Concordia-Preis

Der Mann aus Nirgendwo

Diese Geschichte erschien am 15. Dezember 2019 und wurde nun mit dem Concordia-Preis für Menschenrechte ausgezeichnet.

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Von Robert Treichler, Emran Feroz und Sayed Jalal Shajjan

Zwei Mal wurde er bereits nach Afghanistan abgeschoben, zwei Mal ist er nach Österreich zurückgekommen. Seine Nationalität ist ebenso unklar wie sein Name. Eine Geschichte über eine List, eine verlorene Seele und die Grenzen des Rechtsstaates.

Hinter der Plexiglasscheibe im Besucherraum des Polizeianhaltezentrums Hernalser Gürtel im 8. Wiener Gemeindebezirk sitzt ein junger Mann - etwa 170 Zentimeter groß, sportliche, muskulöse Figur, schwarze Haare. Er trägt eine graue Weste, eine schwarze Hose und eine Schirmkappe mit dem Logo "NY", tief ins Gesicht gezogen. Sein Vollbart ist nur über der Oberlippe abrasiert. In der Liste der Schubhäftlinge, die im Anhaltezentrum untergebracht sind, wird der Mann unter dem Namen "Yusuf M. A." (voller Name der Redaktion bekannt) geführt. Ob das sein richtiger Name ist, steht jedoch nicht fest. Eine Zeit lang gab er an, "Mohammad Mohammadi" zu heißen. Unklar ist außerdem, woher er ursprünglich kommt, welche Nationalität er hat, wo er sein bisheriges Leben verbracht hat und wie er nach Österreich gekommen ist.

Yusuf, wie er hier genannt wird, bekommt keine Besuche. Den Behörden wäre es am liebsten, er würde verschwinden, irgendwohin, möglichst weit weg. Doch der Fall dieses Mannes ist ein ganz besonderer. Der Versuch, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, nimmt einen mit auf eine Reise durch Afghanistan, Tadschikistan, Tschetschenien, Russland und noch ein paar andere Länder bis nach Österreich. Auch wenn man hinterher nicht sagen kann, welcher Teil der Route echt und welcher erfunden war, so erfährt man unterwegs sehr viel über die Verlorenheit und das Ausgeliefertsein; über Wege, die in den Abgrund führen oder sich im Dickicht der Lüge verlieren; darüber, wie Behörden reagieren, wenn sie in die Irre geführt werden. Und schließlich steht man vor der Frage, was mit jemandem geschehen soll, der alles falsch gemacht hat und aus eigenem Verschulden in der Patsche sitzt - und welche Rechte so jemand hat.

"Ich habe Angst, im Krieg getötet zu werden"

Am Nachmittag des 16. Oktober 2015 macht in Wien ein halbwüchsiger Junge mit schwarzem Haar in der Gasse, in der er wohnt, einen Spaziergang. Plötzlich tauchen zwei Polizisten vor ihm auf und fragen ihn nach seinen Papieren. Da er sich nicht ausweisen kann, nehmen ihn die Beamten mit auf das Wachzimmer. Der Junge nennt seinen Namen ("Mohammad Mohammadi"), seine Geburtsdaten ("1. Januar 1999, Kunduz") und seine Nationalität ("Afghanistan"). Und er sagt: "Asyl." Zwei Tage später wird Mohammad Mohammadi einer sogenannten Erstbefragung im Rahmen des Asylverfahrens unterzogen. Der Minderjährige gibt an, Dari zu sprechen, eine in Afghanistan gebräuchliche Variante des Persischen. Ein Dolmetscher wird beigezogen. Er sei noch ein Kleinkind gewesen, als er mit seinen Eltern Afghanistan verlassen habe, sagt Mohammad. Die Familie habe sich in Tadschikistan niedergelassen. Nach dem Tod seiner Eltern sei er allein gewesen und mithilfe eines Bekannten schließlich nach Österreich gekommen. In seine Heimat Afghanistan könne er keinesfalls zurückkehren, sagt Mohammad laut Befragungsprotokoll: "Ich habe Angst, im Krieg getötet zu werden. Außerdem weiß ich nicht, wohin ich gehen soll."

Zu diesem Zeitpunkt gleicht die Geschichte des minderjährigen Asylwerbers noch denen von Hunderten anderen. Mohammad wird in einer Betreuungseinrichtung untergebracht und erweist sich als schwieriger Fall. "Nichtbeachtung der Nachtruhe", "Verlassen der Betreuungseinrichtung außerhalb der offiziellen Eingänge", "Störendes und unzumutbares Verhalten" wird gemeldet.

Am 17. August 2017, nicht ganz zwei Jahre, nachdem er in Wien aufgegriffen wurde, erhält Mohammad einen negativen Bescheid: Sein Asylantrag wird abgewiesen, subsidiärer Schutz nicht zuerkannt. Er soll nach Afghanistan abgeschoben werden. Dagegen legt er Berufung ein. Mohammad scheint inzwischen ein wenig Tritt gefasst zu haben. Er hilft freiwillig in einem Altersheim der Caritas im oberösterreichischen Leonding aus, belegt mehrere Deutschkurse und erlangt schließlich das Sprachzertifikat Niveau A2. Außerdem trainiert er Kickboxen in einem Verein in Steyr.

Doch im Jahr 2018 gerät der junge Mann offensichtlich auf die schiefe Bahn. Im Oktober fährt er, ohne einen Führerschein zu besitzen, mit einem Auto und beschleunigt, als ihn ein Polizist anhalten will. Der Beamte wird dabei am Knie verletzt, Mohammad wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung zu 15 Monaten Haft verurteilt. Es folgt eine weitere Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung. Mohammad ist nun ein straffällig gewordener Asylwerber mit Abschiebebescheid. Die Behörden haben nur noch ein Interesse: den Mann außer Landes zu schaffen, zurück in sein Herkunftsland Afghanistan.

Dann geschieht etwas, das zunächst unerheblich erscheint, die österreichischen Behörden jedoch bis heute beschäftigt. Mohammad Mohammadi stellt während seiner Haft in der Justizanstalt Leoben einen weiteren Asylantrag. Jetzt behauptet er, "M. Yusuf A." zu heißen, am 18. September 1999 in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny geboren und russischer Staatsbürger zu sein. Yusuf, wie er sich jetzt nennt, erzählt, dass man ihn gewarnt habe, als Tschetschene einen Asylantrag zu stellen. Man würde ihn zurück nach Grosny schicken, wo ihn der sichere Tod erwarte. Wenig überraschend glaubt man ihm diese Geschichte nicht.

"Keinen glaubhaften Kern"

Eine "Prognoseentscheidung" ergibt, dass Yusufs zweiter Antrag auf internationalen Schutz "voraussichtlich zurückzuweisen" sein werde. Seine Aussagen bezüglich seiner neuen Identität enthielten "keinen glaubhaften Kern", heißt es in der Begründung. Was immer Yusuf an Fluchtgründen aus Tschetschenien vorbringt, wird als irrelevant betrachtet, da er ohnehin nach Afghanistan abgeschoben werden soll. Yusufs Anträge und Beschwerden werden allesamt abgewiesen, und am 7. Mai 2019 wird Mohammad Mohammadi alias M. Yusuf A. vom Schubhaftgefängnis in Vordernberg abgeholt und nach Kabul geflogen. Man kann den österreichischen Behörden nicht den Vorwurf machen, wissentlich oder auch nur aus Schlampigkeit etwas falsch gemacht zu haben. Sie haben den Fall Mohammadi gemäß ihren Richtlinien geprüft; die Abschiebeentscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt. Der Fall ist ordnungsgemäß erledigt.

Doch bereits am nächsten Tag steigt Yusuf bereits wieder in Wien aus einem Flugzeug. Der Grund für die überraschende Rückkehr aus Kabul bleibt unklar. Aus dem österreichischen Innenministerium heißt es, der Schübling habe Widerstand geleistet. Yusuf hingegen behauptet, die afghanische Polizei habe festgestellt, dass er kein Afghane sei. Er schöpft Hoffnung - allerdings vergeblich, denn die österreichischen Behörden wenden sich an die afghanische Botschaft in Wien, die ein Heimreisezertifikat ausstellt, eine Bestätigung, dass Mohammad Mohammadi alias Yusuf afghanischer Staatsbürger sei. Erneut wird Yusuf abgeschoben und nach Kabul geflogen. Er kommt in einem Hotel unter. Seine Situation erscheint ausweglos.

Doch die Geschichte des Afghanen, der keiner sein will, endet auch hier nicht. Ehe sie weitergeht, soll Yusuf die Lebensgeschichte erzählen, die ihm niemand glaubt. Denn diese Version wird noch eine Rolle spielen, ob sie nun wahr ist oder nicht.

Sie geht so: M. Yusuf A. kommt als Sohn eines tschetschenischen Kämpfers zur Welt. Als Yusuf noch ein Kind ist, fällt der Vater im Kampf gegen die Russen. Die Mutter und einer seiner Brüder sterben ebenfalls. Im Alter von ungefähr acht Jahren wird das Waisenkind von einem Freund des getöteten Vaters nach Moskau mitgenommen. Der Freund heißt Aslan und kümmert sich in den folgenden Jahren um Yusuf. Er sorgt dafür, dass der Bub in Moskau bei einem Paar unterkommt. Als sich dieses scheiden lässt, bleibt Yusuf weiterhin bei dem Mann, der Alexander heißt und damals etwa 50 Jahre alt ist; zumindest schätzt Yusuf das, kann es aber nicht genau sagen. Er würde auch die Wohnung, in der er gelebt hat, nicht wiederfinden. Auch daran, ob er zur Schule gegangen ist, will sich Yusuf nicht erinnern können.

Alexander ist nett zu Yusuf, er kauft ihm Kleidung und gibt ihm immer wieder Geld. Yusuf wäre gern bei ihm geblieben, aber Aslan sagt, das gehe nicht. Alexander weint, als Aslan eines Tages kommt, um Yusuf wieder mitzunehmen.

Aslan reist mit Yusuf nach Weißrussland und von dort weiter nach Polen. In Warschau darf Yusuf die Wohnung nur selten verlassen, damit er nicht entdeckt wird. Aslan möchte den Jungen nach Schweden bringen. Als das aus irgendeinem Grund nicht klappt, ändert er seine Pläne. Schließlich führt der Weg der beiden im Jahr 2014 oder 2015 über Tschechien nach Österreich.

Yusuf teilt mit Aslan und zwei Afghanen und einem Tschetschenen eine Wohnung in Wien. Aslan ist streng zu Yusuf; er verbietet ihm zu rauchen und warnt ihn vor falschen Freunden. Auch in Wien darf Yusuf nur selten auf die Straße. Aslan verlangt von Yusuf, Dari zu lernen, weil er als Afghane im Asylverfahren bessere Chancen habe, bleiben zu dürfen. Unter keinen Umständen dürfe er zugeben, Tschetschene zu sein, beschwört er Yusuf. Die beiden Afghanen bringen Yusuf Dari bei. Würde er Fehler machen, solle Yusuf sagen, dass er in Tadschikistan gelebt habe.

Dann, an jenem 16. Oktober 2015, wird Yusuf von der Polizei geschnappt. Und er lügt, weil Aslan, der ihn jahrelang beaufsichtigte, es ihm aufgetragen hat.

Das ist die Geschichte, die Yusuf heute erzählt. Er beteuert, dass es die Wahrheit sei.

Zurück nach Kabul. Dort, erinnert sich Yusuf, hält man ihn nicht für einen Afghanen, sondern für einen Tschetschenen und deshalb für einen Terroristen. Er lernt einen Einheimischen namens Saleh Sarwary kennen, der seit Langem in Deutschland lebt und auch die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Sarwary ist rasch davon überzeugt, dass die Behörden in Kabul einen Fehler gemacht haben, denn Yusuf beherrscht keine der in Afghanistan gängigen Sprachen. Er rät Yusuf, im zuständigen Ministerium vorzusprechen und den Irrtum korrigieren zu lassen.

Zu dieser Zeit erfährt profil von der Existenz eines Mannes, der angeblich Tschetschene ist und nach Afghanistan abgeschoben wurde. Die Geschichte klingt wenig glaubhaft. Ein Video-Telefonat soll Klarheit bringen. Im August dieses Jahres führt ein Tschetschene in Wien im Auftrag von profil via Skype ein längeres Gespräch mit Yusuf in Kabul. Am Ende meint der Tschetschene, Yusuf spreche wohl leidlich Tschetschenisch, allerdings klinge es nicht authentisch, und er glaube nicht, dass Yusuf Tschetschene sei.

In Kabul putzt Yusuf währenddessen in den Ministerien weiter Klinken, bis sich schließlich herausstellt, dass die afghanischen Behörden keinerlei Dokumente besitzen, die belegen, dass er afghanischer Staatsbürger ist.

Am 3. September landet Mohammad Mohammadi alias M. Yusuf A., in einem Flugzeug aus Kabul kommend, erneut in Wien und wird umgehend in Schubhaft genommen.

Nach zwei Abschiebungen in sein vermeintliches Herkunftsland Afghanistan scheint nun klar zu sein, dass alles ein Irrtum war. Das wirft die Frage auf, wie leichtfertig Heimreisezertifikate für Personen ausgestellt werden, für deren Staatsangehörigkeit es offensichtlich keinen Beleg gibt. Im Innenministerium verweist man gegenüber profil auf die Verantwortung der afghanischen Behörden, die das Reisedokument übermittelt hätten.

Was wird nun aus Yusuf? Für das Innenministerium gilt nach wie vor, dass gegen ihn ein Aufenthaltsverbot vorliegt, zudem zwei negative Asylentscheide. Das bedeutet: Abschiebung - allerdings nicht ein drittes Mal nach Afghanistan, sondern diesmal nach Russland. Ein entsprechendes Heimreisezertifikat wurde angefordert. Damit nimmt der Fall eine absurde Wendung. Nachdem die österreichischen Behörden gute Gründe genannt haben, weshalb Yusufs Behauptung, Tschetschene zu sein, unwahr sei, wollen sie diese nun ohne jegliche neue Erkenntnis plötzlich für wahr halten. Man muss ihnen wohl zugestehen, dass sie im Fall Yusuf an ihre Grenzen gestoßen sind. Wie viele Asylwerber mit ungeklärter Identität sich in Österreich aufhalten, wird statistisch nicht erfasst. Yusuf spricht Dari, Tschetschenisch, Russisch, Deutsch und Englisch, doch welche Muttersprache er hat, bleibt ein Rätsel. Im Einvernahmeprotokoll zu seinem zweiten Asylantrag merkte der Russisch-Dolmetscher an, Russisch sei es "wahrscheinlich nicht".

Yusuf vermutet, dass ihm wegen seiner Lüge niemand mehr Glauben schenkt. Seit er behauptet hat, Afghane zu sein, ist er immer tiefer abgerutscht. Aslan hat er nicht mehr gesehen; er glaubt nicht, dass sein väterlicher Freund noch in Österreich ist.

Nach Hause kommen

"Ich war deppert!", sagt Yusuf, und: "Ich hab Scheiße gebaut." Er gehört nicht zu den gut integrierten Asylwerbern, die unbescholten geblieben sind und eine Ausbildung machen. Für diese setzt man sich aus guten Gründen ein - für einen Straftäter, der gelogen hat, nicht. Doch man kann Yusuf schwerlich bestrafen. Wenn jemand im Rahmen eines Asylverfahrens wissentlich falsche Angaben über seine Identität macht, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, kann dies mit einer Geldstrafe von 1000 bis 5000 Euro oder ersatzweise mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Wochen geahndet werden. Allerdings hat Yusuf kein Geld, und in Haft sitzt er ohnedies.

Dass man ihn abschieben sollte, mag rechtlich gedeckt sein, aber - wohin?

Laut Auskunft des Innenministeriums kann die Schubhaft für maximal 18 Monate verhängt werden. Wenn es nicht gelingt, Yusufs Nationalität herauszufinden, muss er de facto in Österreich geduldet werden. Yusuf ist mittlerweile ein Mann von rund 20 Jahren, auch wenn sein Geburtsdatum ebenso erfunden sein mag wie alle anderen Angaben. Er war kriminell, kurz drogenkrank, suizidgefährdet. Er dürfte in seinem Leben, wohin auch immer es ihn verschlagen hat, recht wenig an Erziehung und familiärer Wärme abbekommen haben. In einem der Gespräche mit profil sagt er: "Ich bin verrückt geworden." Aber er hat sich trotz widriger Umstände ein positives Selbstbild bewahrt. Er ist Muslim und betet fünf Mal täglich. Er möchte Computer-Programmierer, Automechaniker oder Koch werden. Er hat in Moskau in einer Küche geholfen und dabei gelernt, Torten zu backen und Salate zuzubereiten. Er versteht sehr gut Deutsch und kann sich in jeder Situation verständlich machen. Manches, was Yusuf über sein Leben erzählt, klingt erfunden, auch wenn es nichts mit der Lüge bezüglich seiner Herkunft zu tun hat, etwa dass er eine Freundin in Tschetschenien habe, wo er - wenn überhaupt - zuletzt im Alter von acht Jahren gewesen ist. Sie wolle ihn heiraten, vor einiger Zeit hätten sie miteinander telefoniert. Wer keinen Halt im Leben hat, klammert sich an einen Traum. Auch von einer Österreicherin, die ihn heiraten wolle, hat er in einer der Vernehmungen erzählt. Doch dann sei er im Gefängnis gewesen, und sie habe einen anderen Freund gefunden.

Der robuste Kerl mit den dunklen Augen hinter der Plexiglasscheibe kann bedrohlich wirken, aber dann wieder wie ein Kind. Er lese gerade ein Buch, erzählt er: "Über Fische."

Die Behörden wollen, dass Yusuf demnächst das Land verlässt. Und Yusuf? "Ich will ein normales Leben führen und nach Hause kommen."

Und zwar hier, in Österreich.