So schön gemütlich hier

Retro-Industrie: So schön gemütlich hier

Retro-Industrie. Der neue Fetisch Idylle

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Sie lesen Magazine wie „Landlust“ oder „Servus“, sie backen sonntags Blechkuchen nach Omas Rezepten, sie legen sich knarrende Dielenböden in die Penthousewohnungen, sie tragen wieder Manschettenknöpfe, ihre Aktentaschen sind aus abgewetztem Leder, und in der Garage steht ein Oldtimer: Hauptsache authentisch. Gemütlichkeit, Gestrigkeit, Retro – die Mode hat einen neuen Fetisch, und der heißt Idylle.

Konsumforscher sprechen inzwischen vom „weiträumig konservativen Zeitgeist“ und vom Modetypus „Idyllianer“. Manchmal kommt er „ökologisch“ daher und trinkt klebrige Bionade, Mate, Smoothies, Natursäfte aller Arten – nur nach Moderne, nach Industrie und Massenproduktion darf es nie schmecken. Es gilt: Kokosnuss statt Coca-Cola. Dann wieder kommt er „wertebewusst“ daher und achtet auf die Qualität der Schurwolle und die Herkunft der Kaffeebohne, die Baustoffe müssen wieder Stein und Holz und Stahl zeigen, aber niemals Kunststoff.

Konservative und Ökologen treffen sich in ihrem Sparsamkeits-, Sicherheits- und Verlangsamungsreflex. Sie nennen es „Nachhaltigkeit“ und reden über die „Idyllisierung“ ihrer Welt im Modus einer immerwährenden Gutenachtgeschichte. Und das erfolgreich: Es gibt keinen Kaffee, keine Bankbilanz und keine Fußcreme mehr, die nicht nachhaltig-natursanft-authentisch daherkäme.

Und während inzwischen eine ganze Idylle-Industrie daran arbeitet, dass unser kollektiver Marsch in eine Landlust, in der wir fröhlich Unkraut jäten, Antiquitäten aufpolieren und unsere Welt als Museums­attrappe aufbereiten, eine tolle Sache sei, breitet sich in Wahrheit eine fortschrittsfeindliche Alltagskultur aus.

Hinter der Sehnsucht nach dem Idyll steht nämlich ein stiller Protest gegen die Raserei der Moderne. Der Globalisierungskapitalismus bringt derart schnelle Veränderungen mit sich, dass die Menschen kaum mehr mitkommen. Sie brauchen Oasen der Erholung, sie sehnen sich nach der Geborgenheit einer Welt, die einfach so bleibt, wie sie ist. Die Bergalm ist ein solcher Ort der Zeitlosigkeit, der Sperrigkeit gegen den Veränderungswahn. Je schneller die Welt der Moderne sich dreht, je hastiger neue Smartphones und noch schnellere Chips und noch größere Düsenjets und noch coolere Lounges gebaut werden, desto größer wird die Sehnsucht nach der Alm und der Hütte und dem darin stinkenden, knisternden Oma-Ofen der Gemütlichkeit.

Es steckt in dem Retro-Reflex also auch ein gutes Stück Technikfeindlichkeit. Denn diese ist nicht nur Ausgeburt der kapitalismuskritischen Linken oder der toskanaseligen 68er-Generation. Das konservative Bürgertum ist der eigentliche Nährboden der neuen, postmodernen Verweigerung, Adorno und Horkheimer bekommen posthum Recht. Die Dialektik der Aufklärung lässt Anthroposophen-Schulen boomen und homöopathische Medizin mitten im Bürgertum erblühen.

So misstrauen auch immer weitere Kreise der Gesellschaft der industriellen Nahrungsmittelproduktion. Sie sehnen sich nach vermeintlich „natürlichem“ Essen. Dass dabei die Keimbelastung erschreckend hoch, die Gesundheitsrisiken gewaltig und die Erträge viel zu niedrig sind, stört die Idyllianer kaum mehr. Mögen die Menschen doch verhungern, sie wollen lieber Tomaten vom Ökohof. Und so schwappt die Bio-Welle in unsere Supermärkte, wobei inzwischen alles, was irgendwie Luft und Sonne gespürt hat, heute die Etikette „bio“ verpasst kriegt und ­militant verteidigt wird. Während die außereuropäische Welt mit Gen-Food Milliardengeschäfte macht und die Weltmärkte erobert, fackeln unsere Umweltaktivisten noch jeden Versuchsacker ab.

Nun wäre das Ganze amüsant, wenn es eine vorübergehende Wohlstandsmarotte, ein Entschleunigungsreflex, gewissermaßen das erleichternde Bäuerchen nach dem Trunk der Moderne bliebe. Tut es aber nicht. Die Postmoderne gräbt sich als mentales Raster tief in Europa ein. Inzwischen wird die Grundakzeptanz des Naturwissenschaftlichen untergraben – vom einstigen Heldenmythos eines Daimler, eines Sauerbruch, eines Schliemann oder Humboldt ganz zu schweigen. Welcher Junge will heute noch Lokomotivführer, Ingenieur oder Astronaut werden? Pferdeflüsterer und Popsternchen sind die zeitgemäßen Leitbilder. Die Moderne wird schon im Kinderzimmer verloren. Oder erzählt jemand als Gutenachtgeschichte die sagenhafte Reise der CERN-Teilchen von Genf? Anstatt Plastikroboter bekommen unsere Kinder das naturhölzerne Schaukelpferd vom Urgroßvater geschenkt. Dabei dachte just dieser ganz anders. Unsere Urgroßväter stellten ihren Kindern Miniatur-Dampfmaschinen und Spielzeug-Eisenbahnen ins Spielzimmer – als Zeugnisse einer optimistischen Fortschrittsedukation. Wir dagegen lassen sie regressiv mit Natursteinen Zierrat herrichten, auf dass sie mit zwölf vielleicht ihren Namen tanzen, aber den Chemiebaukasten nicht bedienen können.

Ernst Jünger rief einst noch aus:
„Die Technik ist unsere Uniform.“ Wir haben diese Uniform abgelegt und schleichen lieber im Nachtgewand der Vormoderne umher. Von der Gentechnik über die Kernenergie bis zum Flugzeugbau erreicht der Ablehnungsaffekt jede Großtechnologie. Wenn wir Europa dieser Tage siechen sehen, beklagen wir gern die reformunfähige Politik und ihren Schuldenwahn. In Wahrheit lähmt auch unser eigenes Bewusstsein einen kraftvollen Fortschrittsimpuls. Europa ist im ausgehenden 19. Jahrhundert stark und später reich geworden durch seine Konzen­tration technischer Intelligenz. Das Tüftler­ethos, der Erfindergeist, die Maschinenbauerei waren Kerntugenden unseres industriellen Aufstiegs. Heute werden sie zu Relikten regionaler Heimatmuseen degradiert.

Der Aufstieg der Idyllianer zeigt deutlich: Unser Verhältnis zu Technik und Fortschritt, zur Wissenschaft, zu echter Leistung, zum Entdeckertum ist gestört. Andere Nationen – allen voran die Amerikaner – feiern Weltraummissionen oder technische Durchbrüche mit dem Bewusstsein des Heroischen. Wir nicht.

Wie auch, wenn wir die Naturwissenschaften zum Abwahlfach an den Schulen degradieren, wenn wir Flittchen und Fußballer zu Helden erklären, nicht aber unsere Wissenschafter und Erfinder, wenn wir das Land lieber mit Windmühlen zustellen, als die Kernfusion zu erforschen. In unseren Familien werden Fernsehen, Internet und Computer als Übel der Gegenwart stigmatisiert und von Kindern möglichst ferngehalten. Dabei sind sie grandiose, mächtige Instrumente der Moderne.

Insofern ist der Aufstieg der Idyllianer ein dramatisches Indiz für die Fortschritts- und Selbstzweifel der Europäer, die ihre Zukunft lieber im Gestern wähnen. Wir Europäer haben das amerikanische Jahrhundert noch überlebt wie ein schwer verwundeter Großvater im Ledersessel der abendländischen Villa, die er einst selbst erbaute, die er aber nicht mehr beleben kann. Die Vitalität Amerikas hat uns belustigt, wie arrogante Alte sich über die Kraft der Jugend belustigen. Inzwischen haben wir kapituliert, denn wir wissen, ein Comeback Europas als prägende Weltmacht wird es nicht mehr geben. Wir verfolgen mit großen Augen den Aufstieg Chinas, In­diens und anderer Mächte, die unsere Zukunft definieren, aber nicht mehr wir die ­ihrige.

Und es ist inzwischen auch klar, dass das Kapital und die ­Intelligenz und die Macht sich woanders sammeln. Denn: Europa läuft dem Wissen davon, Asien aber läuft ihm entgegen. Europa misstraut sich selbst, ja es hasst seine Geschichte, Asien aber liebt seine Zukunft und traut sich alles zu. Kurzum: Europa hat seine Neuzeit hinter sich. Neuzeit nennen wir Europäer seit einigen Jahrhunderten zwar unsere Epoche. Der Dreiklang Altertum, Mittelalter, Neuzeit formierte nicht nur den geistigen Bezugsrahmen unserer abendländischen Zivilisation. Er definierte unsere Zivilisation auch als dynamische. Oswald Spengler beschrieb das Momentum so: „Erst durch die Hinzufügung eines dritten Zeitalters – unserer Neuzeit – auf abendländischem Boden ist in das Bild eine Bewegungstendenz gekommen.“ Der Lauf der zivilisatorischen Dinge ist ein Lauf geworden.

Unsere Kultur definiert sich seither nicht als ruhend und hermetisch, sondern als prozessual. Von den Scholastikern bis zu den Sozialisten, von den Theologen bis zu den Historikern, sie ziehen immer Linien, die von Adam und Homer, von Jesus und Platon bis zu ihnen selbst reichen. Für Herder war diese Geschichte eine Erziehung des Menschengeschlechts, für Kant eine Freiheitsentfaltung, für Hegel entfaltete sich darin der Weltgeist, für Marx befreiten sich die Klassenkämpfer. Die Städtelinie reicht von Babylon, Kairo, Jerusalem über Athen und Rom nach Florenz, Venedig, Lissabon und Byzanz bis nach Paris, Wien, Berlin, London und New York.

Unser Zyklus ist uns immer klar, aber vor allem, dass es ein Zyklus ist. Aus dem Tiefenbewusstsein, dass in der Bewegung die Geborgenheit der Identität liege, haben wir Europäer die Weltgeschichte in eine Dynamik getrieben, die atemraubend gewesen ist. In nur zwei Jahrhunderten veränderten wir die Welt grundlegender als in den 20 Jahrtausenden zuvor. Wir wandelten eine Welt des Seins in eine Welt des Werdens. Wir Europäer haben der Welt die Physiognomie des Werdens gegeben, und unsere Vormachtstellung beruhte darauf, dass wir selber Werdende sein wollten. Fortschritt ist ­daher zum Leitmotiv unseres Strebens geworden. Und so lange die Klügsten Avantgarde sein wollten, passte noch alles zusammen – vom Dreiklang der Herkunft bis zur fortschreitenden, besseren Zukunft. Neuzeit hieß permanent neue Zeiten ­gestalten.

Nun aber nach dem 20. Jahrhundert, in dem Europa so ziemlich alles verloren hat, was es in seinem Kern ausmacht (die Religion, den Glauben an sich selbst, seine politische, wirtschaftliche sowie kulturelle Hegemonie in der Welt und am Ende auch seinen Fortschrittsglauben), hat es sich selber verloren. Im Europa des 21. Jahrhunderts liegt die Neuzeit hinter uns. Wir sind im Wesentlichen Zweifler unserer selbst geworden. Wir zweifeln am Fortschritt, wir zweifeln an der sinnigen Linie unserer Herkunft, wir zweifeln an unserer moralischen und kulturellen Integrität. Wir wollen nicht mehr weiter werden. Wir wollen plötzlich stehen bleiben – im Landlust-Idyll von vorgestern.