Arun Chaudhary: Obamas Schatten

Wie ein Einwandererkind aus der Bronx Kameramann von Barack Obama und Bernie Sanders wurde und warum er jetzt einen Politiker im kleinsten Staat des Balkans berät.

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Am Tag seiner Hochzeit bekommt Arun Chaudhary einen Anruf, auf den er seit Wochen gewartet hat: Er hat den Job. Sein neuer Boss ist ein gewisser Barack Obama, Senator im Bundesstaat Illinois. Der hat wenige Monate zuvor, im Februar 2007, bekannt gegeben, dass er an den Präsidentschaftsvorwahlen der Demokraten teilnimmt. Er will Hillary Clinton, die haushohe Favoritin, schlagen. Und Arun Chaudhary, 32, Filmemacher und Bassist einer Punkband, soll ihm dabei helfen.


Zwei Wochen nach den Flitterwochen ziehen Chaudhary und seine Frau Laura nach Chicago. Ihren Freunden in New York erzählen sie, dass sie bald zurück sein würden. "Als Linker war ich daran gewöhnt, dass wir nie irgendetwas gewinnen", erinnert sich Chaudhary. Es sollte ganz anders kommen. Am Wahlabend, dem 4. November 2008, richtet Chaudhary im Grant Park in Chicago die Scheinwerfer ein, während der erste afroamerikanische Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika seine erste Rede hält; vor 240.000 begeisterten Anhängern und vor den Augen und der Kamera von Arun Chaudhary. "Als das Wahlergebnis verkündet wurde, kamen, wie aus dem Nichts, von überall Bodyguards des Secret Service. Plötzlich hatte Obama einen Assistenten, dessen einzige Aufgabe es war, sein Telefon zu halten." An jenem Abend schlafen so viele Freunde in Chaudharys Wohnung, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als die Siegesrede von Obama vom Badezimmer aus auf YouTube hochzuladen. Sie beginnt mit den Worten: "Wenn es da draußen immer noch jemanden gibt, der daran zweifelt, dass in Amerika alles möglich ist, dann ist diese Nacht unsere Antwort darauf."

"First Cameraman"

Die Geschichte von Chaudhary, sie fügt sich ein in das, was Obama in jener Nacht sagt: in die Erzählung vom amerikanischen Traum. Es ist die romantisch verklärte Vorstellung von den USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem ein Tellerwäscher Millionär und ein schwarzer Junge Präsident werden kann. Und in dem der Sohn eines indischen Einwanderers und einer jüdischen Mutter den Job des "First Cameraman" im Weißen Haus antritt, ein Posten, den es davor nie gegeben hat.

Als Kind erzählte Chaudhary seinen Eltern noch, dass er niemals Politiker werden könne, weil niemand wisse, wie man seinen Nachnamen richtig ausspricht. Heute heuern ihn Sozialdemokraten auf der ganzen Welt an, darunter Senator und Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, der inzwischen abgetretene Vorsitzende der britischen Labour-Partei.

Chaudharys eigene Geschichte ist eine Mischung aus beiden Männern. Seine Eltern sind, wie die von Corbyn, keine klassischen Arbeiter, sondern Computerwissenschafter. Seine Vorfahren sind, wie die von Bernie Sanders, Juden, allerdings nicht aus Polen, sondern aus Russland und der Ukraine. Chaudhary kommt 1975 in der Bronx zur Welt, ein dicht besiedeltes und multikulturell geprägtes Viertel von New York. Später ziehen seine Eltern in die Vorstadt nach Yorktown, wo überwiegend weiße Familien leben. Sie glauben, dass ihr Sohn eines Tages Geschichtslehrer oder Jurist wird.

Doch Arun entscheidet sich für einen anderen Weg, studiert Film, arbeitet als Sounddesigner und lehrt an der Universität. "Filme zu machen und der nächste Steven Spielberg zu werden, war nie mein Kindheitstraum", sagt Chaudhary. Filme waren für ihn eine "praktische Entscheidung", weil er darin die Möglichkeit sah, Politik zu machen.

Mit Obamas Einzug ins Weiße Haus bekommt Chaudhary die einmalige Chance dazu: Fortan ist es sein Job, einem der mächtigsten Männer der Welt auf Schritt und Tritt zu folgen. Die einzige Bedingung: Seine Aufnahmen landen im Nationalarchiv und werden zu einem Stück Zeitgeschichte, das irgendwann einmal von Historikern analysiert werden wird.

Die Geschichte von Chaudhary erzählt auch, wie das Internet die Politik verändert hat und in welch schwindelerregend hohem Tempo. Als Obama Präsident wurde, benutzten Politiker noch Blackberrys, und YouTube war gerade einmal zwei Jahre alt. Twitter war damals eine Plattform, "auf der User Fotos von ihrem Essen posteten", sagt Chaudhary rückblickend. Um Videos aufzunehmen, hievte er 35 Kilogramm schwere Taschen in Flugzeuge der U.S. Air Force. Heute reichen ein 200 Gramm leichtes iPhone und 140 Zeichen, um öffentliche Debatten, oder, im Fall von Donald Trump, einen Sturm auf das Kapitol auszulösen.

Chaudhary hält die Kamera drauf


Beim ersten Treffen mit Obama, einem Abendessen mit Sponsoren, versteckt Chaudhary Mikrofone in den Zimmerpflanzen. Später versteht er, dass es nicht um technische Tricks geht, sondern einfach nur darum, dass der Präsident rüberkommt wie der Mensch Barack Obama. Chaudhary hält die Kamera drauf, bevor Obama auf die Bühne geht, am Basketball-Feld, beim Hot-Dog Essen. Dabei lernt er etwas: "Macht spielt sich nicht in der ersten Reihe ab, sondern im schmucklosen Gang hinter der Bühne."

Dort fängt er Momente ein wie diesen: Wenige Wochen nach seiner Wahl fragt President-elect Obama seine Assistentin, wie viele Familienmitglieder er zu seiner Amtseinführung einladen darf. Ob es eine Obergrenze gäbe? Die Assistentin ist perplex: "Sie sind jetzt Präsident, Sir. Sie können keinen einladen oder alle."

Oder diesen: Wenige Stunden nach seiner Wahl will Obama den Bürgermeister von Chicago anrufen, doch er bekommt die Auskunft, dass das frühestens am Nachmittag des nächsten Tages möglich sei. Davor sind 30 wichtigere Leute von Weltrang dran. Nur selten fängt Chaudhary Szenen ein, die er beschließt, nicht zu verwenden. Der weinende Obama, der sich von seiner Großmutter verabschiedet, die einen Tag vor seiner Wahl stirbt. Oder ein Video, bei dem Obama auf einer Dinnerparty wie ein Roboter tanzt. Chaudhary befürchtet, dass sich die Late-Night-Shows des Lan des darüber lustig machen könnten.

Er baut eine freundschaftliche Verbindung zu Obama auf, stellt ihm seine Frau und seine Kinder vor, spricht ihn aber weiterhin mit "Mr. President" an. Wie um sich zu erinnern, dass Obama nicht irgendein Boss, sondern der oberste Repräsentant seines Landes ist.

Nach Obamas Wiederwahl 2012 verlässt Chaudhary das Weiße Haus, um für Scott Goodstein zu arbeiten, einen ehemaligen Digitalstrategen von Obama, der Online-Fundraising für Bernie Sanders betreibt, ein demokratischer Sozialist, der es trotz seines hohen Alters geschafft hat, Millionen junge Linke zu begeistern. "Während Obama Wandel verkörpert hat, steht Sanders für etwas anderes",sagt Chaudhary, "nämlich Beständigkeit."

Während Obama den amerikanischen Traum stolz hochgehalten halt, erklärt Sanders ihn für tot. Weil die Erzählung vom Aufstieg, den Chaudhary noch selbst erlebt hat, für die junge Generation nicht mehr zutrifft. Weil es eben nicht jeder nach oben schaffen kann, wenn er oder sie nur hart genug dafür arbeitet.

Seit April 2020, dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie, lebt Chaudhary in Berlin. Seine Kinder haben deutsche Pässe, weil die jüdischen Vorfahren seiner Frau von hier aus in die USA geflüchtet sind.

Das Europa von heute ist für Chaudhary ein Labor, aus dem Trends auf die USA überschwappen, und nicht umgekehrt. "Ohne Brexit hätte es keinen Trump gegeben", glaubt er. Steve Bannon, Trumps ehemaliger Berater im Weißen Haus, tourte 2019 durch Europa, um Rechtsnationalisten auf dem ganzen Kontinent zum Sieg zu verhelfen. Wenn man so will, dann tut Chaudhary jetzt genau dasselbe, nur für die andere Seite. Doch während Bannon bei den großen Staaten der Union anfing, in Deutschland, Italien und Frankreich, hat sich Chaudhary einem 1,8 Millionen Einwohnerland verschrieben: Kosovo.

Am 14. Februar holte dort eine linke Bewegung namens Vetëvendosje! 48 Prozent der Stimmen, ein Wert, von dem Sozialdemokraten im Rest Europas nur träumen können. Seit zwei Jahren berät Chaudhary ihren Gründungsvater, Albin Kurti, der bald Premierminister des Landes sein könnte.

Und das kam so: Es gibt ein Detail, das man immer wieder hört, wenn man Menschen bittet, an ihre erste Begegnung mit Kurti zurückzudenken: Der langjährige Oppositionelle schindet gerne Eindruck mit den Büchern, die er gerade liest. Bis heute macht unter seinen Anhängern die Geschichte die Runde, wie sich Kurti, abgemagert auf 30 Kilo, Bücher von Jean-Paul Sartre und Bertolt Brecht in seine Gefängniszelle in Serbien schicken ließ.

Im April 1999, kurz nach Beginn der von den USA angeführten NATO-Bombardements auf Serbien, war Albin Kurti festgenommen und nach Požarevac verschleppt worden, die Geburtsstadt seines größten Feindes: Slobodan Milošević. Als Anführer der albanischen Studierendenbewegung hatte er gegen seine Gewaltherrschaft im Kosovo protestiert. Heute profitiert Kurti von beidem - seinem Image als Revoluzzer und seinem Ruf als Intellektueller, der gerne mit Buchzitaten um sich wirft.

Laut Chaudhary trafen sich die beiden 2018 auf einer Konferenz in Griechenland: "Er saß neben mir und begann den französischen Philosophen Pierre Bourdieu zu zitieren." Als die beiden ihre Telefonnummern austauschen, weiß Chaudhary noch nicht, wer genau Kurti ist. Das erfährt er erst viel später, als er dessen Namen in Google eingibt. Ein Jahr später bekommt er einen Anruf. Ob er in den Kosovo kommen wolle, um Kurti im Wahlkampf zu unterstützen? Chaudhary, zu dem Zeitpunkt in Italien, setzt sich in den Flieger und landet kurz darauf zum ersten Mal in Pristina, der Hauptstadt eines kleinen Balkanlandes, das ohne die USA heute nicht existieren würde.

Chaudhary weiß, dass US-Amerikaner dort überaus beliebt sind - keine Selbstverständlichkeit für ein mehrheitlich muslimisches Land. "Über Kosovo heißt es in Washington, dass wir dort, anders als im Nahen Osten, einen guten Job gemacht haben", so Chaudhary. Kurti predigte früher das exakte Gegenteil: Er warf der internationalen Gemeinschaft vor, den Kosovo wie ein Ziehkind zu behandeln, ja sogar auszubeuten. Daher stammt auch der Name seiner Partei. "Vetëvendosje" heißt auf Deutsch übersetzt: "Selbstbestimmung".

Wegen der NATO-Bombardements sind US-Präsidenten unter Albanern überaus beliebt. In Tirana steht eine Statue des früheren US-Präsidenten Woodrow Wilson, in Pristina tragen Straßen die Namen von Bill Clinton und George W. Bush. Vergangenes Jahr wurde im Kosovo ein See nach Donald Trump benannt, laut Chaudhary ein Tiefpunkt in der Geschichte beider Länder. Um einen außenpolitischen Erfolg einzufahren, drängte Trump auf eine schnelle Lösung im Konflikt zwischen Serbien und Kosovo. Kurti, zu jener Zeit frisch im Amt, weigerte sich, Strafzölle gegenüber Belgrad aufzuheben. Nach nur 51 Tagen wurde er per Misstrauensvotum im Parlament gestürzt. Mittlerweile ist bekannt, dass Trumps Sondergesandter, der US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell, Druck auf die Parteien ausübte. In einer Twitter-Auseinandersetzung mit Grenell stellte sich Chaudhary damals demonstrativ auf die Seite Kurtis. Auf Instagram postete er Bilder, die Kurti in rührseliger Pose neben seiner Frau und ihrer kleinen Tochter zeigen: "Ein ikonisches Foto der First Family im Kosovo", schreibt er darunter. Versucht Chaudhary, die Obama-Marke zu exportieren?

Manchmal das Richtige tun


Auf die Frage, warum er sich für Kurti einsetzt, sagt er: "Weil ich von Vetëvendosje ! viel lernen kann." Oder: "Weil ich es mir manchmal leiste, das Richtige zu tun."

Tatsächlich ist Kurti mit einem klassischen Bernie-Sanders-Sozialprogramm angetreten: eine staatliche Gesundheitsversicherung, ein höherer Mindestlohn, bessere Arbeitnehmerrechte. Gleichzeitig ist Kurti ein Mann, der früher lauthals die Angliederung des Kosovo an Albanien forderte. Seine Anhänger warfen Steine auf Fahrzeuge der EU-Rechtsstaatsmission EULEX. Seine Abgeordneten versprühten Tränengas im Parlament, um die Abstimmung über unliebsame Gesetze zu boykottieren.

Dieses Image als radikaler Straßenkämpfer und nationalistischer Redner will Kurti jetzt loswerden. Als Premier eines kleinen Landes, das bis heute nicht von allen UN-Mitgliedsstaaten anerkannt wird, ist er auf die traditionellen Alliierten im Westen angewiesen, insbesondere auf Joe Biden, den neuen Präsidenten im Weißen Haus. Ein Mann wie Chaudhary kommt da wie gerufen.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.