Deutschlands Finanzminister, Wolfgang Schäuble, ist derzeit nicht unbedingt der beliebteste Mensch der Welt.

Griechenland-Krise: Wie böse sind die Deutschen?

Griechenland-Krise: Wie böse sind die Deutschen?

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Der Deutsche ist jetzt wieder hässlich und hassenswert. Moment mal, war er das nicht immer? Ein kurzer Attraktivitätscheck im historischen Zeitraffer: militaristischer Pickelhauben-Preuße, Kriegstreiber im Ersten Weltkrieg, massenmordender Nazi im Zweiten, doofer Wirtschaftswunder-Streber in der Nachkriegszeit, geopolitischer Drückeberger bis zur Millenniumswende, unersättlicher Export-Junkie eigentlich dauernd. Nur ganz allmählich gelang es unserem großen Nachbarn doch noch, seinen einstigen Schrecken vergessen zu machen, und er wurde ein verträglicher Zeitgenosse, dem man Verantwortung in Europa und der Welt zutraute. Dachte man jedenfalls, bis vor Kurzem. Plötzlich ist der Deutsche wieder ein Ekel. Er habe Griechenland gedemütigt, europäische Solidarität zerstört, die Europäische Union an den Rand des Zerfalls gebracht. In Karikaturen trägt er wieder Nazi-Uniform und errichtet Auschwitz neu.

Was ist passiert?

Von Berlin aus betrachtet war es so: Die Regierungen der Euro-Zone und die griechische Führung haben sich auf ein für Athen recht hartes, aber notwendiges Hilfsprogramm geeinigt, das den Griechen im Gegenzug 80 Milliarden Euro an Krediten verspricht. Deutschland hat dabei die Federführung übernommen und sein wirtschaftspolitisches Know-how beigesteuert.

Außerhalb Deutschlands, zum Teil aber auch im Lande selbst, sieht man es so: Die deutsche Regierung hat alle anderen auf rücksichtslose Weise und mittels Erpressung gezwungen, Griechenland zerstörerische Maßnahmen zu verordnen, um das hellenische Volk noch weiter in die Armut zu treiben.

Das zweite Bild setzt sich durch, jenes des bösen Deutschen. Oft sind es die Dissidenten im eigenen Land, die den Vorwurf am schärfsten formulieren. Zum Beispiel Reinhard Bütikofer, Chef der Grünen im EU-Parlament: „Ich glaube, man muss leider sagen: Der herzlose, herrische und hässliche Deutsche hat wieder ein Gesicht, und das ist das von Schäuble.“

Der alte Mann der deutschen Politik, der bereits als Abgeordneter im Bundestag saß, als der griechische Premier Alexis Tsipras noch nicht geboren war, spielt mit 72 eine neue Rolle in seiner Karriere: den Fiesen. Er war es, der den „Grexit“, also das Ausscheiden – oder den Hinauswurf – Griechenlands aus der Euro-Zone erst als ungefährlich, dann als verlockend darstellte; er vertrat in den Verhandlungen verlässlich die härteste Position, und er pocht ohne Anflug von Mitgefühl auf die Einhaltung von Regeln, auch wenn alle anderen längst nach Auswegen suchen.

Der Grieche hat jetzt lang genug genervt. (Thomas Strobl, stellvertretender CDU-Chef)

Doch Schäuble ist nicht allein. Kanzlerin Angela Merkel lässt ihn gewähren, Umfragen bescheinigen ihm außerdem derzeit mit 70 Prozent Zustimmung die besten Beliebtheitswerte seiner langen Karriere. In seiner Partei, der CDU, gelten Schäubles Meinungen als sakrosankt – und werden bei Bedarf noch weiter zugespitzt: „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“, ätzte Thomas Strobl, stellvertretender CDU-Chef und Schäubles Schwiegersohn, vergangene Woche.

Dazu kommt, dass die konservative Union in ihrer Griechenland-Politik vom Koalitionspartner SPD in fast allen Fragen unterstützt wird – und mitunter sogar verbal überboten. Wir haben es also nicht mit einem hässlichen konservativen Deutschen zu tun, sondern mit einem hässlichen Deutschen schlechthin.

Um sein Auftreten und seine Verbreitung zu verstehen, ist es nützlich, die einzige Phase zu betrachten, in der die Deutschen nicht als hässlich galten. Es war eine ziemlich kurze Phase.

Sie begann 1999, als die Bundesrepublik Deutschland unter einer rot-grünen Regierung seine Zurückhaltung ablegte und in Kosovo zum ersten Mal seit 1945 wieder an einem Krieg teilnahm – ohne UN-Mandat.

Jahrzehntelang hatte Deutschland daran gearbeitet, dem Rest der Welt die Angst vor einer Wiederkehr deutscher Aggression und Expansion zu nehmen – mit Erfolg. Der als „humanitärer Kriegseinsatz“ interpretierte Waffengang diente als Beweis der Normalisierung der Außenpolitik. Weitere folgten. Nach 9/11 sicherte Deutschland den USA „uneingeschränkte Solidarität“ zu, auch militärische. Die Zeit, als Entwicklungshilfe das einzige Betätigungsfeld deutscher Außenpolitik war, war vorbei. Die Deutschen hatten ihre schreckliche Vergangenheit glaubhaft aufgearbeitet und waren begeisterte Europäer geworden. Gleichzeitig entwickelte Berlin Selbstbewusstsein und bot den USA die Stirn, als es 2003 zusammen mit Frankreich und Russland die Teilnahme am Irak-Krieg verweigerte.

"Nationales Coming-out"

Die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland war in den Worten der Soziologin Dagmar Schediwy der Moment des „nationalen Coming-out“. Das Tabu des Patriotismus war gefallen, eine fröhliche Spielart des Nationalgefühls wurde zelebriert, Fahnen geschwenkt, „Schlaaaaand“ gerufen.

Dann kam die Euro-Krise und erwischte die Europäische Union eiskalt. Die existierenden Institutionen waren ungeeignet, um des Problems der von der Pleite bedrohten Staaten Herr zu werden. An einen neuen EU-Vertrag, um das zu ändern, war nicht zu denken – zu langsam, vom Scheitern bedroht. Also mussten die Mitgliedsländer ran. Das Stärkste unter ihnen zierte sich und wollte nicht führen. Die anderen waren zu schwach; Frankreich wirtschaftlich am Boden, Großbritannien dem Brexit näher als einer europäischen Initiative.

Eine Debatte über die Rolle Deutschlands brach los, das britische Magazin „Economist“ titelte: „Der zögerliche Hegemon“. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg blickte Europa auf sein größtes Mitglied und forderte Führungsstärke, anstatt diese zu befürchten.

Was dann kam, war ein langer Prozess, der in der Nacht von Sonntag auf Montag, den 13. Juli, in einem Sitzungssaal des Justus-Lipsius-Gebäudes in Brüssel kulminierte, wo der Vertrag über das Hilfsprogramm mit Griechenland in einer 17-stündigen Verhandlung erstritten wurde. Der Philosoph Jürgen Habermas formulierte sein Entsetzen gegenüber dem britischen „Guardian“ so: „Ich fürchte, dass die deutsche Regierung, inklusive ihrer sozialdemokratischen Fraktion, in einer Nacht alles politische Kapital verspielt hat, das ein besseres Deutschland in einem halben Jahrhundert angehäuft hatte.“

Angela Merkel und Wolfgang Schäuble haben den Vorwurf, zögerlich zu sein, Lügen gestraft. Sie haben die Führungsrolle eingenommen. Allerdings tun sie das nicht nur formal, sondern auch inhaltlich – mit streng deutschem Verständnis von sinnvoller Wirtschaftspolitik und mit deutscher Prinzipientreue.

Das deutsche Rezept

Merkels und Schäubles Theorie geht so: Staaten, die in Schuldenbergen zu versinken drohen, sollen sich an Deutschland ein Beispiel nehmen. Lohnkosten runter, Produktivität steigern, Arbeitsmarkt liberalisieren, Schuldenbremse. Dass die Deutschen diesem Rezept vertrauen, liegt daran, dass es bei ihnen funktioniert hat. Dass es im deutschen Mainstream unumstritten ist, erklärt sich wiederum daraus, dass es eine rot-grüne Regierung war, die dieses Programm („Agenda 2010“) begonnen hat, und eine konservativ geführte, die es fortsetzt.

Dass es Sinn macht, diese Wirtschaftsdoktrin zwanghaft anderen Ländern überzustülpen, ist mehr als umstritten. Dennoch hat sich Berlin in der Frage des Sparkurses in Europa weitgehend durchgesetzt. Der 2012 beschlossene Fiskalpakt, der das erlaubte Budgetdefizit begrenzt, ist ein Beleg dafür. Die Ausgestaltung der Hilfsprogramme für Portugal, Spanien, Irland, Zypern und Griechenland zeigt dies noch deutlicher. Das Beharren auf Strukturreformen und eiserner Budgetdisziplin bei gleichzeitiger Inkaufnahme sozialer Probleme nennt man Austerität. Sind die Deutschen bereits böse, weil sie dieses Programm verfechten?

Prominente Ökonomen wie Paul Krugman, Wolfgang Münchau, Joseph Stiglitz und Thomas Piketty werfen Deutschland vor, die Empfängerländer der EU-Hilfsgelder ins Verderben zu führen.

Darüber lässt sich streiten. Manche Prognosen der Star-Kommentatoren, wonach der eingeschlagene Weg in die endgültige Pleite führe, haben sich nicht bewahrheitet. Im Jahr 2015 verzeichnen alle Länder, die Euro-Rettungsprogramme über sich ergehen lassen mussten, Wachstum. Die Prognosen: Irland 3,6 Prozent, Portugal 1,6 Prozent, Spanien 3,3 Prozent, Zypern 0,5 Prozent. Auch Griechenland erwirtschaftete im vergangenen Jahr immerhin einen geringen Primärüberschuss (Haushaltsplus ohne Zinszahlungen für Kredite). Bleibt immer noch das Argument der sozialen Kälte. Doch auch da gibt es positive Neuigkeiten: In Spanien etwa, dem Land mit der (nach Griechenland) höchsten Arbeitslosenrate Europas, sank die Zahl der Arbeitssuchenden in diesem Jahr fünf Monate in Folge. 2016 soll der Wert erstmals unter die 20-Prozent-Marke fallen.

Die Wut auf die Deutschen entbrannte erst im Konflikt mit Griechenland so richtig – vor allem nach dem Referendum der Griechen am 5. Juli. Lange Zeit gelang es Merkel und Schäuble, alle Vorschläge an die Griechen einstimmig mit ihren Amtskollegen der Eurozone zu formulieren.

Sogar am Morgen nach Abschluss der endgültigen, höchst umstrittenen Einigung trat Frankreichs Staatspräsident vor die Medien und sagte: „Es war eine gute Nacht für Europa.“ Er wurde reihum gelobt, weil er den Grexit verhindert hatte. Für die Bedingungen an die Griechen kritisierte man ihn nicht.

Die Deutschen traf trotzdem tiefe Verachtung. Warum?

Sie hatten die Verhandlungen zu einem Ländermatch werden lassen. Andere Staatsmänner zeigten öffentlich immer wieder Verständnis für die Lage der Griechen und lobten deren Repräsentanten. Präsident Hollande würdigte „den Mut von Alexis Tsipras“. Zur selben Zeit schwadronierte Schäuble immer noch von den Vorzügen eines Grexit und ließ die Griechen wissen, dass ein Schuldenschnitt nicht denkbar sei, solange sie im Euro blieben.

Deutsche Medien trieben den Länderkampf auf die Spitze. Merkel wurde auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung mit Pickelhaube dargestellt, Schlagzeilen wie „Nehmt den Griechen den Euro weg!“ heizten die Atmosphäre auf.

Die Griechen selbst begingen zugleich unzählige Fehler. Als Tsipras die Verhandlungen abbrach und eine Volksabstimmung ausrief, spielte er auf verantwortungslose Weise mit dem Feuer. Hätte er das Ergebnis des seltsamen Urnengangs ernst genommen, wäre der Grexit besiegelt gewesen.

Doch den Griechen konnte man am Ende vieles nachsehen, weil sie aus Verzweiflung handelten und aus der Position des machtlosen Bittstellers. Deutschland hingegen paarte seine Rolle als größter Geldgeber mit Gnadenlosigkeit. Dabei kann Schäuble auch anders. Im Bundestag sagte er vor zwei Wochen: „Am schwersten haben es die Menschen in Griechenland, das ist doch überhaupt keine Frage.“

Dennoch: Dass Schäuble den Grexit immer und immer wieder ins Spiel bringt, macht ihn für die europäische Politik untragbar. Und ein deutscher Finanzminister ist immer ein wesentlicher Akteur der europäischen Politik.

Es ist eine schlechte Nachricht für Europa, dass die Deutschen jetzt derart desavouiert sind. Denn unter Europas Telefonnummer war in den vergangenen Jahren Angela Merkel erreichbar. Wer sollte den Job sonst machen? Am besten eine europäische Wirtschaftsregierung, denn: „Eine Wirtschaftsunion geht nicht, wenn man die europäischen Verträge nicht weiterentwickelt.“

Stimmt. Allerdings sagte das vergangene Woche auch ein gewisser Wolfgang Schäuble.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur