Rebellen im Vorort Ost-Ghouta
Ich lebe in Syriens Hauptstadt Damaskus: Alltag auf beiden Seiten der Front

Ich lebe in Damaskus: Alltag auf beiden Seiten der Front

Ich lebe in Syriens Hauptstadt Damaskus: Alltag auf beiden Seiten der Front

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Im weltweiten Entsetzen über die Gräueltaten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien sind die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Rebellen im Rest des Landes fast in Vergessenheit geraten. Aber die Auseinandersetzungen gehen mit unverminderter Härte weiter. Im Umland von Damaskus hat das Regime die Aufständischen zuletzt massiv zurückgedrängt, unter anderem durch massive Luftschläge. Gegenangriffe mit selbst gebauten Raketen forderten zwar Todesopfer, blieben aber weitgehend wirkungslos.

Von seiner Wohnung aus hat Iyad freien Blick auf Ost-Ghouta. Manchmal sieht er, wie Rauchsäulen aufsteigen. Was er nicht sehen kann: wie Humam dort um sein Leben bangt.

Iyad und Humam kennen einander nicht, aber unter anderen Umständen könnten sie durchaus Freunde sein. Beide sind gut ausgebildete junge Männer mit ähnlichem sozialen Hintergrund. ­Humam ist 29 Jahre alt, hat die Brighton Film School absolviert, mehrere Dokumentationen – unter anderem über die belagerte Stadt Homs – gedreht und berichtet nun als Freelancer aus dem Rebellengebiet. Iyad ist 38, hat Elektronik studiert, unterrichtet am College für Computertechnik, arbeitet als Programmierer und Web-Designer und versucht sich freiberuflich als TV-Journalist.

Iyad ist ein überzeugter Anhänger von Präsident Assad und wünscht sich die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurück. Damals war Syrien aus seiner Sicht ein funktionierender multireligiöser und multiethnischer Staat gewesen. Er glaubt fest daran, dass sich die Regierung an der Macht halten und die Aufständischen besiegen wird.

Humam ist zu einem entschiedenen Gegner des Regimes geworden, der selbst zwar nie zur Waffe gegriffen hat, aber nichts so sehr herbeisehnt wie den Sturz von Assad. Er ist zutiefst deprimiert über den Krieg, hat seinen Glauben an die Revolution und das syrische Volk trotzdem nicht verloren und hofft weiterhin auf Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie.

profil hat für den sechsten Teil der Serie „Ich lebe in …“ seit Dezember mit Iyad und Humam über Skype Kontakt gehalten: stets am gleichen Tag, im Abstand von wenigen Stunden. Den beiden wurden keine Vorgaben gemacht, worüber sie dabei berichten sollten – und dennoch kamen sie sehr oft auf die gleichen Dinge zu sprechen.

Martin Staudinger

Alle sind erschöpft – die Armee, die Rebellen, die Bürger (Iyad Khuder)

Eine kurze Begrüßung auf Skype geht sich gerade noch aus, dann ist der Monitor plötzlich dunkel und das Bild von Iyad Khuder verschwunden. Ein paar Minuten später kommt eine Textnachricht.

22. Dezember 2014 [19:15:02] Gerade ist der Strom ausgefallen, ich habe ein komplettes Blackout. Aber mein Router hängt an einer Autobatterie, deshalb kann ich zumindest Nachrichten schicken.

[19:21:19] Ich bin den ganzen Tag am Laufen, weil ich drei Jobs habe: Ich unterrichte am College für Computertechnik, bin Programmierer und Web-Designer und arbeite als Fernsehreporter. Das ist verrückt, ich weiß. Aber so komme ich durch.

[19:24:15] 2012 und 2013 waren ein Albtraum, aber in den vergangenen Monaten hat sich die Lage um einiges verbessert. Vorher haben es die Leute nicht gewagt, nach sechs Uhr abends noch einen Spaziergang zu machen – was für Syrer völlig abnormal ist, weil sie es gewohnt sind, bis in den frühen Morgen unterwegs zu sein. Bevor der Krieg begann, fuhren sogar die öffentlichen Verkehrsmittel rund um die Uhr. Jetzt hat sich alles fast normalisiert. Ich gehe am Abend aus, um Freunde zu besuchen, und komme manchmal auch sehr spät von der Arbeit nach Hause.

[19:32:43] Aber es ist alles sehr teuer geworden, ohne Übertreibung um das Vier- bis Fünffache. Die einzige Ausnahme ist Brot, weil es von der Regierung subventioniert wird. Ein Kilo, für das wir 25 syrische Pfund zahlen, kostet die Regierung 125 Pfund. Das muss man sich einmal vorstellen. Ah … der Strom ist zurück.

Die Sicherheitslage in der Stadt ist sehr gut, fast normal. Der letzte Terroranschlag war im Winter 2013. In den Vorstädten sieht es anders aus. Meine Wohnung liegt auf einer Anhöhe, ich schaue über ganz Damaskus, besonders gut ist der Blick auf das berüchtigte Ost-Ghouta. Dort wird immer noch gekämpft. Ich kann den Kriegslärm hören und Rauchsäulen aufsteigen sehen.

Manchmal glaube ich, es ist alles aus (Humam Husari)

Es ist nicht viel zu sehen von Humam Husari, als die Skype-Verbindung endlich klappt: Er trägt eine dicke Wollmütze und einen Schal, obwohl er zu Hause vor dem Computer sitzt. Es ist kalt in Damaskus.

22. Dezember 2014 Ich bin hier in einem riesigen Gefängnis eingesperrt. Seit 18 Monaten wird Ost-Ghouta belagert, 800.000 Einwohner sind von Regimetruppen umzingelt. Es ist die Hölle, ich will raus, aber ich kann es nicht riskieren, geschnappt zu werden. Bevor ich den Assad-Leuten in die Hände falle, bleibe ich lieber hier unter Beschuss. Und beschossen werden wir derzeit jeden Tag, in unterschiedlicher Intensität. Vergangene Nacht zum Beispiel hat es Douma getroffen, Artilleriegranaten sind auch ganz in meiner Nähe eingeschlagen – 200 Meter von meinem Büro entfernt. Aber daran haben wir uns hier irgendwie gewöhnt. Wir sagen: Wenn du die Stimme der Granate noch hörst, dann hast du überlebt.

Ich will nicht jammern: Mir geht es im Vergleich zu vielen anderen immer noch sehr gut. Ich habe ein Dach über dem Kopf und kann mir Essen kaufen, obwohl das krankhaft teuer ist. Ein Kilo Zucker kostet 20 Dollar, ein Kilo Brot neun bis zehn Dollar. Die meisten können sich das nicht leisten. Viele essen tagelang nichts. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls sehr schlecht. Das Regime lässt keine Medikamente herein. Als ich vor Kurzem eine schwere Grippe hatte, habe ich es nicht geschafft, irgendeine Medizin zu bekommen. Chronisch Kranke werden einfach dem Tod überlassen. Es gibt Tunnels, durch die alles Mögliche geschmuggelt wird. Aber das reicht bei Weitem nicht aus.

Den Milizen, die hier das Sagen haben, ist das egal. Sie schaffen es zwar, Ost-Ghouta zu verteidigen – aber nicht, die Menschen mit den Notwendigsten zu versorgen. Die eigentlich Schuldigen sind aber das Assad-Regime und seine Truppen mit ihrem Belagerungsring.

22. Dezember: Zerbomte Gebäude in einem umkämpften Vorort der Hauptstadt

29. Dezember 2014 (Iyad Khuder) Immer wird behauptet, dass das böse, böse Regime in Ost-Ghouta Zivilisten umbringe. Aber das ist westliche und saudische Propaganda, denn es gibt dort keine Zivilisten mehr: Wer wäre denn so verrückt, dort zu bleiben? In den Medien sehen wir immer wieder Aufnahmen von Kindern in zerstörten Häusern. Wenn schon, dann gibt es Familien, die als menschliche Schutzschilder missbraucht und daran gehindert werden zu fliehen. Manchmal passiert es, dass sie getötet werden.

Und immer wird behauptet, die Regierung sei böse, und die Rebellen hätten noble Motive – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Bloß stimmt das so nicht. Nur ein Beispiel: Vergangenen Monat haben die Militanten gedroht, das Trinkwasser von Damaskus zu vergiften, wenn sich die Armee nicht aus einigen Dörfern in der Umgebung zurückzieht. Und was hat dieses „brutale“ Regime, dieses „kriminelle“, getan? Es ist auf diese Forderung eingegangen. Also wer ist hier kriminell? Und wer sorgt sich um die Zivilisten? Die Militanten haben ihr Gebiet sehr gut befestigt. Sie haben sich darauf verlegt, sehr komplexe Tunnelsysteme zu bauen, bis zu zehn Kilometer lang und sogar mit Belüftungssystemen. Sie benutzen dafür deutsche U-Bahn-Baumaschinen, die Armee hat das herausgefunden. Und sie zwingen Entführungsopfer, in den Stollen als Sklaven zu arbeiten. Ich kenne persönlich jemanden, dem das passiert ist.

Ich frage mich überhaupt, wie viel Freiheit in den von Rebellen kontrollierten Gebieten gestattet wird. Der Gedanke, von Extremisten beherrscht zu werden, macht mir Angst. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass das nicht geschehen wird. Die Militanten haben alles Mögliche versucht, um Damaskus zu erobern, sind aber gescheitert – und das, obwohl die Türkei und Saudi-Arabien die Regierung stürzen wollen, selbst auf die Gefahr hin, dass Syrien zerstört wird. Erst gestern oder vorgestern hat Prinz Bandar bin Sultan (der inzwischen abgelöste Geheimdienstchef des saudischen Königreichs, Anm.) das gegenüber dem russischen Vize-Außenminister zugegeben. Ich trete für Toleranz gegenüber allen ein: Buddhisten, Juden, Christen. Aber ich habe genügend Gründe, Saudi-Arabien zu hassen.

Der IS ist sehr stark, aber nur durch den politischen Schutz amerikanischer und europäischer Geheimdienste. Wann immer der Westen entscheidet, dass er den IS nicht mehr braucht, wird es vorbei sein. Aber bis dahin lässt man ihnen ihre böse Ideologie, Waffen und viele gehirngewaschene Idioten, die der Westen ohnehin loswerden will.

29. Dezember 2014 (Humam Husari) Heute ist es sonnig. Wir mögen die sonnigen Tage nicht, weil das Regime die klare Sicht nutzt, um Luftschläge durchzuführen. Vor drei Tagen war es besonders schlimm: Militärjets flogen ungefähr 80 Angriffe, 150 Menschen sind gestorben. Ich vermute, das hat mit den Gesprächen in Moskau (Verhandlungen auf Initiative der russischen Regierung, an denen auch der UN-Sondergesandte Staffan De Mistura teilnimmt, Anm.) zu tun, die gerade stattfinden. Assad will demonstrieren, dass er immer noch stark genug ist, um die von der Opposition kontrollierten Gebiete anzugreifen – und dass seine Luftwaffe immer noch genügend Flugbenzin hat. Ich lebe allein, in einem sehr kleinen Zimmer, aber ich habe ungefähr einen Kilometer entfernt ein Büro in einem Keller. Das ist bei intensivem Beschuss wie ein Schutzraum.

Hier in Ost-Ghouta gibt es fünf große Oppositionsgruppen. Alle definieren sich als islamistisch, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Eine ist salafistisch und von saudischen Gelehrten beeinflusst. Eine andere würde ich als moderat islamistisch bezeichnen, ungefähr wie die Muslimbruderschaft. Die anderen sind einfach muslimisch. Aber alle streiten miteinander um die Vormacht und mischen sich in das tägliche Leben ein: Erziehung, medizinische Versorgung, Verteilung von Hilfsgütern und Spenden. Den „Islamischen Staat“ gibt es hier glücklicherweise nicht. Seine Anhänger wurden vor einem Jahr vertrieben, weil sie von den Milizen genauso als Feinde betrachtet werden wie Assad.

Wir sind in einer sehr kritischen Situation. Keiner weiß, was morgen geschieht, aber so ist der Krieg. Manchmal glaube ich, es ist alles aus, und das Regime wird uns überrollen. Manchmal wieder nicht. Ich habe keinen Plan für mehr als drei Tage.

29. Dezember: Weihnachts- und Neujahrsfeier in der Altstadt von Damaskus

12. Jänner 2015 (Iyad Khuder) Es ist jetzt sehr kalt in Damaskus, minus neun Grad, und die Versorgung mit Energie und Brennstoff funktioniert überhaupt nicht. Die Stromausfälle sind häufig und dauern stundenlang. Die Kämpfe gehen trotzdem weiter – sie werden wohl das Letzte sein, was aufhört.

Am meisten Sorgen macht mir die Batterie meines Laptops, sie arbeitet zwar, ist aber schon schwach. Ich bin gerade im Büro eines neuen englischsprachigen TV-Senders auf Internet-Basis, der gerade in den Startvorbereitungen steckt – in einem Monat soll es losgehen. Hier haben wir 24 Stunden Strom, das ist aber die Ausnahme in Damaskus. Unsere Reporter haben einen Rückblick auf 2014 geschrieben. Die Bilanz war: Die syrische Bevölkerung ist frustriert, weil sich alle Hoffnungen auf die Wiederkehr der Sicherheit zerschlagen haben. Man sieht keinen Frieden am Horizont, das ist die traurige Wahrheit.

Es stimmt: Alle sind erschöpft – die Armee, die Rebellen, die Bürger. Aber das ist nach vier Jahren ganz normal. Obwohl es in Damaskus inzwischen wieder relativ sicher ist, kämpfen wir mit den Nachwirkungen des Traumas. Und noch dazu bricht jetzt die ganze Versorgung zusammen. Ich habe zum Heizen nur einen kleinen elektrischen Radiator, mit dem sich gerade einmal ein Raum heizen lässt. Ich habe ihn in das Zimmer meiner Mutter gestellt und schlafe selbst in der Kälte, mit mehreren Schichten Kleidung. Die Wetterprognose sagt, dass es langsam wärmer wird. In fünf Tagen soll es null Grad haben.

12. Jänner 2015 (Humam Husari) So eine Kälte habe ich noch nie erlebt. Die meisten Menschen hier leiden enorm darunter. Noch dazu gibt es in ganz Ost-Ghouta keine Fensterscheiben: Die Einwohner haben sie herausgenommen, weil sie bei einer Explosion in der Nähe zersplittern würden, und stattdessen Plastikplanen aufgehängt. Die isolieren natürlich überhaupt nicht.

Weil das Brennholz knapp ist, verwenden manche schon Tierdung zum Kochen und Heizen. Früher hat man auch Plastik genommen, aber das ist inzwischen auch ungemein teuer, weil Chemiker Treibstoff daraus herstellen. Die Leute durchwühlen die Ruinen nach Kunststoffabfällen und verkaufen sie. Das ist einer der neuen Jobs, die bei uns entstanden sind. Mir geht es gut, ich kann Wohnung und Büro heizen. Das größte Problem für mich ist es, mein Auto in Gang zu bringen. Das liegt aber nur an den Temperaturen, nicht am Treibstoff. Das Verrückte an einer solchen Belagerung ist: Wenn man Geld hat, kriegt man alles. Und Geld schafft es durch alle Sperren. Es wird von Leuten, die mit beiden Seiten zusammenarbeiten, nach Ost-Ghouta gebracht, teilweise durch die Tunnels. Ich vermute aber auch, dass sie mit den Soldaten an den Checkpoints dealen und das Regime wegschaut, weil es letztlich davon profitiert. Die ganzen Geldwechsler hier gibt es jedenfalls immer noch. Bei ihnen kann man Dollars in syrische Pfund wechseln.

Die Kämpfe sind aufgrund der Wetterlage etwas abgeflaut. Aber innerhalb von Ost-Ghouta geht es rund. Eine große Miliz hier hat alle Angehörigen einer kleineren getötet oder verhaftet – 3000 Personen insgesamt. Jetzt bereiten sich auch die anderen Rebellengruppen darauf vor, angegriffen zu werden. Ich fürchte, dass sie bald alle aufeinander losgehen. Machtkämpfe sind in einer solchen Situation etwas Normales, und ich habe an und für sich ein korrektes Verhältnis zu allen – aber das macht mir wirklich Angst.

Ich denke wieder vermehrt daran, wie ich Ost-Ghouta verlassen könnte. Doch selbst wenn ich es schaffe, zu flüchten: Wohin soll ich gehen? Meine Familie ist zerstreut über Jordanien und die Türkei. Ich möchte nur irgendeinen Ort finden, wo ich den Rest meines Lebens mit meiner Familie verbringen kann. Es gibt da ein Mädchen in Amman. Wenn ich rauskomme, dann möchte ich heiraten.

2. Februar 2015 (Iyad Khuder) Gestern wurde in Damaskus ein Terroranschlag verübt: Sie haben eine Bombe unter einen Bus mit libanesischen Besuchern gelegt und ferngezündet. Es gab mindestens sieben Tote und 30 Verletzte. Aber das war ein Einzelfall. Elektrizität gibt es derzeit nur von neun bis zwölf Uhr und dann wieder von drei bis sechs. Da muss man sich genau überlegen, was man tut. Ich wollte mir gerade eine Rede von Hassan Nasrallah (dem Chef der libanesischen Hisbollah, Anm.) im Fernsehen anschauen – unmöglich, kein Strom. Früher habe ich seine Ansprachen nie versäumt. Aber sonst geht das Leben weiter. Die Schulen und Universitäten sind offen, außer in den von Rebellen kontrollierten Gebieten wurde der Unterricht nie unterbrochen – und das trotz vieler Angriffe und Propagandakampagnen der Militanten, die versuchen, die Menschen zu ängstigen und vom Schulbesuch abzubringen.

Mit dem TV-Kanal geht es nicht gut, die Website ist stillgelegt. Wenn ich zum Beispiel den Google Chrome Brow-ser oder den Flash Player downloaden will, kriege die Nachricht „Sorry, sie sind in einem Embargo-Land“. Da frage ich mich: Selbst wenn ich ein Rebell wäre – wie kann ich für die USA sein, wenn ich so blockiert werde?

2. Februar 2015 (Humam Husari) Es war ein blutiger Tag hier in Douma: neun Luftangriffe, die mehr als zehn Tote und viele Verwundete gefordert haben. Entschuldigung, aber ich bin heute zu deprimiert, um etwas zu schreiben.

2. Februar: Schwerverletzter Syrer in einem behelfsmäßigen Krankenhaus

10. Februar 2015 (Iyad Khuder) Ich war heute im Süden auf den Golanhöhen. Die syrische Armee hat dort in den vergangenen Tagen signifikante Fortschritte erzielt. Einige Dörfer, die von der Al-Nusra-Front (einer aus der Al Kaida im Irak hervorgegangenen islamistischen Terrorgruppe, Anm.) besetzt waren, wurden befreit. Von den Dorfbewohnern war längst niemand mehr da, die Milizen hatten die Häuser übernommen. Wir haben dort ausländische Kämpfer – Saudis, Tschetschenen und so weiter – gesehen, und da behaupten die Medien, die syrische Armee greife Zivilisten an.

Der Golan ist jetzt eine Pufferzone für das sogenannte Israel, also das besetzte Palästina geworden. Das ist doch verrück: Die Al-Kaida-Gruppen dort sind gut Freund mit den Israelis und bekämpfen uns als Ungläubige. Der Führer der „Armee des Islam“ (die größte Rebellengruppe in Ost-Ghouta, Anm.) hat die Bewohner von Damaskus mehrfach bedroht, jetzt hat er ohne Vorwarnung zugeschlagen. Das ist aber ein Zeichen für Schwäche: Er ist isoliert und will deshalb Angst und Schrecken verbreiten. Die Schlacht um Douma, die Hochburg der extremen Rebellen, steht knapp vor dem Sieg: Die Stadt wird durch die Armee von der Außenwelt abgeschnitten und langsam, aber sicher befreit. Das sind schwierige Zeiten, aber wir sind optimistisch, weil die Rebellen Territorium und Unterschlupf verlieren. Es geht jetzt nicht mehr um Ideologie oder pro/contra Assad, sondern um einen Krieg zwischen der syrischen Bevölkerung und ausländischen Mächten.

10. Februar 2015 (Humam Husari) Die vergangenen Tage waren zu hart. So etwas habe ich noch nie erlebt: jeden Tag Beschuss, jeden Tag Todesopfer und Verletzte. Die ganze Stadt hat sich verändert. Manche Straßen sind so zerstört, dass ich sie gar nicht wiedererkenne. Seit Anfang Februar haben wir 450 Tote in nur zehn Tagen gezählt. Die Leute haben große Angst, aber sie können nichts tun, als zu Hause zu bleiben und zu hoffen, dass der nächste Luftschlag nicht sie trifft – wenn sie überhaupt noch eine Wohnung haben. Mehr als 100 Familien sind obdachlos geworden und schlafen jetzt in den Moscheen.

Schule gibt es schon sehr lange nicht mehr, aber das ist in Wahrheit gut: viele Kinder in einem Gebäude – bei einem Treffer wäre das eine Katastrophe. Gestern habe ich mit einem kleinen Mädchen gesprochen. Es ist sieben Jahre alt und weinte, weil es seinen Bruder verloren hat und damit sein einziges Familienmitglied. Das sind ganz normale Geschichten hier, wie sie jeden Tag passieren. Es gibt eine Hilfsorganisation für Waisen und obdachlose Minderjährige, über die ich ein Video gedreht habe. Allein bei ihr sind 5000 Kinder registriert.

Auch einen Markt hat es getroffen. Es war ein Blutbad, aber eine Stunde danach waren die Stände schon wieder aufgestellt. Die Leute können gar nicht anders. Wenn sie nicht arbeiten, haben sie nichts zu essen. Ärzte haben mir erzählt, dass es mehr als 1000 Verletzte gibt. Es fehlt nicht nur an Medikamenten, sondern auch an spezialisierten Medizinern. Der einzige Gefäßchirurg in Ost-Ghouta zum Beispiel hat bei den Luftangriffen schwere Verbrennungen erlitten und kann nun nicht mehr operieren.

Ich muss aber dazu sagen, dass die Opposition ebenfalls attackiert hat. Damaskus wurde mit selbst gebauten Raketen beschossen, die acht Menschen töteten. Es ist natürlich unmöglich, das mit den Angriffen des Regimes zu vergleichen, gutheißen kann ich es trotzdem nicht – auch weil es den brutalen Gegenschlag richtiggehend herausgefordert hat.

6. März 2015 (Iyad Khuder) Ich arbeite jetzt an einer TV-Show für das Internet, die nichts mit Politik zu tun hat, sondern mit Wissenschaft, besonders Physik. Ich will der Welt zeigen, dass es in Syrien nicht nur böse Menschen gibt, sondern auch gute, die weiterhin an der Zivilisation interessiert sind. Es gibt einen lokalen Computerserver hier in Syrien, deshalb sollte es funktionieren. Auch die Elektrizitätsversorgung hat sich normalisiert. Vorher hatten wir nur alle vier Stunden für zwei Stunden Strom, und heute waren es vier Stunden in einem, das ist ein gutes Zeichen. Aber jetzt ist er gerade wieder ausgefallen.

Den Kriegslärm höre ich nur noch selten. Seit dem letzten Raketenangriff ist es ruhig geblieben, vielleicht haben die Rebellen in Douma keine Munition mehr, ich weiß nicht.

Kürzlich habe ich eine Syrerin kennengelernt, die gerade aus Kanada zurückgekommen ist – einerseits, weil sich dort niemand das Leben leisten kann, nicht einmal bei 60 Stunden Arbeit in der Woche. Andererseits ist sie es leid, dauernd schikaniert zu werden, nur weil sie aus Syrien stammt. Sie würde den kanadischen Behörden gern klarmachen, dass sie die Extremisten noch mehr verabscheut, als es die Kanadier selbst tun.

In Syrien wird sie niemand verdächtigen, ein Terrorist zu sein. Sie sagt, dass sie lieber in ihrem eigenen Land leidet, als in einem fremden Land schlecht behandelt zu werden.

6. März 2015 (Humam Husari) Gerade war ein kleines Mädchen an der Tür, das bettelte. Ich habe ihm ein wenig Geld gegeben. Viele müssen das tun, die Lebensmittel werden immer teurer, je länger der Winter dauert, und es gibt immer weniger zu essen. Die Menschen warten sehnsüchtig darauf, dass in zwei, drei Monaten die ersten Marillen reif werden. In Ost-Ghouta wird viel Obst und Gemüse angebaut. Im Sommer wäre also genügend da. Aber auch das Regime braucht die Ernte und nimmt sich einfach, was es will. Es gab auch wieder einen massiven Luftschlag: zehn Tote und ungefähr 40 Verletzte, sechs davon Kinder. Ich war im Spital, um zu filmen, und da saß ein Vater mit seinem verwundeten kleinen Sohn. Der Bub hat bei dem Chemiewaffenangriff vor eineinhalb Jahren (im Juli 2013 wurden bis zu 1700 Einwohner von Ost-Ghouta durch den Einsatz des Giftgases Sarin getötet, Anm.) seine Mutter und seine Schwester verloren. Und jetzt auch noch die Wohnung.

In solchen Momenten muss ich mich selbst überzeugen, optimistisch zu sein, und mich zwingen, etwas zu tun. Ich weiß nicht, wann es hier genug ist. Manchmal möchte ich nur weg, um ein paar Tage Abstand zu gewinnen, etwas Ruhe zu haben, mich entspannen zu können. Das heißt aber nicht, dass ich flüchten will. Dafür ist es zu wichtig, hier zu sein und berichten zu können.

Ich habe vieles gesehen, was ich nicht für möglich gehalten hätte: nicht nur Schreckliches, sondern auch ganz Einfaches. Den Buben zum Beispiel, der versuchte, Radfahren zu lernen, obwohl ihm seit einem Luftangriff ein Bein fehlt. So eine Geschichte wäre mir nicht im Traum eingefallen, als ich Dramaturgie studierte. Augenzeuge davon zu sein, ist wichtig, schwierig und traurig, und es zwingt mich zu Erfahrungen, die ich eigentlich nicht machen wollte, aber die ich auch nicht missen möchte. Und ich bin froh, dass ich diese Geschichten zumindest hinaustragen kann.

6. März: Luftangriff auf einen Vorort von Damaskus

20. März 2015 (Iyad Khuder) In Syrien feiern wir heute Muttertag. Meine Mutter und meine Schwester sind auf Besuch. Wir bereiten gerade das Essen zu, es gibt Hühnchen und Tabouleh (ein Salat aus Petersilie und Couscous, Anm.). Während der Krise haben viele Leute den Kontakt zu ihren Familien verloren und ihre Traditionen aufgegeben. Ich sehe meine Geschwister auch nur zwei- oder dreimal im Jahr, obwohl sie in Damaskus leben. Es ist schwierig geworden, in der Stadt voranzukommen: Staus, wenige Busse, kaum mehr Taxis, die noch dazu zehn Mal so teuer sind wie vor Beginn der Krise.

Meine Schwester ist Ärztin, sie lebt im Osten von Damaskus, nicht weit entfernt vom berüchtigten Stadtteil Douma, wo die fürchterliche „Armee des Islam“ Fuß gefasst hat. Das Viertel, in dem sie wohnt, heißt al-Assad und wurde erst vor 20 Jahren gebaut. Die Leute dort stammen aus allen Bevölkerungsschichten und Religionen, sind offen und generell regierungsfreundlich. Deshalb wurde die Gegend von den Rebellen immer wieder mit Mörsergranaten beschossen. Eine ist im Garten gleich neben dem Haus meiner Schwester gelandet, in einem Swimmingpool. Sie benutzt die Überreste jetzt als Blumenvase.

20. März 2015 (Humam Husari) Ich werde heute 29 Jahre, aber ich habe nicht gefeiert. Ich glaube nicht an Geburtstage, sie sind nur Tage im Leben wie viele andere auch. Ein paar Leute haben mir gratuliert, Familie, Freunde. Aber es gab zwei andere Gründe, um zu feiern: Am gleichen Tag vor einem Jahr hat meine Schwester ein Kind bekommen, meine andere Schwester hat geheiratet.

Die vergangenen Tage waren ruhig. Heute habe ich Militärjets gehört, aber keine Explosionen. Ich hoffe, es bleibt so. Ost-Ghouta ist jetzt sehr schön. Das Grün ist frisch, alles ist neu. Normalerweise würden die Menschen unter den Bäumen picknicken. Aber heuer ist niemand in der Laune dazu. Ich kann nur hoffen, dass wir diesen Frühling doch irgendwie genießen können.