Liebe zu Hochhäusern und Wasser: Nur ein Grund, warum alle in die Hauptstadt wollen. Tahiri am Lieblingsort der Afghanen an der Donau.

Warum so viele Flüchtlinge nach Wien wollen

Warum so viele Flüchtlinge nach Wien wollen

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Österreich ist für uns das "Heidi-Land“. Wir wachsen mit der TV-Serie auf. Wenn wir uns auf die Flucht nach Österreich machen, haben wir die Bilder des Mädchens im Kopf, wie es über die Alpenwiesen hüpft. Dass Heidi eine Schweizerin ist, habe ich erst jetzt gelernt. Die Hauptstadt des Heidi-Landes, Wien, kennen manche bereits aus dem Internet. Sie haben bei ihrer Vorbereitung die Information gefunden, dass die Stadt seit sechs Jahren weltweit die Nummer eins bei der Lebensqualität ist. Andere, die sich weniger gut vorbereitet haben, hören das spätestens im Flüchtlingslager Traiskirchen. Bei mir ging es nach zwei Tagen in Traiskirchen sofort weiter nach Leoben in der Steiermark. Das war vor eineinhalb Jahren.

Heute lebe ich endlich in Wien, wo die Berge niedriger sind als in Leoben und viel niedriger als bei Heidi. Die meisten afghanischen Flüchtlinge, die ich kenne, leben in Wien oder wollen noch in die Stadt kommen. Und dafür gibt es viele Gründe. Für uns ist Wien die Stadt, in der die Ausländer sind. Wo auch andere Fremde sind, fühlen wir uns weniger fremd. Wenn du neu bist in einem Land, hast du außerdem ständig mit Bürokratie zu tun. Wir stellen uns das so vor: In die Büros der Beamten kommen viele Ausländer. Und wenn wir dann etwas brauchen, verstehen sie uns besser und haben mehr Geduld mit uns als auf dem Land. Denn am Anfang können wir ja kein Deutsch.

Aber die Mindestsicherung ist sicher nicht der Hauptgrund, warum wir nach Wien gehen.

Um Deutsch zu lernen, brauchst du einen Kurs und - noch wichtiger - musst viel sprechen. Das "Ausländer-Deutsch“, das auf den Wiener Straßen gesprochen wird, ist super zum Lernen. Ob Türken, Tschetschenen oder Jugoslawen: Sie verwenden immer dieselben Wörter. In diesem Sprachsystem ohne umständliche Dinge wie Konjunktiv finden wir uns am Anfang besser zurecht. "In der Steiermark verstand ich kein Wort. In Wien konnte ich plötzlich mit allen reden“, hat mir mein Freund Aziz erzählt. Man braucht auch weniger Angst zu haben, unhöflich zu sein. "Tschuldigung“ reicht statt "Es tut mir leid, könnten Sie mir bitte behilflich sein“. Straßendeutsch spricht man in Istanbul, so nennen wir den 10. Bezirk, natürlich öfter als in der Gösser Straße in Leoben. Dort gehen viel weniger Menschen spazieren, und sie sprechen steirischen Dialekt.

An richtige Deutschkurse kommst du in Wien ebenfalls leichter ran. In Leoben habe ich sechs Monate auf einen echten Kurs gewartet. Dann haben mir österreichische Freunde geholfen und mir einen Kurs in Wien besorgt. Also bin ich täglich um fünf Uhr aufgestanden, mit dem ÖBB-Zug in die große Stadt gefahren und am Abend retour.

Als ich dann subsidiären Schutz nach Paragraf 8 bekommen habe, durfte ich nach Wien gehen und wohnte bei einem Freund. Jetzt hab ich sogar eine eigene, kleine Wohnung. Natürlich geht das leichter mit 840 Euro Mindestsicherung. In der Steiermark würde ich mit Paragraf 8 nur 320 Euro bekommen. Da geht sich nicht einmal ein Zimmer aus.

Aber die Mindestsicherung ist sicher nicht der Hauptgrund, warum wir nach Wien gehen. In den ersten Wochen in Wien musste ich zum Beispiel oft zum Arzt. Ich habe auf herold.at gesucht und einen Doktor mit persischem Namen gefunden. Es gibt ja viele Ärzte aus dem Iran in Wien. Persisch, Farsi oder Dari, das ist ja fast dieselbe Sprache in Afghanistan und dem Iran. So konnte ich ihm leichter erklären, was mein Problem ist. Ich bin selbst im Iran aufgewachsen. Sehr viele afghanische Flüchtlinge in Österreich gehören zur Volksgruppe der Hazara. Sie sind zuerst von Afghanistan in den Iran geflüchtet, so wie meine Eltern, und dann erst weiter nach Europa, so wie ich. In Afghanistan und im Iran galten wir immer als Untermenschen, als die letzte Klasse.

Einsamkeit halten sie schwer aus. Auf dem Land ist es viel schwieriger, Leute kennenzulernen, die keine Afghanen sind.

Die meisten Hazara haben in der iranischen Hauptstadt Teheran gelebt. Sie sind die Metropole mit zwölf Millionen Menschen gewohnt. Ein Leben im Dorf können sich die meisten nicht vorstellen. Die Flüchtlinge, die direkt aus Afghanistan kommen, haben eher im Dorf gelebt. Das kennen sie schon. Nun wollen sie in die Stadt. Wenn sie an Europa denken, denken sie an Hochhäuser. Sie lieben Hochhäuser. Sie glauben, dass Europa aus großen Städten voller Hochhäuser besteht - mit dazwischen ein bisschen Heidi-Land. Als ich am Bahnhof in Wien-Meidling privat anderen Flüchtlingen geholfen habe, sagte einer nach dem Aussteigen: "Das soll Europa sein?!“ Er war enttäuscht, dass die Häuser hier so niedrig waren.

Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Afghanen an der "afghanischen Donau“ so wohl fühlen. So sagen wir zu einer Stelle in der Nähe des Donauturms, wo sich die Hazara am Wochenende zum Grillen treffen. Man schaut direkt auf den großen schwarzen Turm, der noch viel höher ist als der Donauturm - und aufs Wasser. Die Afghanen lieben Wasser. Davon gibt es wenig in ihrer Heimat.

Die Afghanen leben in sehr großen Familien, und bei Festen kommen schnell hundert andere dazu. Bei uns genügt ein erster Kontakt, und du landest mitten am Familientisch. In Wien ist es leicht, andere Afghanen zu treffen. Einsamkeit halten sie schwer aus. Auf dem Land ist es viel schwieriger, Leute kennenzulernen, die keine Afghanen sind. Mit unserer weißen Karte für Asylwerber durften wir zuerst nicht in die Disco oder ins Fitnesscenter. Wenn wir im Park saßen, haben uns manche Österreicher böse angeschaut und sich wahrscheinlich gedacht: "Scheiß Ausländer.“ Eine Bekannte, die nach vier Monaten im Notquartier in Wien in ein Kärntner Dorf geschickt wurde, hat mir gesagt: "Ich gehe sicher wieder nach Wien, wenn ich darf. Ich habe viele gute Erinnerungen. Dort sind die Leute viel netter und offener.“ Das liegt vielleicht an der "Massenkultur“ in Wien. Ali, der noch in Graz lebt und sogar Bauingenieur studiert, will auch nach Wien. Wie viele von uns glaubt er, dass die Österreicher nur in Wien auch Ausländer anstellen.

Viele von uns durften im Iran nur Steine auf Baustellen schleppen. Jetzt sind sie hungrig nach Bildung oder wollen ein gutes Handwerk lernen.

Viele von uns durften im Iran nur Steine auf Baustellen schleppen. Jetzt sind sie hungrig nach Bildung oder wollen ein gutes Handwerk lernen. Wir glauben, dass man in Wien leichter eine Lehrstelle findet. Am AMS in der Steiermark hab ich im Computersystem fast nur Jobs in Niederösterreich oder Wien gefunden. Der Betreuer hat mir gesagt: "In Wien gibt es mehr Arbeit für euch.“

Mein Freund Arif ist vor fünf Jahren nach Österreich gekommen. Er war Analphabet und konnte nicht einmal auf Persisch ein Wort schreiben. In Wien hat er Deutsch gelernt, Persisch nachgeholt und kann auch schon besser Englisch als ich. Bald ist er mit seiner Orthopädenlehre fertig. In Wien können wir mit den Öffis überall hin zur Arbeit fahren. Wir haben ja kein Auto. Ein Freund, der schon länger bei Linz wohnt, hat sich sein erstes Fahrrad gekauft und fährt damit überall hin. Er ist anders. Ihm gefällt es in Oberösterreich besser als in Wien. Er sagt: "Wien ist nicht Europa.“ Er ist gerne von möglichst vielen Österreichern umgeben.

In Salzburg soll das Leben auch gut sein, haben mir zwei Afghanen erzählt. Vielleicht kommt ja nach der zweiten Flüchtlingswelle vom Land nach Wien eine dritte, wieder zurück aufs Land. Wenn zu viele Afghanen nach Wien kommen, muss es ja einen Kampf geben um die Jobs, und auf der afghanischen Donau müssen wir uns auch ordentlich zusammendrängen. Und vielleicht sagt die SPÖ im nächsten Jahr dann, dass Wien die Stadt mit der schlechtesten Lebensqualität der Welt ist - damit die Afghanen das daheim lesen und sich eine andere Stadt für ihre Flucht aussuchen.

Murtaza Tahiri ist 23 Jahre alt und flüchtete vor eineinhalb Jahren aus politischen Gründen nach Österreich. Seine Eltern stammen aus Afghanistan, er ist im Iran geboren. Im Juli absolviert er ein Praktikum bei profil. Gecoacht von Redakteur Clemens Neuhold verfasst er Texte auf Farsi, aus denen profil-Geschichten entstehen.

Coaching: Clemens Neuhold