Verletzte Gefühle

Elfriede Hammerl: Verletzte Gefühle

Muss ich Verständnis für das Abschneiden meiner Nase aufbringen, wenn ihr Anblick das Spaghettimonster beleidigt?

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Warum nimmt eigentlich niemand auf meine Gefühle und ihre Verletzlichkeit Rücksicht? Es verletzt mich, wenn in Pakistan Mädchen nicht in die Schule gehen dürfen. Es verletzt mich, wenn sie in den Kopf geschossen werden, falls sie öffentlich dagegen Stellung nehmen. Es verletzt mich, wenn in Indien junge Frauen überfallen und zu Tode vergewaltigt werden. Es verletzt mich, wenn im Sudan weiblichen Kindern die Genitalien verstümmelt werden. Es verletzt mich, dass in weiten Teilen der Welt Frauen rechtlos sind. Es verletzt mich, wenn sie eingesperrt werden wie Vieh (gegen dessen Eingesperrtsein wir zu Recht protestieren). Es verletzt mich, wenn ich sehe, wie Frauen verhüllt hinter ihren Gebietern gehen. Es verletzt mich, wenn religiöse AktivistInnen mir erklären, unbedeckte Frauenhaare würden gegen die guten Sitten verstoßen. Es verletzt mich, wenn der Papst zwar vernünftigerweise meint, gute KatholikInnen müssten sich nicht vermehren wie die Karnickel, aber im selben Atemzug Pille und Kondom verbietet.

Meine Gefühle werden oft verletzt. Ich habe allerdings lernen müssen, dass andere Menschen andere Empfindlichkeiten haben als ich, und ich akzeptiere, dass ich nicht ermächtigt bin, meine Auffassung vom Vorrang bestimmter Rechte mit der Kalschnikow durchzusetzen. Ich lebe schweren Herzens damit, dass gesellschaftliche Werte, die ich für unverzichtbar halte, anderswo nicht anerkannt, ja, mit Füßen getreten werden. Ich nehme jedoch zur Kenntnis, dass ich dagegen zwar protestieren, aber nicht gewaltsam eingreifen darf, wenn meine Proteste missachtet werden.

Im Gegengeschäft erlaube ich mir, kein Verständnis aufzubringen, wenn andere ihre verletzten Gefühle zum Anlass für Gewalt und Terror nehmen: Ja, gewaltige Kränkung, in euren Augen, aber nicht in meinen. Haltet euch zurück. Verhaltet euch zivilisiert. Und rechnet nicht mit meiner Empathie, falls ihr euch unzivilisiert verhaltet.

Das sollte einsehbar sein. Aber leider stelle ich fest, dass mir dieser Deal immer wieder verwehrt wird. Ich müsse, heißt es dann, gefälligst verstehen, dass (m)ein Nichteinhalten religiöser Verbote die Gläubigen auch dann provoziert, wenn ich ihren Glauben nicht teile. Anders gesagt: Falls den Gott des Glaubens an das fliegende Spaghettimonster die Zurschaustellung meiner Nase oder aber eine Spaghettimonsterzeichnung von mir angeblich beleidigt, habe ich nicht meinerseits beleidigt zu sein, sondern es einzusehen, wenn mir seine Anhänger die Nase abschneiden wollen. Zwar wird mir zugestanden, dass das Abschneiden meiner Nase an und für sich nicht in den Glaubensgrundsätzen der Spaghettimonsterianer verankert ist, aber würde sie mir abgeschnitten, dann wäre ich zumindest mitschuldig, weil ich die Gläubigen durch mein herausforderndes Verhalten zu dieser Verzweiflungstat getrieben hätte.

Meine Gefühle sind zum Verletzen freigegeben, weil sie bloß Menschen gelten. Das gilt nicht. Erst wenn sie einem Gott gelten, sind sie heilig und dürfen den Anspruch erheben, dass ihre Kränkung einem Verbrechen gleichkommt. Das verstehe ich allerdings schon wieder nicht. Ein allmächtiger Gott wird doch wohl weniger Schutz brauchen als armselige Menschen, und auch seine toten Propheten sind längst in einer Art Leo, sollte man meinen, beim Allmächtigen und von ihm behütet.

Ich respektiere Religionen und ihre Gläubigen. Ich verstehe das Bedürfnis, dem Erdendasein einen tieferen Sinn abgewinnen zu wollen, und auch mich tröstet die Hoffnung, dass dahinter eine höhere Intelligenz wirksam ist, die sich uns vielleicht jenseitig erschließt. Manche brauchen die Vorstellung, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, andere beruhigt der Gedanke an die Zufälligkeit der menschlichen Existenz und an ihr unwiderrufliches Aus. Passt. Jede und jeder nach ihren oder seinen Bedürfnissen. Wer strenger Regeln und Rituale bedarf, soll sie einhalten können. Wer nach dem Mondkalender leben will, soll sich halt nach Blatt-, Wurzel- oder Blütentagen richten. Kein Problem. Aber nur, solange niemand Schwierigkeiten kriegt, weil er es gewagt hat, seine Haare bei abnehmendem (!) Mond (!) schneiden zu lassen. Eh klar? Hoffentlich. Und hoffentlich auch dann, wenn es nicht ums Haareschneiden geht, sondern um, sagen wir einmal: Weinflaschen im Regal ­eines Supermarkts, in dem AnhängerInnen des alkoholfeindlichen Falafelmonsters einkaufen.

Toleranz ist keine Einbahnstraße. Wer Rücksicht auf seine Gefühle für einen wie immer gearteten Gott einfordert, muss auch Rücksicht auf die Gefühle der anderen nehmen, sogar, wenn sie ein Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber Göttern hegen, mag diese Gleichgültigkeit noch so schwer nachvollziehbar sein.

Ich bin gegen Gewalt. Aber wenn ich Verständnis aufbringen soll für gewaltsame Proteste, dann für den Zorn von Unterdrückten, die um ihre Menschenrechte kämpfen. Stattdessen töten Menschen einander zur höheren Verehrung eines Gottes und seines Verkünders. Was für eine Verschwendung. Warum gehen sie nicht lieber auf Barrikaden, damit ihre Töchter angstfrei leben und lernen können?