber fremd sei ihm der Tod schon lang nicht mehr.

Umarmung.
Das Lachen blockierte bei Qualtingers Auftritten oft Erkenntnis und Einsicht. Am meisten wunderte sich wohl der Künstler selbst darüber, dass jemand wie er, der Missstände mit einer solchen Schärfe benannte, vom Publikum verehrt und umschmeichelt wurde: Er halte den Leuten den Spiegel vor, aber sie würden sich darin nicht erkennen. Von fast allen wurde er umarmt, auch von Politikern. Womöglich wollten sie damit ja auch der von Qualtinger geäußerten Kritik die Luft abdrücken.

Verstellung.
Qualtingers Lust an der Sprache grenzte ans Manische, seine leidenschaftliche Imitation fremder Dialekte und Gesten an den schleichenden Verlust des Selbst. Er wich in andere Existenzen und Kommunikationsformen aus, um sich selbst nicht ausloten zu müssen. Der unverstellte Qualtinger dürfte, wie dessen Freunde übereinstimmend berichten, ein grundsympathischer Zeitgenosse gewesen sein. Heribert Sasse beispielsweise attestierte Qualtinger, mit dem er am Wiener Schauspielhaus um 1980 Theater gemacht hatte, in einem profil-Gespräch nichts als „Wärme, Höflichkeit, Sensibilität“.

Vorbilder.
Um „ambitionierte Menschen“ machte Qualtinger einen Bogen, lieber sprach er mit Leuten, die etwas zu erzählen hatten, das ohne Effekthascherei auskam. Hannes Hoffmann, der Besitzer des „Gutruf“, war so ein Fall. Seine Geschichten gingen in die Figur des Herrn Karl ein. Ferner stand ein gewisser Herr Jerschabek Pate, der die Alkoholreste aus fremden Gläsern trank. Außerdem erfuhr Qualtinger von einem Herrn Max, der im Keller eines Delikatessenhandels seine Nazi-Vergangenheit breitgetreten haben soll. Aus fremden Wesenszügen formte Qualtinger schließlich die Kultfigur des Magazineurs Karl, die mindestens so wahrhaftig wirkte wie ihre Vorbilder.

Wien.
In Wien könne man es nicht aushalten, aber woanders auch nicht, sagte Qualtinger. Daher gefiel ihm seine Heimat am besten, wenn er nicht daheim war. Wenngleich er Wien von Deutschland aus schön fand, zog es ihn immer wieder zurück nach Österreich, womöglich um nachzusehen, ob seine Sehnsucht inzwischen gerechtfertigt war. Nein, Wien war sich leider treu geblieben: „Wer nicht ins Kulinarische gegangen ist, hatte keine Chance.“

Zukunft.
Als Teddy Podgorski Anfang 1970 für den ORF eine inszenierte Straßenumfrage zur „Zukunft Österreichs“ startete, hatten all die Mittelschullehrer, Gastarbeiter, Großunternehmer, Beamten und Klofrauen, die er vor die Kamera bat, dasselbe Gesicht: jenes Helmut Qualtingers. Prophetisch ist da nahezu jedes Wort und jedes Bild: Der Wiener Politiker, der aus seiner Limousine steigt, ähnelt Michael Häupl fast bis aufs Haar. Was war das? Noch Kabarett? Medienkunst? Eine Serie von Performances? „Qualtinger hatte eben keine eindeutige Profession“, sagt André Heller noch. „Er war eine eigene Solitär-Spielklasse. Man kann doch nicht sagen, der Qualtinger sei ein Kabarettist gewesen! Er war der Qualtinger! Eine funkelnde Insel des Geistes, des Witzes und des Aberwitzes."

Video: Helmut Qualtinger - Der Herr Karl