EU-Grenzschutzagentur Frontex: Hart an der Grenze

An Europas Außengrenzen werden Flüchtlinge illegal zurückgewiesen. Interne Dokumente deuten darauf hin, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex bei solchen Manövern mitmacht und Fälle vertuscht. Das soll nun Konsequenzen haben.

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Bald würden sie es geschafft haben. Montag, 8. Juni, nordöstlich der griechischen Insel Lesbos: Rund 50 Menschen treiben in einem überfüllten Schlauchboot im Meer. Die See ist ruhig, die rettende Küste kommt näher. Doch dann schiebt sich ein großes Schiff vor das kleine Boot. Es gehört zur europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die MAI 1103 fährt unter rumänischer Flagge.

Die EU-Rechtslage für diese Situation ist eindeutig: Die Frontex-Beamten müssen die Menschen nun aufnehmen und in einen sicheren Hafen bringen, damit sie Asyl beantragen können. Doch das geschieht, wie ein Video der türkischen Küstenwache zeigt, nicht. Zunächst scheinen die Grenzschützer mit den Bootsflüchtlingen zu debattieren. Dann fährt das Frontex-Schiff mit hoher Geschwindigkeit nahe an dem Schlauchboot vorbei, dreht ab und rauscht davon. Stundenlang warten die Menschen, bis die griechische Küstenwache auftaucht. Die schleppt sie aber nicht nach Lesbos, sondern in türkisches Hoheitsgewässer und lässt sie dort zurück. Am Ende wird das Boot von der türkischen Küstenwache aufgegriffen.

Eine Recherchekooperation enthüllte Ende Oktober, wie griechische Grenzschützer zahlreiche Flüchtlinge aufs offene Meer zurückschicken. Pushbacks heißen solche illegalen Manöver. Journalisten des Nachrichtenmagazins "Spiegel", der Investigativplattform Bellingcat, der ARD und anderen Medien belegten erstmals, dass Frontex-Beamte von diesen Pushbacks wissen und teilweise sogar darin verwickelt sind. Dokumentiert wurden sechs Fälle zwischen April und August 2020, bei denen Frontex-Beamte in der Nähe waren.

Interne Dokumente der Grenzschutzagentur, die profil vorliegen, deuten zudem darauf hin, dass die Zentrale der Grenzschutzagentur Hinweise auf diese Pushbacks unter den Tisch gekehrt hat.

Dabei handelt es sich längst um keine Einzelfälle. Die illegalen Manöver finden nicht immer weit draußen auf hoher See statt, sondern auch in Küstennähe. Einheimische und Fischer berichten davon, zeigen Fotos und Videos. Die Pushbacks werden nicht klammheimlich durchgeführt, sondern scheinen gängige Praxis zu sein.

Mittlerweile schicken griechische Grenzschützer offenbar sogar Menschen aufs Meer zurück, welche die Inseln, und damit EU-Territorium, bereits erreicht haben. Flüchtlinge berichten davon, in maroden Booten ohne Motor ausgesetzt und teils mit Waffen bedroht worden zu sein. Die Pushbacks würden auch erklären, warum seit April kaum mehr Menschen auf den griechischen Inseln ankommen.

Athen dementiert die Vorwürfe als Fake News und spricht von türkischer Propaganda. Doch es wird zunehmend schwierig, dieses Narrativ aufrechtzuerhalten. Belegt ist etwa ein Fall vom 2. März, in dem das griechische Kommando der Frontex-Operation Poseidon einem Schiff der dänischen Küstenwache Befehl erteilte, ein Flüchtlingsboot zurück in türkische Gewässer zu schleppen. Die Dänen widersetzten sich und brachten die Menschen auf die Insel Kos. Belegt wird dieser Vorgang durch E-Mails von Frontex-Mitarbeitern, die der Online-Zeitung "EU-Observer" zugespielt wurden.


Eigentlich sollte Frontex die griechische Küstenwache mit rund 600 Beamten dabei unterstützen, Boote ausfindig zu machen und Menschen aus Seenot retten. Dafür haben die Grenzschützer zahlreiche Schiffe und Drohnen, Flugzeuge mit Wärmekameras, die selbst in der Nacht auch kleinere Objekte entdecken können. Dass die Frontex-Flugzeugbesatzungen die Bootsflüchtlinge in den von den Medien beschriebenen Fällen nicht gesehen haben, ist unwahrscheinlich.

Nach schwerwiegenden Zwischenfällen, bei denen der Verdacht auf Verletzung von Grundrechten besteht, müssen die Frontex-Beamten eigentlich einen Bericht schreiben. Diese sogenannten "Serious Incident Reports" landen dann bei der agenturinternen Beauftragten für Grundrechte. Doch das soll offenbar verhindert werden. In mindestens einem Fall hat Frontex seinen Mitarbeitern davon abgeraten, Bericht zu erstatten. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die profil vorliegen. Auch über die von den Medien genannten Fälle liegen keine Fallberichte vor. Das Meldesystem der Agentur scheint nicht zu funktionieren. Existieren die Checks and Balances nur auf dem Papier?

Öffentlich ist Frontex bisher nicht genauer auf die Vorwürfe eingegangen. Doch die Berichte über die Pushbacks haben einiges ins Rollen gebracht. Die Fälle sollen nun vom Management Board, dem unabhängigen Kontrollorgan der Agentur, untersucht werden. In dem Gremium sitzen hochrangige Vertreter der Grenzpolizei aus den Mitgliedstaaten der EU. Sie sollen herausfinden, was Frontex im Mittelmeer treibt-und was von ganz oben heimlich toleriert wird.

Am 10. November, zwei Wochen nach den Medienberichten, rief die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson das Management Board zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, um Fragen an Frontex-Chef Fabrice Leggeri zu sammeln. Die Mitglieder des Gremiums gingen die Vorwürfe durch, sie sichteten Schiffsrouten und prüften, ob dazu Fallberichte vorliegen. Weil diese fehlen, lassen sich die Anschuldigungen zwar nicht bestätigen. Entkräftet werden können sie aber auch nicht.

Die Wogen gingen hoch, in dem Meeting gerieten vor allem die Kollegen aus Griechenland unter Druck. Frontex müsse sich von den Missionen zurückziehen, wenn anhaltende und schwerwiegende Grundrechtsverletzungen zu erwarten seien, schrieb der Vorsitzende des Management Boards nach dem Krisentreffen in einer Aussendung.


Auch für Frontex-Chef Leggeri wurde es unangenehm. An dem Treffen nahm auch die agenturinterne Beauftragte für Grundrechte teil-und thematisierte drei Fallberichte, die eigentlich auf ihrem Tisch hätten landen sollen. Stattdessen habe Leggeri sie persönlich übernommen.

In anderen Fällen wurde offenbar versucht, eine Einreichung der Berichte zu verhindern. So erzählte der Chef der schwedischen Grenzpolizei seinen Kollegen von der Crew eines Frontex-Schiffes unter schwedischer Flagge, die Ende Oktober einen Fallbericht einreichen wollte-und der vom zuständigen Frontex-Beamten geraten wurde, das besser sein zu lassen. Wenn Fallberichte verhindert werden oder in der Zentrale verschwinden, dann erklärt das auch, warum das Management Board keine Hinweise auf Pushbacks findet.

Frontex behauptet seit jeher, nichts von illegalen Rückschiebungen zu wissen. "Wenn das stimmt", sagt der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt, "dann ist das die schlechteste Grenzschutzagentur der Welt." Für den Fall, dass Frontex von den Praktiken wisse und nichts dagegen unternehme, sei das äußerst gefährlich: "Denn dann agiert die Agentur entkoppelt von Recht und Demokratie."

Auf profil-Anfrage heißt es aus dem Frontex-Hauptquartier in Warschau, es gebe keine Beweise für die Verstrickung in Pushbacks. Aus dem Video mit dem rumänischen Frontex-Schiff sei nicht ersichtlich, dass die Beamten etwas falsch gemacht hätten. Man könne nicht erkennen, wie weit das Schiff von dem Schlauchboot entfernt sei, die Bilder seien verwackelt.


Brüssel sieht das offenbar anders. EU-Kommissarin Johansson hat Fragen an Frontex-Chef Fabrice Leggeri eingereicht, die eine eigene Geschichte erzählen. Etwa: Ob Frontex heuer Hinweise gesammelt habe, die auf Pushbacks durch die griechische Küstenwache oder andere hindeuten-und wenn ja, ob es Fallberichte darüber gebe. Auch die von den Medien genannten Daten von April bis August 2020 finden sich in den Fragen: Frontex solle vollständige Berichte darüber abgeben und erklären, wer darüber informiert wurde, fordert Johansson.

Weitere Fragen lauten: "Wie wurden die Berichte schlussendlich klassifiziert, von wem und wieso?", und: "Inwiefern war die für Grundrechte zuständige Beamtin involviert?"Die Kommission bezieht sich damit auf die Vermutung, Frontex würde bei Pushbacks von Fallberichten absehen.

Besonders schwer wiegt die Frage, die sich auf die Aussage des schwedischen Grenzpolizisten vom 10. November bezieht: "Haben Sie Kenntnis von anderen Fällen, in denen Mitarbeiter der Agentur die Einreichung von Fallberichten beeinflusst haben könnten?" Die EU-Kommission will damit vor allem eines klären: Hat Frontex Fälle von Pushbacks vertuscht, indem interne Berichte zurückgehalten wurden? Hat Frontex-Chef Leggeri bewusst die Beauftragte für Grundrechte umgangen, um sich Scherereien zu ersparen? Vieles deutet darauf hin.

Beim nächsten Treffen des Management Boards am 25. und 26. November muss sich Leggeri einer Debatte darüber stellen.

Die Fragen der EU-Kommission sind ungewöhnlich scharf. Immer wieder wurde ihr vorgeworfen, wegzusehen-bei Pushbacks von Kroatien nach Bosnien, bei Gewalt am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros, bei den vielen Toten im Mittelmeer.


Mit Ylva Johansson ist seit einem Jahr eine Kommissarin im Amt, die glaubhaft versichert, etwas gegen illegale Rückschiebungen unternehmen zu wollen. "Die Berichte über Pushbacks bereiten mir große Sorge",sagte sie Mitte Oktober im profil-Interview: "Menschen müssen das Recht auf ein faires Asylverfahren haben. Sie dürfen nicht zurückgedrängt werden."Die schwedische Sozialdemokratin will Mitgliedstaaten dazu verpflichten, Untersuchungen über mögliche Pushbacks einzuleiten. Bisher liegt diese Aufgabe bei Frontex. Doch wo nichts dokumentiert wird, da ist nichts zu finden.

Dabei sehen die Vorschriften der Europäischen Grenz-und Küstenwache vor, dass Frontex seine Aktivitäten einstellt und die finanziellen Hilfen stoppt, sobald ein Mitgliedstaat gegen Grundrechte verstößt. Dass dies in Griechenland der Fall ist, daran zweifelt offenbar auch die EU-Kommission nicht.

Ein Teil des Problems ist wohl, dass Frontex sich im Recht sieht. Dass sich die Agentur in erster Linie als Abwehr-und Schutzkraft sieht, lässt sich aus Presseaussendungen, Tweets sowie einem Brief Leggeris an Johansson herauslesen. Die Agentur verweist in erster Linie auf den Schutz der Außengrenzen und die Unterstützung der griechischen Küstenwache. Dass dies mit Rücksicht auf Grundrechte geschieht, scheint zweitrangig.

"Wir kümmern uns um die Sicherheit von Hunderten Millionen Europäern, indem wir dabei helfen, unsere Grenzen zu schützen", so Frontex in einer Auseinandersetzung mit Ärzte ohne Grenzen, Sea-Watch und anderen NGOs auf Twitter am Samstag vor einer Woche. Dass man Menschen in Seenot rettet, wird auch hier zum Nachsatz.

Interessant ist auch ein Brief Leggeris an die EU-Kommission vom 11. November. Darin deutet der Frontex-Chef an, dass das geltende Recht, also die Pflicht zur Seenotrettung, in der Praxis nicht ausreichend eingehalten wird und einiges präzisiert werden muss. Die Wiener Juristin Viktoria Baumgartl interpretiert das so: "Er versucht, von den Fehlern seiner Organisation abzulenken und schiebt sie auf unklare Vorgaben."Dabei sei die Rechtslage eindeutig: "Das Verbot von Pushbacks ist absolut."


Es kommt nicht von ungefähr, dass Frontex seine Aufgabe vor allem darin sieht, Europa zur Festung zu machen. In den vergangenen Jahren wurden Menschen immer wieder mit Gewalt zurückgedrängt-nicht nur im Mittelmeer, sondern auch über die griechisch-türkische Landgrenze, von Kroatien nach Bosnien und zuletzt offenbar auch von Österreich nach Slowenien. Der Schutz der Außengrenzen um jeden Preis ist nicht nur den Parteien am äußerst rechten Rand ein Anliegen. Die Mitgliedstaaten der EU haben viel dafür getan, Menschen abzuschrecken: die lebensgefährliche Reise über das Meer, die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern, die endlos langen Asylverfahren.

Es scheint, als sollen die Menschen denken, dass sie es zu Hause, so schlimm es dort auch ist, immer noch besser haben als in Europa. Geschlossene Grenzen und Abschreckung bestimmen die Migrationspolitik.

Bisher musste Frontex nicht viel Kontrolle fürchten. "Es gibt keine unabhängige Überwachung an den Außengrenzen",sagt Grünen-Politiker Marquardt. Die liberale Europaabgeordnete Sophie in 't Veld spricht sogar von einem "Monster, das niemandem Rechenschaft schuldet und über dem Recht steht".

Damit könnte nun Schluss sein. Frontex-Chef Leggeri muss sich nicht nur den Fragen der EU-Kommission stellen, sondern auch jenen des Europaparlaments. Auch das Management Board hat Fragen eingereicht.


Gleichzeitig hat die europäische Bürgerrechtsbeauftragte Emily O'Reilly eine Untersuchung gegen Frontex eingeleitet. Die Irin will klären, ob die internen Kontrollmechanismen bei Frontex funktionieren. Ihre Empfehlungen sind zwar nicht bindend, aber sie kann ihre Ergebnisse offenlegen und die EU-Institutionen damit beeinflussen.

Die Angelegenheit wirft aber noch weitere Fragen auf. In den kommenden Jahren soll Frontex mehr Geld und Mittel erhalten, um Mitgliedstaaten bei der Kontrolle der Außengrenzen zu unterstützen. Nach den Berichten über die Beteiligung an Verbrechen in der Ägäis und deren Vertuschung fragen sich viele, ob die Agentur dafür überhaupt geeignet ist.

Aus Diplomatenkreisen heißt es, dass Leggeri wohl nicht ungeschoren davonkommen wird. Doch selbst für den Fall, dass der Frontex-Chef gehen muss: Dass sich in der Struktur der Agentur etwas ändert, ist damit nicht gesagt.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.