Mensch des Jahres

Andrej Kurkow: "Die Tage in Kiew sind so katastrophal wie gewöhnlich"

Andrej Kurkow zählt zu den bekanntesten Gegenwartsautoren der Ukraine. Ein Gespräch über Kerzen als Kostbarkeiten, Putins Kriegslüsternheit und warum Russland "am Arsch" ist.

Drucken

Schriftgröße

In "Tagebuch einer Invasion", Ihrer Chronik des russischen Angriffs auf die Ukraine, schreiben Sie, dass die Frage, wie es einem in Zeiten des Krieges gehe, so dumm wie unpassend sei, dennoch müsse man sie stellen. Wie geht es Ihnen?
Kurkow
Durchwachsen. In den vergangenen Monaten sammelte ich neue Erfahrungen und lernte viele Menschen kennen. Wo immer ich mich aufhalte, versuche ich, mit meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten in der Ukraine in Kontakt zu bleiben.
Kiew, so berichtete jüngst eine meiner Kolleginnen aus der ukrainischen Hauptstadt, erlebe wieder einen "schrecklich normalen Tag".
Kurkow
Die Tage dort sind so katastrophal wie gewöhnlich. Sobald es Strom gibt, warten die Menschen in langen Schlangen vor den Bankomaten, um Geld abzuheben. Die Theater haben ihre Aufführungen vom Abend in den Tag hineinverlegt. In die Elektrizität ist jedes Vertrauen verloren gegangen. Die Menschen bauen auf die Sonne und auf Kerzen.

___________________________________________________________________________________________

Stationen seines Lebens

Wolodymyr Selenskyj in Prag 2009

2019, bei der Angelobung als Staatspräsident der Ukraine

Im April dieses Jahres in Butscha, dem Schauplatz von Massakern der russischen Armee

Im Juni dieses Jahres mit Ukrainerinnen, die von russischen Streitkräften aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Wie in Ihrem Roman "Graue Bienen" (2018),in dem der Bienenzüchter Sergej im Kerzenschein die Kämpfe zwischen ukrainischen Kämpfern und prorussischen Separatisten aussitzt.
Kurkow
Kerzen waren vor dem Krieg ein dekorativer Gegenstand in Kirchen, wo sie die Ikonen beleuchteten. Mittlerweile werden Kerzen wie Kostbarkeiten gehandelt. Es soll schon vorgekommen sein, dass sie aus Kirchen gestohlen wurden.
Bertolt Brecht sagte, die Schriftsteller können gar nicht so schnell schreiben, wie die Regierenden Kriege anzetteln.
Kurkow
Jeden Tag passiert Schlimmes. Jede Stunde können neue Verbrechen geschehen. Ich führe mein Tagebuch über den Krieg. Über das Schreiben von Prosa denke ich nicht nach.
Im "Tagebuch einer Invasion" stellen Sie fest, in der Ukraine sei die Zeit der Bücher vorbei.
Kurkow
Dem, der um sein nacktes Leben rennen muss, bleibt keine Zeit mehr zum Lesen von Romanen, allenfalls von Gedichten. Lyrik geht immer! Gedichte sind Emotionen. Zum Schreiben und Lesen von Prosa braucht es Zeit-und die ist in der Ukraine gerade wertvoll.
Die profil-Redaktion wählte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum "Menschen des Jahres".Hätte er auch Ihre Stimme?
Kurkow
Im Ausland ist Selenskyj bekannter als Waleri Saluschni, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Saluschni hätte meine Stimme. Als Kriegspräsident macht Selenskyj gute Arbeit. Er kämpft für die Ukraine, wobei er den Macho besser spielt als Putin, der das ebenfalls jahrelang versucht hat. Putin und Selenskyj verhalten sich zueinander wie Vergangenheit und Zukunft.
Hätten Sie am 23. Februar, am Vorabend des russischen Angriffs auf die Ukraine, von Selenskyj auch so gesprochen?
Kurkow
Ich war nie sein Fan, wählte ihn auch nie. Dazu kommt, dass er sich gern mit Personal umgibt, das zuweilen arrogant wirkt und vor allem eigene Interessen verfolgt. Seit dem 24. Februar aber macht er seine Sache gut. Insofern ist er der "Mensch des Jahres".
Wie eng ist der Krieg in der Ukraine mit Selenskyjs eigener politischer Zukunft verbunden?
Kurkow
Sollte es zu Friedensverhandlungen kommen, wird er Kompromisse akzeptieren müssen-und dann wird er von den Menschen in der Ukraine kritisiert, wenn nicht gehasst werden. Ukrainer und Ukrainerinnen lieben es, emotional zu agieren und zu reagieren! Bisweilen denke ich mir, in der Ukraine werden Politikerinnen und Politiker ohnehin nur gewählt, um verabscheut zu werden. Das wurzelt in der Zeit der Kosaken im 16. Jahrhundert, als die Führer des Landes bestimmt wurden. Nur um kurze Zeit später hässlichen Intrigen zum Opfer zu fallen.
Wie oft haben Sie Selenskyjs russischen Konterpart Putin in Gedanken schon ermordet?
Kurkow
Unzählige Male. Er ist längst tot! Ohnehin beschleicht mich das Gefühl, dass Putin in der russischen Politik nur mehr eine Nebenrolle spielt. Jewgeni Prigoschin, der Gründer der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, ist Russlands neuer starker Mann. Erst gestern schickte mir ein Bekannter ein Foto auf mein Handy: Darauf ist Putin zu sehen, wie er den damaligen US-Präsidenten George W. Bush und dessen Frau empfängt. Prigoschin schickt sich mit einer Flasche Wein in der Hand an, das Trio am Tisch zu bewirten. Die russische Elite von heute hat Prigoschin als den nächsten Präsidenten des Landes akzeptiert.
Putin bedient in seinen Reden gern historische Zusammenhänge. Was ist davon zu halten?
Kurkow
Vor 20 Jahren erwähnte er ständig Ivan den Schrecklichen, den ersten Großfürsten Moskaus, der sich zum Zaren von Russland krönen ließ. Ivan war vor dem Krieg Putins Vorbild. Seit der Annexion der Krim 2014 redet er gern über Peter den Großen. In diesem Zusammenhang ist Putin die Schlacht bei Poltawa 1709 wichtig, bei der Peter gegen den schwedischen König Karl XII. ins Feld zog. Die Schweden erlitten eine Niederlage und flohen vom Schlachtfeld bei der Stadt Poltawa, die in der heutigen Ukraine liegt. Putin will wie sein neues Vorbild die Schlacht in der Ukraine gewinnen. 1720 erließ Peter der Große ein Gesetz gegen die ukrainische Sprache und Identität, es wurde verboten, religiöse Texte auf Ukrainisch zu drucken. Russland führt seit über 300 Jahren Krieg gegen die Ukraine, einen Krieg mit vielen Pausen. Erst jüngst betonte der Vizesprecher der Staatsduma, Russlands Hass gegen die Ukraine sei heilig.
Eine meiner Bekannten brachte die Situation kürzlich folgendermaßen auf den Punkt: Russland, meinte sie, sei "am Arsch". Stimmen Sie zu?
Kurkow
Absolut. Russland war in seiner Geschichte noch nie derart isoliert. Es geht aber nicht nur um Putin und seine Entourage, sondern um die russische Zivilgesellschaft. Zwei Jahrzehnte der Propaganda haben Spuren hinterlassen. Die Sowjetzeit lässt grüßen! Viele richten sich in Russland nach der offiziellen, vom Kreml verlautbarten Wahrheit, wenige verstehen oder wollen wissen, was die tatsächliche Wahrheit ist-weil diese bekanntermaßen durch höhere politische Gewalt verboten ist. Deshalb wird die Wahrheit, die der Kreml verkündet, akzeptiert. Orwell lässt grüßen! Selbst wenn Russen nach Amerika oder anderswohin emigrieren, haben sie oft diese offizielle Wahrheit im Reisegepäck.
Wie funktioniert diese russische Parallelwelt außerhalb Russlands?
Kurkow
Für diese Leute verbreiten die westlichen Medien reinste Propaganda. Es werden Demonstrationen für Auslandsrussen organisiert, in Prag, Berlin, Düsseldorf. Hunderttausende von Putins Patrioten leben über die Welt verstreut, was für jene Länder, die solche Leute als Emigranten akzeptieren, letztlich gefährlich sein kann. Der russische Geheimdienst operiert weltweit. Er kennt offenbar Mittel, um Menschen fernab von Russland unter Kontrolle zu bringen.
Einst feierten Russen im Ausland ihre unverbrüchliche Liebe zu Dostojewski.
Kurkow
Dostojewski ist für sie noch immer der Größte! Gäbe es für diese Leute keinen Dostojewski, mangelte es in der großen weiten Welt völlig an Kultur!
Von Cicero ist der Gedanke überliefert, der ungerechteste Friede sei immer noch besser als der gerechteste Krieg. Was soll die Ukraine machen?
Kurkow
Gottlob bin ich kein Politiker! In der Ukraine hat sich beim sogenannten Euromaidan zwischen November 2013 und Februar 2014 die Zivilgesellschaft gegen die damaligen politischen Eliten erhoben. Ein von Russen diktierter Friede ist für die Ukraine inakzeptabel. Vielleicht werden die westlichen Länder dazu übergehen, weniger Waffen zu liefern, weil weite Teile der Ukraine wieder befreit worden sind. Jede Form von Friedensschluss wird letztlich zu einem politischen Problem Selenskyjs werden.
Im "Tagebuch einer Invasion" schreiben Sie, es gebe keinen Zweifel daran, dass Russland die Ukraine zerstören wolle. Krieg also bis zum bitteren Ende?
Kurkow
Vonseiten Russlands auf jeden Fall. Wenn dem Land genügend Waffen zur Verfügung gestellt werden, wird auch die Ukraine weiterkämpfen.
Im "Tagebuch" zitieren Sie auch ein ukrainisches Sprichwort, wonach derjenige, der lange genug am Flussufer sitzt, den Leichnam seines Feindes vorbeiziehen sieht.
Kurkow
Ich habe leider keine Zeit, am Ufer zu sitzen, sondern muss die Nachrichten verfolgen, um zu wissen, welche neuen Verbrechen gegen die Ukraine begangen wurden.

Andrej Kurkow

Der Schriftsteller Andrej Kurkow, 61, wurde im heutigen St. Petersburg geboren; seine Bücher, die auf Deutsch beim Schweizerischen Diogenes Verlag und im Innsbrucker Haymon Verlag erscheinen, schreibt er auf Russisch. Seit Jahrzehnten lebt und arbeitet Kurkow in Kiew-seit dem 24. Februar ist er auf der Flucht. Ein Romancier, der gegenwärtig nur über den Krieg schreiben kann: "Tagebuch einer Invasion" nennt sich sein jüngst publiziertes Protokoll über Putins Angriffskrieg. "Tagebuch einer Invasion" ist gemeinsam mit "Ukrainisches Tagebuch" (2014), Kurkows Aufzeichnungen über die Proteste auf dem Kiewer Majdan, zugleich Gegenwartschronik und Leidensgeschichte der Ukraine. 

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion.

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald, Haymon. 343 S., EUR 19,90