Zerstörung in Dair al Balah - hierher ist Wajiha geflüchtet
Nahost-Konflikt

Gaza-Flüchtling: „Wir haben zu viel Angst, um einzuschlafen“

Wajiha, eine Palästinenserin aus Gaza, schickt seit Beginn des Krieges Nachrichten an profil. Sie ist in den Süden des Gazastreifens geflüchtet und erwartet die Geburt ihres Kindes.

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Am vorvergangenen Freitag, den 13. Oktober, um drei Uhr früh erhält Wajiha (der volle Name ist der Redaktion bekannt), eine junge Mutter in Gaza, eine wichtige Nachricht. Die israelischen Streitkräfte haben internationale Organisationen informiert, dass die Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens – also auch Gaza-Stadt – bis sieben Uhr früh Zeit hätte, in den Süden aufzubrechen. Obwohl es mitten in der Nacht ist, verbreitet sich die Nachricht rasant.

Wajiha, die profil bei einer Reportage vor sechs Jahren kennengelernt hat, schickt, wie bereits vergangene Woche, über eine Messenger-Plattform Nachrichten an profil. In der Ausgabe der vergangenen Woche wurde aus Sicherheitsgründen nur ihr Initial „W“ genannt. Wajiha hat einen drei Jahre alten Sohn und ist im neunten Monat schwanger.

„Wir packten im Dunkeln unsere Sachen. Auch in den Straßen gibt es keine Beleuchtung, keinen Strom, gar nichts. Als wir aus der Wohnung rannten, musste ich meinen kleinen Sohn tragen und auch die Taschen mit unseren Kleidern, aber ich konnte damit nicht die Stufen runterlaufen, also ließ ich die meisten Sachen einfach zurück.“

Die israelischen Streitkräfte hatten angekündigt, zwei Nord-Süd-Verbindungen innerhalb des Gazastreifens nicht anzugreifen, damit die Bevölkerung in diesem Zeitfenster den Norden verlassen kann: die Al-Rashid-Straße entlang der Küste und die Salah-al-Din-Straße etwas weiter im Landesinneren. Berichten zufolge hinderte die Hamas Menschen daran, der Aufforderung Israels nachzukommen.

„Meine Familie hat ein Auto. Andere Leute, die kein Auto haben, sind in Gaza-Stadt geblieben. Wir nahmen die Al-Rashid-Straße. Niemand hat uns aufgehalten.“

Zehntausende Palästinenser machen sich an jenem Freitag auf den Weg, mit Autos, Lastwagen, Pferdefuhrwerken, manche auch zu Fuß. An der Salah-al-Din-Straße ereignet sich eine Explosion, deren Ursache ungeklärt ist. Auf einem Video, dessen Authentizität der US-Sender CNN überprüft hat, sieht man Leichen und brennende Autos. Ein anderes Video, das im Inneren eines Krankenwagens aufgenommen wurde, zeigt ein verletztes Mädchen und dessen Vater – plötzlich wird das Fahrzeug von der Schockwelle einer nahen Explosion geschüttelt.

Wajiha und ihre Familie kommen unbeschadet ans Ziel.

„Wir fuhren nach Dair al Balah. Es ist wie 1948.“

Dair al Balah – der Name bedeutet „Dattelpalmenkloster“ – ist eine für ihre vielen Palmen bekannte Stadt mit rund 60.000 Einwohnern. Sie liegt etwa 14 Kilometer südlich von Gaza-Stadt. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg, dem ersten arabisch-israelischen Krieg, flohen viele Araber hierher. Wajiha hat in Dair al Balah Verwandte, bei denen sie bleiben kann.

„Wir sind zwanzig Erwachsene und acht Kinder in der Wohnung. Bei den Nachbarn sind 35 Leute.“

So wie Wajiha und ihre Familie sind mittlerweile ungefähr eine Million Menschen innerhalb des Gazastreifens geflüchtet. Sind sie jetzt in Sicherheit?

„Es ist verrückt, aber kein Ort ist sicher. Keine Worte können beschreiben, wie wir uns fühlen. Jede Nacht sagen wir einander, dass es die letzte ist. Und dann bleiben wir alle wach, weil wir zu viel Angst haben, um einzuschlafen.“

Wajiha hat allen Grund sich zu fürchten. Am Dienstag wird eine Schule der UN-Organisation für Palästinaflüchtlinge (Unwra) in Al Maghazi, von einer Rakete getroffen. Acht Menschen werden getötet, 40 verletzt, gibt die Unwra bekannt. Al Maghazi liegt, ebenso wie Dair al Balah, südlich der Linie Wadi Gaza. Die Orte sind etwa zwei Kilometer voneinander entfernt.

Anfangs habe ich meinem Sohn gesagt, es ist bloß ein Feuerwerk.

Die „Financial Times“ berichtet, dass in der Leichenhalle des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses von Dair al Balah kein Platz mehr sei. 20 Tote wurden deshalb in einem Kühlfahrzeug, mit dem sonst Speiseeis transportiert wird, gelagert. Weitere Leichen liegen in Decken eingewickelt am Boden. Ein Drohnen-Video zeigt ein völlig zerstörtes Gebäude in einem Wohnbezirk von Dair al Balah.

Auf Bildern des europäischen Satelliten Sentinel-1, die ein Team der französischen Tageszeitung „Le Monde“ auswerten konnte, wird deutlich, dass Zahl und Intensität der israelischen Luftangriffe im Norden um ein Vielfaches höher sind als südlich der Wadi-Gaza-Linie. Wer jedoch wie Wajiha mit einem drei Jahre alten Sohn immer wieder Raketentreffer mitanhören muss, dem hilft diese statistische Wahrheit wenig.

„Anfangs habe ich ihm gesagt, das ist bloß ein Feuerwerk, und ich habe versucht zu lachen. Jetzt sagt er zu mir, das ist eine Bombe, und er weiß, dass es gefährlich ist, und rennt davon.“

Die größte Schwierigkeit im Alltag ist die Versorgung. Israel hat am Montag, den 9. Oktober, zwei Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff auf Israel, eine Totalblockade über Gaza verhängt. Verteidigungsminister Yoav Gallant verkündete: „Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Benzin – es ist alles geschlossen.“ Seither gehen die Vorräte rasch zur Neige, und die Vereinten Nationen sprechen von einer „desaströsen Situation“, „wachsender Lebensmittelunsicherheit und einem Gesundheitssystem am Rand des Kollapses.“

Vergangenen Donnerstag schließlich gab das Weiße Haus bekannt, dass erste Hilfslieferungen mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al Sissi vereinbart worden seien. Fürs erste würden 20 Lastwagen den Grenzübergang Rafah passieren. Sollten die Güter von der Hamas konfisziert werden, würde die Hilfe gestoppt werden, warnte US-Präsident Joe Biden. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagte, Israel werde die Lieferungen nicht vereiteln. Doch auch am Freitag blieb der Übergang geschlossen. Ägypten und Israel konnten sich nicht über das Prozedere einigen.

Wajiha schreibt: “Zwölf Flaschen Wasser kosteten vor dem Krieg sechs israelische Schekel (1,4 Euro). Jetzt kosten sie 15 Schekel und in manchen Gegenden kosten zwei Liter Wasser 90 Schekel. Außerdem muss man erst einmal jemanden finden, der einem Wasser verkauft.“

„Unser Nachbar hat eine Solaranlage, deshalb können wir zwei Stunden am Tag unsere Telefone laden. Sonst haben wir keinen Strom. Auch keine Hygiene, weil wir kein Wasser haben. Seit Beginn des Krieges haben wir kein Fleisch, kein Huhn. Die Lebensmittel sind schlecht. Ich habe Vitamin-Tabletten, die gebe ich meinem Sohn, damit er nicht krank wird.“

Die Leute der Hamas, die üblicherweise im Gazastreifen auch die Polizei stellen, sind untergetaucht. Wer hält die öffentliche Ordnung aufrecht?

„Niemand. Die Leute sind ruhig. Angespannt. Verängstigt. Aber es gibt keine Gewalt.“

Alles blickt nach Rafah, dem Grenzübergang zu Ägypten. Von dort soll die Hilfe kommen, und gelegentlich keimt eine leise Hoffnung auf, dass so etwas wie ein humanitärer Korridor auch Palästinensern – etwa Frauen, Kindern und Kranken – die Ausreise nach Ägypten ermöglichen könnte. Würde Wajiha aus Gaza flüchten, wenn sich eine Gelegenheit bietet?

„Es ist sehr schwer für mich, eine solche Entscheidung zu treffen. Ich stamme auf einer Flüchtlingsfamilie und ich weiß, wie hart es ist, ein Flüchtling zu sein. Aber gleichzeitig habe ich einen Sohn und ich erwarte noch ein Kind, und ich kann mir nicht vorstellen, sie hier dieser Gefahr auszusetzen. Wäre ich alleine, würde ich bestimmt hierbleiben. Aber ich habe Kinder. Es ist nicht fair, über solche Fragen nachdenken zu müssen.“

Eine Flucht von Palästinensern nach Ägypten scheint derzeit ohnehin ausgeschlossen. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al Sissi hat vergangenen Mittwoch erklärt, dass der Krieg aus seiner Sicht nicht nur gegen die Hamas geführt werde, sondern auch ein Versuch sei, „die Zivilbevölkerung von Gaza zum Auswandern nach Ägypten zu bewegen“. Seine Anschuldigung: Israel wolle die Bevölkerung von Gaza nach dem Krieg nicht wieder einreisen lassen und so deren Anspruch auf einen palästinensischen Staat endgültig zunichtemachen.

Damit ist auch der letzte denkbare Ausweg aus dem Kriegsgebiet versperrt. Wajiha hat keine Zeit, über all das nachzudenken. Sie muss sich darauf vorbereiten, demnächst ein Kind zur Welt zu bringen.

„Wir haben zwei Autos. Sie stehen mit leerem Tank vor dem Haus. Ich habe eine Flasche Benzin bei mir. Wenn die Wehen einsetzen, fahren wir zum Al-Awda-Spital im Lager Al-Nusirat. Es ist eigentlich eine Geburtenklinik, aber derzeit wird es auch für Verletzte verwendet. Ich hoffe, es gibt einen Platz für mich.“

Al-Nusirat, ein so genanntes Flüchtlingslager und de facto eine Stadt mit rund 90.000 Einwohnern, ist nur weniger Kilometer von Dair al-Balah entfernt. Das UN-Hilfswerk betreibt dort zwei Gesundheitszentren. Vergangenen Dienstag war Al-Nusirat Schauplatz eines israelischen Raketenangriffs. Fuad Abu Btihan, ein hoher Hamas-Funktionär, und mehrere seiner Verwandten wurde dabei getötet. Das Al-Awda-Spital ist bei einem Luftangriff am 11. Oktober beschädigt worden.

Wajiha schreibt: „Es ist gefährlich, aber es ist das einzige Spital, das ich erreichen kann.“

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur