Interview

Alexej Nawalny: „Alle lieben Österreich - Gauner und Diebe besonders“

Alexej Nawalny, Russlands einziger einflussreicher Oppositioneller, über seine zahlreichen Gefängnisaufenthalte, das System Putin und schmutziges Oligarchengeld in Tirol. Das Interview führte profil Mitte 2019, viereinhalb Jahre vor Nawalnys Tod.

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Interview: Simone Brunner

profil: Sie kommen gerade aus dem Gefängnis. Dort haben Sie zehn Tage verbracht, weil Sie an einer nicht genehmigten Solidaritätsdemonstration für einen russischen Investigativjournalisten teilnahmen. Wie geht es Ihnen? 

Nawalny: Großartig, weil ich endlich wieder in Freiheit bin.

profil: Wie waren die Haftbedingungen? 

Nawalny: An einem Gefängnis kann man nichts Gutes finden. Aber es war ja nicht das erste Mal. Es gibt ein Muster der russischen Machthaber: Sie sperren mich für jede x-beliebige Demo ein. Aber wissen Sie was? Alle Häftlinge sind auf unserer Seite - Krawallbrüder, Taxifahrer, Drogensüchtige!

profil: Dass im Gefängnis alle gegen die Staatsmacht sind, ist nicht gerade überraschend.

Nawalny: Es ist schon faszinierend, dass alle Leute in diesem System - bis hin zu den Polizisten und den Aufsehern - sehr kritisch gegenüber dem Kreml eingestellt sind. Das heißt natürlich nicht, dass sie mich deshalb einfach in Ruhe lassen würden. Sie müssen weitermachen, Fälle gegen mich fabrizieren und das Spiel mitspielen.

profil: Wir sollen Ihnen glauben, dass selbst die Gefängniswärter gegen den Kreml sind? 

Nawalny: Das System ist ein einziges Chaos mit sagenhafter Korruption - nichts funktioniert. In dieser Hinsicht funktioniert das heutige Russland sehr ähnlich wie die Sowjetzeit: Einerseits arbeiten alle für das System, zugleich sind sich alle im Klaren darüber, dass dieses System nicht im Dienst der Bürger steht, sondern sinnlos und sogar schädlich ist.

profil: Wie kann man sich Ihren Alltag in diesem System vorstellen? Rechnen Sie ständig mit einer Festnahme

Nawalny: Wir machen im Büro Scherze darüber. Wenn ich eingesperrt werde, kann ich mich darauf verlassen, dass mir einer meiner Kollegen schnell eine Tasche vorbeibringt. Da ist alles drin, was ich für die Zelle brauche: meine Hausschuhe, meine Jogginghose, meine Zahnbürste. Die anderen Häftlinge sind deswegen fast schon neidisch auf mich.

Es ist traurig, wie leicht es ist, korruptes Geld in Europa zu investieren

profil: Vor Kurzem hat Ihr Fonds zur Bekämpfung von Korruption (FBK) ein Video über Andrej Metelskij, den Moskau-Chef der Kremlpartei Einiges Russland, veröffentlicht. Darin behaupten Sie, dass Metelskij Hotels in Tirol und Wien besitze. Für die Dreharbeiten sind Sie auch nach Österreich gereist. Was haben Sie hier recherchiert? 

Nawalny: Ich wusste bereits, dass Wien eine sehr schöne Stadt ist. In Tirol war ich das erste Mal: Es ist überwältigend. Aber es gibt einen Kontrast zwischen der Schönheit der Landschaft und dem, was Russland und russische Beamte dorthin eingeschleppt haben. Ich war dort, um über die abstoßenden, heuchlerischen und lügnerischen Deals eines Putin-Beamten zu recherchieren - eines Mannes, der seit 20 Jahren Abgeordneter ist und vieles aufgekauft hat: hier ein Hotel, dort ein Hotel. Das sind gestohlene Gelder, die von einem europäischen Land angenommen werden, ohne dass irgendwelche Fragen gestellt werden. Metelskij hat nicht einfach eine kleine Hütte gekauft, sondern hohe Kredite von Banken bekommen, die sich offensichtlich nicht an die Bankenregeln gehalten haben. Er ist eine "politisch exponierte Person" ...

profil: ... also ein Politiker oder jemand im unmittelbaren Umfeld eines Politikers, für den strengere Vorschriften bezüglich Geldwäsche gelten als für normale Bürger. 

Nawalny: Deshalb sollte er verschärften Prüfungen im Rahmen dieser Anti-Geldwäscherichtlinien unterliegen. Es ist traurig, wie leicht es ist, korruptes Geld in Europa zu investieren.

profil: Wie können Sie sicher sein, dass schmutziges Geld verwendet wurde, um die Immobilien zu kaufen? 

Nawalny: Diese Frage bekommen wir in Europa ständig zu hören. Als wir das Vermögen des russischen Generalstaatsanwalts Jurij Tschajka in der Schweiz fanden - offensichtlich korrupt angehäufte Gelder -, wurde uns gesagt, wir hätten keine Beweise. Natürlich, einen eindeutigen Beweis hätten wir nur, wenn jemand in Russland sagen würde: "Ja, das sind korrupte Gelder!" Das ist der frustrierende Teil unserer Arbeit: Letztlich scheitert alles an den russischen Behörden, die es ablehnen, diese Vermögen als gestohlen zu kennzeichnen.

profil: Bleiben wir beim Fall Metelskij. Warum glauben Sie, dass er Geld gestohlen hat? 

Nawalny: Metelskij ist ein typisches Beispiel für illegale Bereicherung. Er ist seit 20 Jahren Abgeordneter in der Moskauer Stadtduma und darf deswegen keine Geschäfte machen. Er hat sein Vermögen auf die Familie überschrieben. Später gab er im Zuge eines russischen Gerichtsverfahrens zu, dass er weiterhin die Geschäfte führt. Sogar die russischen Gerichte beschuldigen ihn, Geld veruntreut zu haben. Es gibt ein Verfahren.

profil: Haben Sie im Fall Metelskij die österreichischen Behörden kontaktiert? 

Nawalny: Wir haben uns bis zur Veröffentlichung des Materials nicht an die österreichischen Behörden gewandt. Leider wissen wir, dass viele österreichische Politiker sehr freundschaftliche Kontakte zu russischen Politikern pflegen. Nun werden wir weiterarbeiten und von den österreichischen Banken eine Erklärung verlangen. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es sauberes Geld ist, sind Metelskij und seine Familie "politisch exponierte Personen", und für diese gilt ein spezielles Bankenprozedere, das eingehalten werden muss.

profil: Ob die Geldwäscherichtlinie auch für Regionalpolitiker gilt, ist umstritten. 

Nawalny: Metelskij ist immerhin der Leiter der Moskauer Stadtpartei von Einiges Russland. Da sollte es keine Diskussion geben. Außerdem ist er als langjähriger Abgeordneter selbstverständlich eine "politisch exponierte Person". Wir werden uns jedenfalls an die österreichischen Behörden wenden. Zugleich wollen wir aber auch die österreichische Öffentlichkeit ansprechen. Ich habe große Zweifel, dass die Österreicher Korruption gutheißen - umso weniger, wenn wir an die jüngsten politischen Ereignisse denken, an denen sogar die österreichische Regierung zerbrochen ist.

Alle wissen, dass korrupte Gauner gut und gerne in Österreich investieren

profil: Im Gegensatz zum Ibiza-Skandal wurde der Fall Metelskij in Österreich kaum beachtet. Glauben Sie wirklich, die Österreicher interessieren sich für Korruption in Russland

Nawalny: Das wird einfach hingenommen: Alle wissen, dass korrupte Gauner gut und gerne in Österreich investieren. Es gibt viele Russen, die Immobilien besitzen, in Tirol und anderswo, aber hier wie dort hat das politische Establishment überhaupt kein Problem damit -im Gegensatz zu den normalen Bürgern, wie ich vermute. Wir würden uns natürlich wünschen, dass es eine größere Resonanz gibt. In Russland haben 2,5 Millionen Menschen das You- Tube-Video zu Metelskij angeklickt - es sollten 50 Millionen sein!

profil: Warum steht Österreich bei der russischen Elite so hoch im Kurs? 

Nawalny: Alle lieben Österreich - die Gauner und Diebe eben besonders.

profil: Sie haben zuvor die Freundschaft zwischen manchen österreichischen und russischen Politikern angesprochen. Haben Sie es deswegen vermieden, sich bereits vor der Publikation des Materials zum Fall Metelskij an die österreichischen Behörden zu wenden? 

Nawalny: Natürlich, das war die Überlegung. Im Übrigen ist es mir unerklärlich, warum europäische Politiker - insbesondere aus dem rechtskonservativen Lager - mit Putin befreundet sind. Es widerspricht eigentlich ihrer eigenen Ideologie. Nehmen wir das Hauptthema der rechten Parteien in Österreich: Bei der Frage der Migration ist Putin der liberalste Politiker der Welt. Die Migranten aus Zentralasien strömen nur so zu uns. Dennoch lieben die europäischen Rechten Putin. Das hat wohl finanzielle Gründe.

profil: Am 8. September wird in Moskau ein neues Stadtparlament gewählt. Sind die Recherchen zum Abgeordneten Metelskij und seinen Geschäften in Österreich Teil des Wahlkampfs? 

Nawalny: Klar. Ich kann zwar nicht selbst kandidieren, denn ich bin offiziell ein Verbrecher. (Nawalny wurde 2013 in einem überaus umstrittenen und vermutlich fingierten Prozess wegen Veruntreuung verurteilt und wird deswegen von den Wahlbehörden nicht als Kandidat zugelassen, Anm.) Trotzdem finde ich, dass Personen wie Metelskij im Stadtparlament nichts verloren haben. Ich würde lieber jeden x-beliebigen Kandidaten unterstützen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, das Monopol von Einiges Russland zu brechen. Ich stelle nur eine einfache Frage: Finden Sie es richtig, dass der Moskau-Chef von Einiges Russland der Eigentümer von österreichischen Hotels im Wert von mehreren Millionen Euro ist?

profil: In der Vergangenheit haben die Enthüllungen Ihrer Bewegung zu Protesten in ganz Russland geführt. Kann Druck von der Straße noch etwas bewirken? 

Nawalny: Denken Sie an das Ibiza-Video und seine Folgen in Österreich: Die Öffentlichkeit war entrüstet, die Abgeordneten waren entrüstet, es hat eine parlamentarische Krise gegeben und die Regierung musste abtreten. In Russland wäre so etwas nicht möglich. Es gibt hier keine Gerichte, an die ich mich wenden könnte, und keine Wahlen, bei denen ich abstimmen kann - also keine Mechanismen, die den politischen Konflikt regulieren könnten wie in normalen Ländern. Da bleibt nur der Druck der Straße.

Ich glaube eher, dass sich Putin prinzipiell vor Menschen fürchtet, die sich nicht vor ihm fürchten

profil: Die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" schrieb einmal, Sie seien der einzige Mann, vor dem sich Putin fürchtet. Können Sie sich mit dieser Zuschreibung identifizieren? 

Nawalny: Ich glaube eher, dass sich Putin prinzipiell vor Menschen fürchtet, die sich nicht vor ihm fürchten. Er hat über all die Jahre meinen Familiennamen nie in den Mund genommen. (Auch für staatlichen Medien ist der Name Nawalny tabu, Anm.) Mittlerweile machen sich ausländische Journalisten einen Spaß daraus: Sie stellen Putin eine Frage über mich und warten, welche Umschreibung er sich ausdenkt. Da sagt er dann zum Beispiel "dieser Herr". Ich weiß auch nicht, warum er sich so verhält. Aber es ist offensichtlich, dass er sich vor Kandidaten fürchtet, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen. Das heutige Russland und die Ideologie Putins sind auf Lügen aufgebaut. Das ist sein wichtigstes Instrument - nicht so sehr die Repression, sondern die endlose Lüge.

profil: Sollte die EU oder Österreich Putin isolieren? 

Nawalny: Objektiv gesehen ist das gar nicht möglich. Putin wird immer internationale Probleme schaffen, bei denen die Staatengemeinschaft gezwungen ist, sich an ihn zu wenden. Aber man muss endlich aufhören, Putin als übermächtige, magische Figur zu sehen, wie es in den USA oder in Europa mittlerweile üblich ist. Er ist ein gewöhnlicher, zufällig auf diesen Posten geratener korrupter kleiner Beamter aus Piter (umgangssprachlich für Sankt Petersburg, Anm.). Das sollte jedem europäischen Politiker bewusst sein. Abgesehen davon versucht er, die westlichen Gesellschaften zu spalten: Putin nimmt marginale rechte Parteien, finanziert und unterstützt sie. So ist er zum antieuropäischen Führer Europas geworden. Er unterstützt alle, die gegen den Westen sind - gegen den westlichen Lebensstil und die westliche Zivilisation.

profil: Überschätzen Sie ihn da jetzt nicht selbst? Viele Konflikte in den westlichen und europäischen Demokratien gäbe es auch ohne Putin. 

Nawalny: Natürlich hat Putin die Probleme anderswo nicht selbst geschaffen. Aber er identifiziert in jedem Land bestimmte Themen und fängt an, Salz in die Wunden zu streuen. Das ist eine offensichtliche und auch nicht völlig neue Taktik.

profil: Wie sollte die internationale Gemeinschaft damit umgehen? 

Nawalny: Putin und seine Elite haben keine Ideologie. Sie sind einfach verrückt nach Geld. Das ist der Punkt, an dem sie verwundbar sind, ihre Achillesferse. Deswegen sollte man Putin nicht wie einen großen Ideologen behandeln, sondern wie einen gewöhnlichen kleinen Gauner. Man sollte ihm und den 100 Leuten in seinem Umfeld nicht die Möglichkeit geben, ihre Gelder in Europa zu investieren, in Europa zu leben oder ihre Kinder nach Europa zu schicken. Das wäre die wirksamste Strategie gegen ihn.

profil: Sie sind für verschärfte Sanktionen gegen Russland

Nawalny: Ja - aber nicht so, wie sie heute gehandhabt werden. Welchen Sinn haben Sanktionen, wenn Leute wie Metelskij darauf pfeifen? Es gibt keine einzige Person aus Putins Umfeld, die spürbar unter den Sanktionen gelitten hätte. Viele haben eine europäische Staatsbürgerschaft. Diese individuellen Sanktionen funktionieren nicht. Sie haben eher rituellen Charakter.

profil: Was schlagen Sie vor? 

Nawalny: Man müsste eine Liste der 1000 wichtigsten Putin-Korruptionisten zusammenstellen und aufhören, ihnen Visa für die EU auszustellen. Darin liegt das Paradox: Sie leben bei euch, fahren Ski in Tirol und essen köstlichen Erdäpfelsalat. In Russland erzählen sie uns dann, wie das alte, zauberhafte Europa zugrundegeht und dass wir Russen dagegen kämpfen müssen.

profil: Putin steht in seiner vierten und wohl auch letzten Amtszeit Warum lachen Sie? 

Nawalny: Wieder mal die letzte Amtszeit Putins. 

profil: Sie zweifeln daran, dass Putin abtritt? 

Nawalny: Sie etwa nicht?

profil: Es gibt Spekulationen, wonach er nach 2024 aus dem Präsidentenamt ausscheiden könnte. 

Nawalny: Ich finde es etwas lächerlich, ernsthaft darüber zu diskutieren. Es dreht sich nur um die Frage, wie das juristisch ausgestaltet sein wird: Wird Putin weiterhin Präsident sein oder das Oberhaupt des Staatsrats der Russischen Föderation oder noch einmal Ministerpräsident? Putin sieht sich selbst als eine Art Imperator. Er hat vor, bis zu seinem Tod an der Spitze Russlands zu bleiben. Das ist im Übrigen einer der großen Fehler, die westliche Medien und Politiker machen: ernsthaft darüber zu diskutieren, dass Putin abtreten könnte.

profil: Irgendeine Änderung wird es geben müssen: Laut russischer Verfassung kann auch Putin nur zwei Amtszeiten hintereinander Präsident sein. 

Nawalny: Erinnern wir uns an das Jahr 2008, als er gegen Dimitri Medwedew ausgetauscht wurde. Eine Farce: Vier Jahre später kehrte Putin ins Präsidentenamt zurück. Welche Konstruktion es am Ende sein wird: Putin und sein Umfeld werden die totale Macht ausüben.

Putin wird alles tun, um lebenslang der Führer Russlands zu bleiben

profil: Das klingt nicht gerade optimistisch. 

Nawalny: Putin wird alles tun, um lebenslang der Führer Russlands zu bleiben. Aber das bedeutet nicht, dass es ihm auch gelingen wird. Selbst bei den Gouverneurswahlen verlieren Putin-Kandidaten mittlerweile schon. Zugleich ist die Zustimmung für Putin und Einiges Russland gesunken. Dass zu den Wahlen keine unabhängigen Kandidaten zugelassen werden, ist ein Indiz dafür, dass sie Angst haben. Putin schwebt nicht mehr über den Dingen. Vielmehr strickt er an der Legende, dass es keinen anderen geben kann als ihn. Die Bevölkerung ist unzufrieden. Wenn es um die Wirtschaft geht, sind Putin die Hände gebunden. Die Situation wird sich weiter verschlechtern.

profil: Ihr YouTube-Kanal hat mehr als 2,8 Millionen Follower, die meisten davon junge Russen, viele noch Teenager. Was macht Sie für diese Generation so attraktiv? 

Nawalny: YouTube ist das Medium der jungen Leute. Wenn es ein YouTube für Pensionisten gäbe, würden mehr Pensionisten zu den Protesten kommen. Wir stützen uns auf die Bessergebildeten, die nicht das Regierungsfernsehen schauen, sondern das Internet nutzen und in der Lage sind, Informationen selbst zu analysieren.

profil: Was ist ein realistisches Ziel für eine politische Bewegung wie Ihre? 

Nawalny: Dass wir siegen. 

profil: Was bedeutet das konkret? 

Nawalny: Dass wir den Staat zwingen, ehrliche Wahlen durchzuführen. Bei diesen freien Wahlen werden wir gewinnen.

profil: Ihre politische Karriere haben Sie im rechten Milieu in Russland begonnen, sind immer wieder mit sehr kritischen Worten zu Migration und Ausländern aufgefallen. 

Nawalny: Endlich eine Frage über den Russischen Marsch!

profil: Das ist jene jährliche Demonstration der russischen Rechtsextremen in Moskau, an der Sie in Ihren politischen Anfangstagen teilgenommen haben. Wie stehen Sie heute dazu? 

Nawalny:Meine politischen Ansichten haben sich nicht geändert: Ich bin damals dafür eingetreten, die Migration nach Russland einzuschränken. Das tue ich heute noch. Ich bin nicht einverstanden, dass Zentralasiaten ohne Visum nach Russland reisen können. In diesem Punkt bin ich ein sehr konservativer Politiker. In anderen Fragen betrachte ich mich eher als Liberalen.

profil: Boris Johnson - der wohl demnächst britischer Premierminister sein wird - hat Putin einmal mit Adolf Hitler verglichen. Darf man das? 

Nawalny: Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Ich halte es für sinnlos, historische Parallelen zu ziehen. Hitler existierte in einer bestimmten Epoche, deswegen kann es heute keinen zweiten Hitler geben. Putin stützt sich auf Lügen und setzt Gewalt gegen seine politischen Gegner ein. Er ist heuchlerisch - zum Beispiel, wenn er so tut, als wäre er gottesgläubig, dabei ist er ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei. Ja, Hitler war auch jemand, der seine Ideologie auf Lügen und Korruption gegründet hat. Aber zu sagen, Putin sei wie Hitler, ist eine Übertreibung und nicht richtig.

profil: Die russische Opposition wird immer wieder kritisiert, weil sie es nicht schafft, mit vereinten Kräften aufzutreten. Wo sehen Sie das Problem? 

Nawalny: Es wäre naiv, zu glauben, die russische Opposition sei ein Monolith. Abgesehen davon hat der Kreml die Möglichkeit genutzt, eine Fake-Opposition aufzustellen, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kanalisieren.

profil: Sie selbst haben die vergangenen Präsidentschaftswahlen boykottiert, weil Sie nicht antreten durften. Kritiker sagen, dies habe Putin den Sieg erleichtert. Nawalny: Es gibt Hinweise dafür, dass Millionen Stimmzettel weggeschmissen wurden. Insofern war das eine erfolgreiche Kampagne. Außerdem wissen jetzt viele Menschen, dass die Wiederwahl Putins eine große Fälschung war. Viele Russen haben sich dem Boykott angeschlossen. Damals gab es keine andere moralisch richtige Position.

profil: Sie stellten in den vergangenen Jahren mehrere hochrangige russische Politiker mit Enthüllungen bloß - darunter Ministerpräsident Medwedew oder Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka. Warum haben Sie Putin bislang verschont? Nawalny: Ist das eine ernst gemeinte Frage? Jede unserer Enthüllungen betrifft auch Putin! Medwedew und Tschajka kaufen sich Paläste. Putin braucht das nicht, weil er sich das ganze Land unter den Nagel gerissen hat. Sein System basiert darauf, gestohlene Gelder bei seinen Freunden unterzubringen. Ihm stehen die staatlichen Residenzen zur Verfügung. Er braucht kein Konto bei einer Schweizer Bank, weil ihm die russischen Banken gehören. Eine Enthüllung über Putins Reichtum wäre ungefähr so, als würde man aufdecken, dass Zar Nikolaj II. oder Kaiser Franz Joseph große Vermögen besaßen.

Alexej Nawalny, 43, ist ebenso charismatisch wie umstritten. Einerseits nahm der Jurist und Oppositionelle zu Beginn seiner Karriere regelmäßig an dem von Rechtsextremen organisierten Russischen Marsch in Moskau teil. Seine ersten Schritte in der Politik machte er andererseits bei der sozialliberalen Partei Jabloko. Seit einem Jahrzehnt ist sein Thema fast ausschließlich die Korruption in Russland. Im Jahr 2008 begann Nawalny, Anteile an staatsnahen Unternehmen zu kaufen, um an Aktionärsversammlungen teilnehmen und über Unregelmäßigkeiten berichten zu können. Er startete einen Blog, den er zur Recherche-Plattform "Fonds zur Bekämpfung von Korruption" ausbaute. Zudem gründete er die Partei "Fortschritt". 2011 prangerte er die russische Elite öffentlich als "Gauner und Diebe" an - eine Bezeichnung, die so populär wurde, dass sie sich zu einem der Slogans bei Anti-Putin-Demonstrationen entwickelte. Seinen bisher größten Coup landete Nawalny jedoch 2017 mit einem YouTube-Video über den luxuriösen Lebensstil des Premiers Dmitrij Medwedew, das eine Protestwelle auslöste. Bereits 2013 war Nawalny wegen angeblicher Veruntreuung und Unterschlagung zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Aufgrund dieses Urteils darf der Oppositionelle, der knapp zuvor bei der Moskauer Bürgermeisterwahl auf 27 Prozent der Stimmen gekommen war, für keine politischen Ämter mehr kandidieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) kritisierte das Korruptionsverfahren gegen Nawalny scharf und bezeichnete das Urteil als "willkürlich".

Das Interview mit Nawalny wurde vergangene Woche per Skype geführt.