30 Jahre Mauerfall: Stacheldrahtseilakte

Zeitgeschichte: An der Berliner Mauer starben mindestens 136 Personen. Eines der ersten Todesopfer war ein Fluchthelfer aus Österreich. Einer der waghalsigsten Fluchtversuche gelang einem Linzer.

Drucken

Schriftgröße

Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe Nr. 43/09 vom 19.10.2009.

Der 20-jährige Kellner Chris Gueffroy war der letzte DDR-Bürger, der auf der Flucht in den Westen an der Berliner Mauer erschossen wurde. Am 5. Februar 1989 beschloss Gueffroy, nachdem er einen Einberufungsbefehl zur verhassten Volksarmee erhalten hatte, gemeinsam mit einem Freund die Flucht nach Westberlin. Beide waren der Meinung, dass der Schießbefehl für DDR-Grenzsoldaten nicht mehr gelte. Ein tragischer Irrtum. Sie hatten nach Mitternacht schon die drei Meter hohe Mauer mit einem Wurfanker überwunden, als sie im Todesstreifen Alarm auslösten. Hastig rannten sie auf die letzte Hürde, einen hohen Metallgitterzaun, zu, als die Grenzsoldaten das Feuer eröffneten. Chris Gueffroy wurde von mehreren Kugeln getroffen und starb noch am Zaun. Sein Freund wurde verletzt abgeführt.

Die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ hat die Serie der tödlich verlaufenen Fluchtversuche von 1961 bis 1989 genau dokumentiert ( www.Chronik-der-Mauer.de). Es sind bewegende Schilderungen von verzweifelten Menschen, die im kommunistischen Staat keine Zukunft mehr sahen und die gefährliche Flucht wagten. Und sowohl unter den Todesopfern wie auch unter den Fluchthelfern gab es mehrere Österreicher.

Das zehnte Todesopfer, Dieter Wohlfahrt, war gebürtiger Berliner, aber wegen seines Vaters österreichischer Staatsbürger. Der 20-jährige Chemiestudent schloss sich einer aus Westberliner Studenten bestehenden Fluchthelfergruppe an, die nach dem Bau der Mauer im August 1961 vorwiegend Familienangehörige von früheren Mitschülern und Kommilitonen nach Westberlin brachte.

Tod an der Mauer

Die Gruppe wählte Fluchtrouten so lange durch Abwässerkanäle, bis diese durch Stahlgitter versperrt oder zugemauert wurden. Später wurden an abgelegenen Strecken der Mauer Löcher in den Stacheldraht geschnitten, um Flüchtlinge in den Westen zu schleusen – aus ideellen Motiven, Geld verlangten sie dafür keines. Wohlfahrt, der mit seinem österreichischen Reisepass ungehindert zwischen beiden Stadtteilen hin- und herreisen konnte, leistete wertvolle Dienste bei der Aufklärung neuer Fluchtrouten. Am 9. Dezember 1961 wollte Wohlfahrt mit einem Kollegen der Mutter einer bereits zuvor geflüchteten Studentin an einer verabredeten Stelle in Staaken/Spandau durch den dreireihigen Stacheldrahtzaun helfen. Doch die Frau hatte die Flucht verraten und Grenzsoldaten verständigt. Diese feuerten sofort auf die beiden Fluchthelfer. Während sein Freund unverletzt zurück in den Westen robben konnte, blieb Dieter Wohlfahrt schwer verwundet im Todesstreifen liegen. Westberliner Polizisten und britische Militärpolizei wollten Wohlfahrt zu Hilfe kommen. Doch DDR-Grenzer drohten mit ihren Gewehren. Wohlfahrt blieb mehr als eine Stunde zwischen den Stacheldrahtreihen liegen und starb noch vor dem Abtransport.

Westberliner Medien berichteten empört über den Vorfall. Die DDR-Behörden nannten Wohlfahrt einen „Provokateur“, der mit Schusswaffen und Sprengstoff einen Anschlag auf die „Staatsgrenze“ der DDR geplant habe. Doch Wohlfahrts Freunde versicherten, dass dieser nur einen Bolzenschneider bei sich getragen hatte. Ein Holzkreuz in Staaken erinnert heute an den tragischen Tod des österreichischen Staatsbürgers.

Flucht unterm Schlagbaum. Einer der spektakulärsten Fluchtversuche über die mehrfach abgeriegelte Grenzanlage gelang 1963 dem Linzer Heinz Meixner. Er raste am 5. Mai in einem gemieteten Sportwagen mit seiner Ostberliner Braut und seiner Schwiegermutter an der am strengsten bewachten Stelle in den Westen: unter dem Schlagbaum am Checkpoint Charlie.

Der als Elektrotechniker in Westberlin arbeitende Oberösterreicher hatte die riskante Flucht genau geplant. Zuerst kundschaftete er mit einem Motorroller die genaue Höhe des Grenzbalkens aus – knapp unter einem Meter. Danach mietete er einen britischen Sportwagen vom Typ Austin Healey Sprite, der ohne Windschutzscheibe und mit wenig Luft in den Reifen genau darunter passte.

Sonntag früh versteckte er seine Verlobte auf der Rückbank unter dem Verdeck, die Schwiegermutter zwängte sich in den Kofferraum. Meixner verlegte „als eine Art Kugelfang“, wie er später erzählte, im Kofferraum eine Reihe aus Ziegelsteinen.

"Als ich Pfiffe hörte, bin ich aufs Gas gestiegen"

Dann rollte er langsam zur Grenze am Checkpoint Charlie. Der DDR-Grenzbeamte fragte ihn verwundert, warum er trotz kühler Morgentemperatur ohne Verdeck fahre, und winkte ihn zur genaueren Kontrolle zur Zollstation weiter. Doch Meixner hielt dort nicht an und fuhr langsam weiter zur Slalomstrecke vor dem Schlagbaum. „Bis dahin war ich ein Tourist, der halt nicht wusste, dass man noch einmal anhalten muss“, berichtete Meixner einem Westberliner Radioreporter. „Erst als ich Pfiffe hörte, bin ich aufs Gas gestiegen, habe meinen Kopf eingezogen und bin unter dem Grenzbalken durchgerast.“ Die verdutzten Wachsoldaten kamen nicht einmal dazu, einen Schuss abzufeuern.

Meixners Fluchtweg wurde sofort verbarrikadiert. Schon einen Tag später wurden alle Grenzbalken der DDR mit vertikalen Verstrebungen ausgestattet.

In den siebziger Jahren versuchten sich österreichische Lkw-Chauffeure als Fluchthelfer. Doch bei den immer genaueren Kontrollen wurden solche Fluchtversuche häufig entdeckt. DDR-Staatsbürger wurden wegen „versuchter Republiksflucht“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die gescheiterten Fluchthelfer aus Österreich wurden nach ihrer Verurteilung wegen „Beihilfe zur Republiksflucht“ in den Ausländertrakt der gefürchteten Haftanstalt Bautzen eingewiesen.

„Gleich mehrere Fernfahrer aus Österreich saßen im Gefängnis Bautzen ein“, erinnert sich der frühere Botschafter Österreichs in der DDR, Friedrich Bauer. „Meine Beamten haben sie regelmäßig besucht, und wir konnten meist eine vorzeitige Haftentlassung erwirken.“

Ostberlin grüßt Wien. Dabei half die offizielle Anerkennung der DDR durch die Republik Österreich im Jahr 1972, zeitgleich mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Vor allem die verstaatlichte Industrie knüpfte enge Wirtschaftskontakte zum zweiten deutschen Staat. Die Voest errichtete eine Stahlanlage in Eisenhüttenstadt.

15.000 DDR-Österreicher

Aber auch im humanitären Bereich gab es Fortschritte. „Endlich war Österreich auch in der Lage, für die in der DDR lebenden Österreicher einzutreten“, schrieb Bauer in seinem Buch „Botschafter in zwei deutschen Staaten“. Das waren immerhin bis zu 15.000 Personen. Für diese oder angeheiratete Familienmitglieder wurde um Reisegenehmigungen angesucht. Nicht immer mit Erfolg. So ließen die DDR-Behörden meist nur einen Ehepartner in den Westen ausreisen, um die Heimkehr sicherzustellen. Lange Zeit durften überhaupt nur Pensionisten in den Westen reisen. Österreichische Doppelstaatsbürger wurden zwar zur Volksarmee einberufen, mussten aber ihren Dienst meist ohne Waffe in „Baubrigaden“ ableisten.

1980 gelang der Wiener Künstlergruppe Minus-Delta t eine neue Köpenickiade. Zwei Mitglieder, Karel Dudesek und Bernhard Müller, bereisten in US-Militäruniformen Polen und die DDR. Sie gaben an, einem „Austauschbataillon“ der NATO anzugehören, und wurden sogar in Kasernen des Warschauer Pakts eingelassen. In Warschau selber erhielten sie anstandslos ein Transitvisum in die DDR und ungefragt ermäßigte Fahrscheine für Soldaten. Erst in Westberlin bekamen sie Probleme. Eine US-Militärstreife wollte das Duo verhaften, weil sie unerlaubt in Tarnuniform herumspazierten.

Manchmal traten auch heimische Politiker ins Fettnäpfchen: So wollte Bundeskanzler Fred Sinowatz 1984, nach einem Besuch in Westberlin, einen Direktflug nach Wien vom Ostberliner Flughafen Schönefeld erreichen – bis er aufgeklärt wurde, dass dies einen diplomatischen Fauxpas sowohl für Westberlin wie auch die „Hauptstadt der DDR“ darstellen würde.

"Paneuropäisches Picknick“

Im Wendesommer 1989 wurden die DDR-Grenzen nach Ungarn und Österreich verlegt. Tausende DDR-Touristen wollten von Ungarn nach Österreich und weiter in die BRD reisen. Und der Zustrom wurde noch größer, als DDR-Bürger im West-Fernsehen Berichte vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs und später von der geglückten Flucht beim „Paneuropäischen Picknick“ bei St. Margarethen sahen.

„Es war eine total verrückte Zeit“, erinnert sich Lothar de Maizière, damals Rechtsanwalt und 1990 erster und letzter frei gewählter Premierminister der DDR. „Wir sahen im DDR-Fernsehen, wie Diplomaten der ungarischen DDR-Botschaft unsere Leute auf den Campingplätzen am Plattensee ansprachen, sie könnten trotz Ablauf der Reisegenehmigung straffrei in die DDR zurückkehren. Denn eigentlich hatten sie ja schon „Republiksflucht“ begangen.

Zur selben Zeit wurden andere DDR-Bürger daheim eben wegen dieses „Verbrechens“ verurteilt. De Maizière verteidigte im August 1989 einen jungen Mann, der von DDR-Grenzbeamten aus dem Zug nach Ungarn geholt wurde, weil er nur einen Fahrschein für die einfache Fahrt vorweisen konnte. „Dieser junge Mann ist an seiner eigenen Dummheit gescheitert. Er wurde zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt“, so de Maizière.

Der Christdemokrat besuchte Westberlin nicht sofort nach dem Fall der Mauer. „Ich war doch einen Tag nach dem Mauerfall zum neuen Chef der Ost-CDU gewählt worden, da wollte ich nicht so einfach rüberspazieren und schon gar nicht das Begrüßungsgeld kassieren.“ Erst nach einem Monat ging de Maizière erstmals zu Fuß in den Westen. „Ich wollte einfach meinen alten Schulweg wieder abschreiten.“