"Dann bin ich tot“: Bericht einer Flucht aus Lybien

"Dann bin ich tot“: Bericht einer Flucht aus Lybien

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Immer, wenn Mohammad Kazakji aufs Meer hinaus schaut, überfällt ihn die Erinnerung. Dann wendet er den Blick ab, um den Bildern zu entkommen, die ihn verfolgen. Alles sehe er dann plötzlich vor sich, sagt er, alles, was sich in den Morgenstunden des 11. Oktober 2013 vor seinen Augen ereignet hat. Mehr als 200 Menschen starben rund um ihn. Eltern konnten ihre Kinder nicht retten. Manche wurden verrückt vor Verzweiflung. An diesem Morgen erreichte Mohammad Kazakji sein Ziel: Europa. Der Tag der Ankunft nach einer monatelangen Reise hätte sein glücklichster hätte sein sollen. Es war der entsetzlichste.

Mohammad Kazakji, 24, schwarzes Haar, ernstes Gesicht, schmächtige Statur, ist ein gelernter Elektriker aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Er erzählt, was an diesem 11. Oktober geschehen ist, und er möchte, dass seine Schilderungen öffentlich gemacht werden. Den Toten und ihren Angehörigen hilft das nicht mehr, aber die Welt, vor allem die EU, soll wissen, was an ihren Grenzen passiert. Kazakji leitet daraus keine politischen Forderungen ab.

Sollte etwas passieren, bin ich wenigstens allein. Dann bin ich tot.

Wie alle, die in dem zweigeschossigen Gebäude in der Hafenstadt Zuwara, im äußersten Nordwesten Libyens, zusammengepfercht waren, wusste auch Mohammad Kazakji, dass die letzte Etappe seiner Reise die gefährlichste sein würde. Wenige Tage zuvor, am 3. Oktober, war vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa ein mit über 500 Flüchtlingen besetztes Schiff gesunken, rund 390 von ihnen ertranken. Das YouTube-Video des Unglücks verbreitete sich in Zuwara rasch. Mohammad rief seinen Onkel an, bei dem er in der libyschen Stadt Misrata einige Monate untergekommen war. Der hatte ihn gebeten, seine Familie mit nach Europa zu nehmen - seine Ehefrau, die 75 Jahre alte Großmutter, zwei kleine Kinder, ein Baby. Mohammad sagte dem Onkel, dass er die Verantwortung nicht übernehmen wolle. Der Onkel sah das ein und holte seine Familie ab.

Mohammad selbst änderte seinen Plan nicht. "Sollte etwas passieren, bin ich wenigstens allein. Dann bin ich tot“, dachte er damals. Nur noch diese Überfahrt lag zwischen ihm und einem neuen Leben in Europa. Er war dem Krieg und der drohenden Rekrutierung durch die syrische Regierungsarmee entkommen. Sein Vater hatte ihm ein Flugticket nach Kairo gekauft, von da hatte er sich weiter nach Libyen durchgeschlagen. Jetzt hatte er die nötigen 1000 US-Dollar, die ihm sein Onkel für Elektriker-Arbeiten gezahlt hatte, und er hatte eine Schwimmweste. Noch seien die Wellen zu hoch, sagte der Schlepper, der die 500 Leute täglich informierte. Dann, am Abend des 10. Oktober erhielten sie die Nachricht, sie sollten sich jetzt bereithalten.

10. Oktober, 22 Uhr, Zuwara

Mohammad hat nur die Dinge in einen kleinen Rucksack gepackt, die ihm am allerwichtigsten sind: seinen Pass, ein wenig Geld, seine Schulzeugnisse und einen Nunchaku, eine Schlagwaffe, die bei japanischen Kampfsportarten verwendet wird. Die Schwimmweste zieht er nicht an, sondern trägt sie bei sich.

In Schlauchbooten werden je 15 Leute zu dem Schiff gebracht, das draußen auf dem Meer vor Anker liegt. Es sollte ein großes Schiff sein, hatte der Schlepper versprochen, aber Mohammad erspäht in der Dunkelheit einen Fischerkahn aus Holz. Mohammad erinnert sich an seinen ersten Gedanken: "Es hat einen Motor und einen Kapitän. Wenn wir damit ankommen, ist es okay. Wenn nicht …“ Er verstummt und blickt lange schweigend zu Boden.

Ihr seid ungefähr 260 Erwachsene und ungefähr 100 Kinder.

Als Mohammad den Fischkutter erklimmt, sieht er seinen Freund Yahea, den er aus Damaskus kennt, im Passagierraum. Er fragt ihn, ob er seine Schwimmweste haben möchte, doch Yahea lehnt ab. Mohammad findet einen Platz an Deck und setzt sich auf seine Schwimmweste. Das Boot füllt sich.

11. Oktober, 1 Uhr morgens, an Bord des Schiffes

Die Beladung des Schlepperschiffs ist abgeschlossen. Mohanad Jammo, ein Arzt aus Aleppo, gibt später an, er habe einen der Schlepper gefragt, wie viele Personen an Bord seien. "Ihr seid ungefähr 260 Erwachsene und ungefähr 100 Kinder“, lautete die Antwort. Überlebende der Überfahrt schätzen die Zahl auf mindestens 400 Personen. Mohammad Kazakji meint, es seien wohl 500 gewesen.

Es ist eine finstere Nacht. Kein Mond und keine Sterne sind zu sehen. Das Schiff tuckert hinaus aufs Meer, Ziel ist die knapp 300 Kilometer entfernte italienische Insel Lampedusa.

3 Uhr morgens

Plötzlich nähern sich im Dunkeln "sehr schnelle Boote“, erinnert sich Mohammad. Andere Zeugen sagen, es habe sich um ein einziges Boot gehandelt. Darin befinden sich jedenfalls mehrere mit Kalaschnikows bewaffnete Männer. Afrikaner und Araber, sagt Mohammad. Sie brüllen Befehle in hocharabischer Sprache, behaupten, sie seien die Polizei, und wollen das Schlepperschiff stoppen und zum Umkehren zwingen. Der tunesische Kapitän kontaktiert über Satellitentelefon seine Auftraggeber in Zuwara. Diese befehlen ihm, die Fahrt fortzusetzen.

Mehrere Stunden lang folgt das kleine Boot dem Schlepperschiff. Immer wieder kommt es plötzlich heran, umkreist das Schlepperschiff, und versucht es aufzuhalten. Die Männer schießen erst in die Luft, dann zielen sie auf den Kapitän. Der stellt das Steuer geradeaus und flüchtet unter Deck. Mohammad sieht, wie mehrere Passagiere von den Projektilen getroffen werden. Unter den Flüchtlingen sind mehrere Ärzte, welche die Verwundeten versorgen. Keiner stirbt an seinen Verletzungen.

Mohammad bekommt mit, dass unter Deck Aufregung herrscht. Durch Einschusslöcher in der Bordwand dringt Wasser in das Boot ein. Eine der Pumpen an Bord funktioniert noch. Passagiere beginnen damit zu hantieren.

Gegen 3 Uhr

Die Sonne geht auf. Das Boot mit den Bewaffneten verschwindet. Der Wasserspiegel an Bord steigt. Eine Frau, die im achten Monat schwanger ist, bekommt so schreckliche Angst, dass die Geburtswehen einsetzen. Die Frau eines syrischen Arztes hilft ihr unter Deck. Mohammad sagt, das Baby sei zur Welt gekommen. Gesehen hat er es nicht.

Östliches Mittelmeer. Schiff, 250 Personen an Bord, bittet um Hilfe.

Unter Deck schöpfen Männer mit allen möglichen Gefäßen. Das Wasser steigt dennoch unaufhörlich.

10 Uhr

Der Kapitän weiß, dass sein Schiff Lampedusa nicht erreichen wird. Er fragt die Flüchtlinge, wer von ihnen gut Englisch spricht, um über Satellitentelefon um Hilfe zu bitten. Mohanad Jammo, ein syrischer Arzt, meldet sich. Er wird später angeben, er habe bereits um 11 Uhr das Rescue Coordination Center (RCC) der italienischen Küstenwache in Rom verständigt und die Position des Schiffes durchgegeben. Das RCC in Rom bestätigt diesen Anruf nicht.

12.39 Uhr

Jammo gelingt es nach mehreren Versuchen, Daten an das RCC in Rom zu übermitteln: Koordinaten, ungefähre Zahl und Nationalität der Passagiere, Zustand des Schiffs. Das RCC in Rom informiert das RCC in Malta, dass sich das Schiff im Bereich des maltesischen Search-and-Rescue-Bereichs (SAR) befindet. Das 48 Kilometer entfernte italienische Patrouillenschiff Libra nimmt mit einem Hubschrauber an Bord Kurs auf das Flüchtlingsschiff.

Um 1.34 Uhr gibt das RCC in Rom eine Warnung hinaus: "Östliches Mittelmeer. Schiff, 250 Personen an Bord, bittet um Hilfe auf 34-20-18N 012-42-05E. Schiffe in der Nähe um erhöhte Aufmerksamkeit gebeten, helfen, wenn möglich. Berichte an RCC Rom.“

Doch keines der Handelsschiffe, die sich in weniger als 50 Kilometer Entfernung vom Flüchtlingsschiff befanden, ändert seinen Kurs.

Mohammad hört Jammo sagen, es werde zwei Stunden dauern, bis Hilfe kommt. Noch fühlt er sich sicher. Nur wenige können mithelfen, Wasser zu schöpfen, weil die Passagiere viel zu gedrängt beisammen sitzen. Mohammad kann sich kaum bewegen.

16.30 Uhr

Mohammad bekommt Angst. Die Wellen werden stärker, das Schiff neigt sich gefährlich. Die Passagiere versuchen mittels Gewichtsverlagerung ein Kippen zu verhindern. Einer schreit: "Werft alles über Bord!“ Mohammad schleudert seinen Rucksack ins Meer. Seinen Pass und ein paar Dokumente gibt er in den Rucksack eines Sitznachbarn.

Ein Mann springt ohne Schwimmweste ins Meer.

Mohammad sitzt bereits im Wasser. Bald wird das Schiff untergehen. Er zieht die Schuhe aus.

17 Uhr

Das Schiff sinkt sehr rasch. Mohammads Fuß ist eingeklemmt, es gelingt ihm dennoch, sich zu befreien. Seine Schwimmweste treibt neben ihm, ebenso wie der Rucksack seines Sitznachbarn, in den er seine Dokumente gegeben hat. Mohammad hält sich an der Schwimmweste fest und schnappt den Rucksack.

Viele Passagiere ertrinken sofort, weil sie unter Deck eingeschlossen sind oder weil sie nicht schwimmen können. Die wenigsten haben Schwimmwesten. "Sie hatten keine Chance“, sagt Mohammad.

Mohammad weiß, dass es in der Nähe eines sinkenden Schiffs gefährlich ist. Er versucht wegzuschwimmen und zieht seine Jeans aus, um schneller vorwärts zu kommen.

Ich habe sie weiter schwimmen lassen. Sie haben geschlafen.

Menschen schreien. Mohammad hält eine Frau über Wasser, bis ihr Ehemann kommt. Er sagt, es sei schwierig, sich im Wasser jemand zu nähern, weil die Wellen einen abtreiben.

Ein Ehepaar hält seine neun Monate alte Tochter über Wasser, der Sohn ertrinkt vor den Augen der Eltern.

Zu diesem Zeitpunkt sind Rettungsschiffe auf dem Weg zum Unglücksort. Sie kommen für viele zu spät.

17.51 Uhr

Das maltesische Patrouillenboot P61 trifft am Unglücksort ein, wenige Minuten später ist auch die italienische IST Libra da. Kurz zuvor hat ein Hubschrauber der Libra aufblasbare Rettungsboote abgeworfen.

Mohammad schätzt, dass er eine Stunde im Wasser war, ehe er den Hubschrauber gesehen hat. Wahrscheinlich dauerte es in Wahrheit nicht ganz so lange.

Das Wasser ist kalt. An Mohammed treiben nacheinander zwei Babys vorbei, das Gesicht im Wasser. Er dreht sie um. Ihre Gesichter sind blau.

Mohammad spricht tonlos.

"Ich habe sie weiter schwimmen lassen. Sie haben geschlafen.“

Mohammad beschließt, zum größeren Rettungsboot zu schwimmen. Er weiß nicht mehr, wie lange er dafür braucht. Es sei sehr schwierig gewesen. Er ist der Erste, der das Boot erreicht. Bald kommen andere Flüchtlinge. Einer sucht seinen Sohn. Ein anderer seine Frau. Mohammad muss ihnen sagen, dass er sie nicht gesehen hat. Verzweifelt springen sie wieder ins Wasser.

Ein Mann sucht seine Frau und seine Tochter. Er wird verrückt vor Angst. Er will sich im Wasser umbringen. Es gelingt ihm nicht.

Mohammad selbst sagt, er hätte sich umgebracht, wenn die Familie seines Onkels ihn begleitet hätte und er sie in den Fluten verloren hätte.

Helfer retten Flüchtlinge vor der Küste von Lampedusa.

11. Oktober, 19 Uhr

Die Sonne geht langsam unter. Mehr als 30 Personen sitzen in dem aufblasbaren Rettungsboot. Mohammad hat keinen Platz. Wie andere Männer treibt er im Wasser und hält sich am Boot fest. Frauen weinen. Sie sehen, wie sich die Lichter der Schiffe entfernen.

Mohammad ist überzeugt, dass man sie vergessen hat. Sie finden im Rettungsboot ein Notlicht und geben damit Signale. Mohammad spürt vor Kälte seine Hände nicht mehr. Dann kommt ein Hubschrauber und bald darauf zwei Schiffe, die alle im Boot an Bord holen.

Sie sind gerettet.

Die AFM Malta rettet insgesamt 143 Menschen, die italienische Marine 65. 26 Leichen werden geborgen. Die Zahl der Ertrunkenen wird auf 200 geschätzt.

Dr. Jammo verliert drei Kinder.

Mohammad fragt nach seinem Freund Yahea. Er hatte rote Haare und trug ein grünes T-Shirt. Er ist nicht unter den Überlebenden.

Mohammad Kazkji wird nach Malta gebracht.

12. Oktober und danach

Mohammad Kazakji hat überlebt. Er sagt, er habe Glück gehabt, er hat keine Angehörigen verloren. Sein Nachbar im Flüchtlingslager kann kein Auge zumachen. Er sieht seine Frau und seine Tochter, die ertrunken sind, vor sich. "Du hast uns getötet!“, schreien sie ihn an, "Warum hast du uns nach Europa geschickt?“

Der maltesische Premierminister Joseph Muscat sagt am 12. Oktober: "Wie die Dinge jetzt stehen, errichten wir in unserem Mittelmeer einen Friedhof.“ Malta fühlt sich von der EU im Stich gelassen.

Die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International“ sammelt in ihrem Bericht "Lives adrift“ ("Dahintreibende Menschenleben“) aus dem Jahr 2014 Informationen über Bootsunglücke von Flüchtlingen im Mittelmeer und erhebt darin Vorwürfe wegen mangelnder Bereitschaft der Europäischen Union, ausreichende Rettungsmaßnahmen zu organisieren. Daran hat sich seither wenig geändert. Zwar gibt es immer wieder Berichte, wonach Einsatzkräfte etwa allein am 28. September dieses Jahres 1151 Flüchtlinge in Seenot gerettet haben. Doch die EU-Mission "EU Navfor Med“, die in diesem Jahr gestartet worden ist, zielt vor allem auf die Jagd nach Schleppern ab. Amnesty International verlangt sichere Routen, damit Menschen wie der Syrer Mohammad Kazkji, denen die Gewährung von Asyl so gut wie sicher ist, nicht lebensgefährliche Überfahrten auf sich nehmen müssen.

Mohammad Kazakji will zunächst nicht auf Malta bleiben. Er schlägt sich über Italien, Frankreich und Belgien in die Niederlande durch und stellt dort einen Asylantrag. Wegen der Dublin-Verordnung wird er nach Malta zurückgeschickt und bekommt da subsidiären Schutz und ein Aufenthaltsrecht zugesprochen. Er arbeitet als Elektriker und schickt Geld nach Hause. Er ist Malta dankbar dafür, dass man ihn gerettet hat. "Wäre ich gestorben, wäre meine Mutter auch gestorben“, sagt Mohammad.

Würden Sie die Fahrt über das Mittelmeer noch einmal antreten, Mohamad Kazakji?

Der junge Mann mit dem ernsten Gesicht denkt lange nach. Dann sagt er: Nein. Er würde lieber zurückgehen. Wohin, kann er nicht sagen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur