Ausland

Experte zum Angriff auf Kosovo: „Das waren keine Zivilisten“

Der Politikwissenschaftler Agon Maliqi gilt als nüchterner Beobachter der Ereignisse in seinem Heimatland Kosovo. Seit Sonntag schließt er einen neuen Krieg nicht mehr aus. Die jüngsten Ereignisse wecken in ihm Erinnerungen an Putins Vorgehen in der Ukraine.

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Was ist passiert?

Am Sonntag, dem 24. September, kam es in einem Ortsteil der Gemeinde Zvečan im Nordkosovo zu tödlichen Zusammenstößen und Gefechten zwischen einer 30 Mann starken serbischen Kampftruppe und der Kosovo-Polizei. Auf Basis der sichergestellten Beweismittel geht das kosovarische Innenministerium mittlerweile davon aus, dass der Angriff von langer Hand geplant war. Das Ziel könnte laut der Lesart Prishtinas eine Sezession des mehrheitlich serbisch besiedelten Norden des Landes gewesen sein. Genau sagen kann das derzeit aber niemand. Sicher ist: die Angreifer waren im Stil einer paramilitärischen Spezialeinheit ausgestattet. Sie trugen Uniformen, hatten Nachtsichtgeräte und Karten bei sich, und verfügten über ein Arsenal an Waffen, darunter Maschinengewehre und Handgranaten. 

Die Angreifer vom Sonntag töteten einen albanischen Polizisten, verletzten zwei weitere und verschanzten sich dann im Hof eines orthodoxen Klosters in der Ortschaft Banjska. Stundenlang lieferten sie sich Gefechte mit der Kosovo-Polizei, die das Kloster am Sonntagnachmittag umstellte. Der Norden des Kosovo gilt seit Ende des Krieges 1999 als Einflusszone Belgrads und als Konfliktherd. Der Kosovo mit seiner mehrheitlich albanischen Bevölkerung hatte im Jahr 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, wird aber weder von Belgrad noch von dessen Verbündeten Russland und China – sowie fünf EU-Staaten – anerkannt. Mittlerweile ist das Kloster wieder unter Kontrolle der kosovarischen Sicherheitsbehörden. Drei der serbischen Angreifer wurden getötet, mehrere Verdächtige festgenommen. Drohnenaufnahmen dokumentieren, dass ein Großteil der Kämpfer über die grüne Grenze nach Serbien fliehen konnte. Kosovos Regierungschef Albin Kurti fordert ihre Auslieferung und wirft Serbien vor, die Terroristen unterstützt und ausgestattet zu haben. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wies dies zurück. Die Angreifer „hatten weder Uniformen des serbischen Militärs noch der serbischen Polizei", sagte er in einer Pressekonferenz am Sonntagabend. Bei den Angriffen handelt es sich um den schwersten Zwischenfall im Norden des Kosovo seit den Ausschreitungen von 2004. Seit 2011 war kein Polizist des Kosovo mehr bei einem Schusswechsel mit serbischen Angreifern getötet worden. Die EU-Kommission rief am Montag beide Seiten zum Dialog. Eben diese Verhandlungen zur Normalisierung der Beziehungen waren aber zuletzt ins Stocken geraten. 

Zur Person

Agon Maliqi ist ein unabhängiger Analyst mit Sitz in Tirana. Er wurde in Prishtina geboren und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Sicherheitsfragen auf dem Balkan. Maliqi hat Politikwissenschaften in Bulgarien und internationale Beziehungen in den USA studiert. 

Herr Maliqi, haben Sie das, was am Sonntag im Kosovo passiert ist, kommen sehen?
Agon Maliqi
Leider Ja. Ich habe vor ein paar Wochen einen Artikel veröffentlicht, warum der Norden des Kosovo Europas gefährlichster Ort abseits der Ukraine ist. Letztes Jahr haben die Vertreter der serbischen Minderheit im Kosovo ihren Rückzug aus den staatlichen Institutionen angekündigt, also aus dem Parlament, der Regierung und der Verwaltung. Dadurch ist ein Vakuum entstanden, das den Boden für die Ereignisse am Sonntag bereitet hat. Der Geist ist aus der Flasche. Es ist sehr schwer, die Eskalationen wieder einzudämmen. Ich gehe davon aus, dass es weitere bewaffnete Zwischenfälle geben wird.
Die kosovarische Regierung wirft Serbien vor, die Terroristen geschickt oder zumindest ausgestattet zu haben. War diese Anschuldigung zu voreilig?

 

Maliqi
Für einen kosovarischen Politiker ist es schwer, nicht mit dem Finger nach Serbien zu zeigen. Es ist offensichtlich, dass diese Männer ihre Waffen aus Serbien beziehen.
Das kosovarische Innenministerium hat eine Liste des beschlagnahmten Waffenarsenals veröffentlicht. Laut dem zuständigen Minister Xhelal Sveçla stammt der Großteil aus serbischer Produktion, hergestellt in den letzten drei Jahren. Ist das Beweis genug, um sagen zu können, dass die Angreifer im Sinne von Präsident Vučić gehandelt haben?
Maliqi
Es könnte durchaus sein, dass die Kampftruppe nicht im Sinne aller staatlichen Organe gehandelt hat. Gerüchten zufolge ist der serbische Sicherheitsapparat gespalten. Aber aus der Sicht des Kosovo spielt das keine Rolle. Fakt ist: die Organisation der Gruppe kommt aus Serbien. Die Führung in Prishtina hat also ein gutes Recht, mit dem Finger nach Belgrad zu zeigen. Sie sollte in Zukunft aber aufpassen, zivile Kosovo-Serben nicht unnötigerweise zur Zielscheibe zu machen. Sie müssen ihre Rhetorik bewusst wählen, um die Stimmung unter ethnischen Albanern nicht anzuheizen.

 

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić weist jede Schuld von sich. Er meint, lokale Serben hätten sich erhoben, weil Albin Kurti sie provoziere.
Maliqi
Noch einmal: Das waren keine Zivilisten. Das war eine militarisierte, staatliche geförderte Einheit. Die Bereitstellung, Beschaffung und der Transport der Waffen können nur durch staatliche Einheiten erfolgen. Neue Beweise belegen zudem, dass Milan Radoičić in der Gruppe aktiv war.
Milan Radoičić ist Vizepräsident der „Srpska Lista“, der größten Partei der Kosovo-Serben.
Maliqi
Radoičić unterhält enge Verbindungen zur Regierung in Belgrad. Er kennt die Schmuggelpfade im Norden des Kosovo aus erster Hand. Der einzige Weg, wie die Waffen in den Kosovo gelangt sein können, führt über Serbien. Ich bezweifle, dass in dem Grenzgebiet irgendetwas ohne das Wissen der serbischen Geheimdienste vonstatten geht.
Noch ist vieles ungeklärt. Welche Fragen stellen Sie sich derzeit?
Maliqi
Die für mich wichtigste Frage lautet: Wann passieren neue Anschläge? Auf beiden Seiten wächst der Hunger nach einer Militarisierung der Gesellschaft. Präsident Vučić wirkt verletzlich und gedemütigt. Seine Rhetorik ist brandgefährlich. Er behauptet, dass im Kosovo ethnische Massaker an Serben geschehen. Ähnlich argumentiert Russland. Ich erwarte daher neue Angriffe und eine weitere Eskalation der Lage.
Sie haben am Sonntag davor gewarnt, dass sich im Norden des Kosovo das Szenario der „grünen Männchen“ anbahnen könnte. Diese Spezialeinheiten ohne Hoheitsabzeichen wurden von Putin zur Besatzung der Krim eingesetzt.
Maliqi
Dieses Szenario ist denkbar. Das Ziel der Angreifer könnte sein, die Spannungen so weit zu eskalieren, bis die NATO oder das serbische Militär eingreifen. Der Vorfall am Sonntag war in meinen Augen der Versuch, ein Klima zu schaffen, in dem militärische Maßnahmen gerechtfertigt sind.
Der Kosovo ist aber nicht die Ukraine. Im Norden des Kosovo sind, anders als im Donbass, Soldaten der NATO präsent. Die serbische Armee hat die Grenze seit Kriegsende nicht übertreten.
Maliqi
Ja, Serbien darf das laut der vereinbarten Abkommen auch nicht. Aber Belgrad könnte behaupten, dass es moralisch notwendig geworden ist. Der Elefant im Raum ist Russland. Putin hat ein klares Interesse, Spannungen im Kosovo zu erzeugen und die NATO zu provozieren. Es gab Medienberichte über die Anwesenheit der Söldnertruppe Wagner im Kosovo. Sie sollen Serben für freiwillige Kampftrupps rekrutieren. Auf pro-russischen Telegram-Kanälen war am Sonntag von einer „Spezialoperation“ im Kosovo die Rede.

Es gab Medienberichte über die Anwesenheit der Söldnertruppe Wagner im Kosovo. Sie sollen Serben für freiwillige Kampftrupps rekrutieren

Agon Maliqi

Vorerst ist die Situation unter Kontrolle. Ein Großteil der Kämpfer floh über die grüne Grenze nach Serbien. Warum hat sie niemand aufgehalten?

 

Maliqi
Es gibt Drohnenvideos, die den Abzug der Kampftruppe zeigen. Es ist offensichtlich, dass sie von der Kosovo-Polizei und von der internationalen, Nato-geführten Kosovotruppe Kfor beobachtet wurden. Womöglich wurde über ihre Ausreise verhandelt, um weitere Opfer zu vermeiden. Man dürfte ihnen mit auf den Weg gegeben haben, dass sie fortan unter Beobachtung stehen und nicht wieder kommen sollen.

 

Welche Rolle spielt eigentlich die orthodoxe Kirche in dem Konflikt? Die Kämpfer haben sich in einem Kloster verbarrikadierten.

 

Maliqi 
Die serbisch-orthodoxe Diözese im Kosovo hat sich von den Angreifern klar distanziert. Das ist erst einmal positiv. Sie haben Friedensbotschaften verbreitet und ihr Beileid mit dem getöteten, albanischen Polizisten ausgedrückt. Aus meiner Sicht muss die Distanzierung aber noch deutlicher ausfallen. Immerhin wird die Kirche von den Angreifern missbraucht und zur Zielscheibe gemacht.

 

Wie meinen Sie das?

 

Maliqi 
Schauen wir uns doch einmal an, welche Bilder am Sonntag entstanden sind. Albanische Polizisten umstellen ein orthodoxes Kloster, in dem sich serbische Pilger aufhalten. Allein diese Bilder lassen international bestimmte Wahrnehmungen entstehen.
Die Albanerinnen und Albaner im Kosovo sind mehrheitlich muslimisch, die serbische Minderheit orthodox. Meinen Sie, es sollte bewusst so aussehen, als hätten Muslime auf Eigeninitiative ein schutzloses Kloster angegriffen?

 

Maliqi
Ich glaube, die Kampftruppe hatte mit ihrer Aktion genau das im Sinn. Diese Bilder verbreiten sich in sozialen Netzwerken und sie passen perfekt zu Russlands Ziel, eine panslawische Erzählung zu schaffen. Es ist bekannt, dass Russland Operationen unter falscher Flagge durchführt. Der Angriff am vergangene Sonntag kommt mir rückblickend wie ein Falle vor, die dem Kosovo gestellt wurde. Leider tappen viele Albaner im Kosovo in diese Falle. Auf sozialen Medien gibt es immer aggressivere Reaktionen gegenüber der orthodoxen Kirche. Genau das war das Ziel der Angreifer.

 

Auf albanischen Accounts war zu lesen, orthodoxe Kirchen seien „das Waffendepot“ der „Terroristen aus Serbien“.

 

Maliqi

 

Wir sollten uns hüten, solche voreiligen Schlüsse zu ziehen, auch wenn es in der Tat Geheimdienstberichte gibt, die bereits vor Monaten davor gewarnt haben, dass in orthodoxen Kirchen Waffen versteckt sein könnten. Diese Theorie kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Jetzt muss die Kirche mit gutem Vorbild vorangehen und Transparenz schaffen. Sie sollte der Vorreiter in einer deeskalierenden Rhetorik sein.

 

Der serbische Präsident Vučić tut genau das Gegenteil. Am Montag, einen Tag nach dem Angriff, hat er sich mit dem russischen Botschafter getroffen. Ein Weckruf für den Westen?

 

Maliqi
Nein, das ist typisch für ihn. Immer wenn er das Gefühl hat, dass der Westen nicht genug für ihn tut, trifft er den russischen Botschafter. Aber damit macht er sich in Zeiten wie diesen lächerlich. Seit der Invasion in der Ukraine ist Russland geächtet und militärisch gesehen ein nutzloser Verbündeter. Eine Sache kann Moskau Belgrad hingegen sehr wohl anbieten: den Einsatz hybrider Kriegsführung. Genau das beobachten wir derzeit im Kosovo.

 

Ist der Brüsseler Dialog zur Beilegung des Konflikts tot?

 

Maliqi
Ja, dem ist ziemlich sicher so. Es ist undenkbar, dass sich die Akteure in dem Klima, das derzeit vorherrscht, an einen Tisch setzen, um zu reden. Es sieht ganz danach aus, dass wir uns in eine Konflikt-Phase begeben. Seit Sonntag glaube ich erstmals wieder, dass ein neuer Krieg möglich ist. Zum ersten Mal seit vielen Jahren würde ich aus Sicherheitsgründen nicht mehr in den Norden des Kosovo fahren.

 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.