Fall der Berliner Mauer 1989

Kalter Krieg: "Am Ende hat der Neoliberalismus gewonnen"

Der Historiker Lorenz Lüthi hat vier Kontinente bereist, um die Spuren des Kalten Krieges zu erforschen. Über den Konflikt, der die Welt ein halbes Jahrhundert in Atem gehalten hat.

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profil: Als Schlagwort erlebt der Kalte Krieg ein Revival. Immer wieder taucht er medial auf. Unlängst, als die EU Sanktionen gegen China verhängt hat. Oder als Joe Biden Russland kritisierte. Sind solche Vergleiche überzogen?

Lüthi: Der Kalte Krieg ist ein verführerischer Begriff, weil er als Referenz funktioniert. Viele von uns haben ihn selbst miterlebt. Für eine Schlagzeile ist der Vergleich gut. Aber leider funktioniert er nicht.

profil: Warum?

Lüthi: Großmächte haben schon immer Konflikte miteinander ausgetragen. Aber der Kalte Krieg war mehr als das. Es war ein Konflikt zwischen zwei Weltsystemen. Eines davon – das Sowjetische – hat sich vom Rest abgekapselt, und zwar politisch, ökonomisch und auch gesellschaftlich. Heute ist das anders. Zwischen Europa und China gibt es enge wirtschaftliche Verflechtungen. Russland ist Teil der westlichen Welt geworden und damit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterworfen.

profil: Ihr neues Buch heißt „Cold Wars“, also „Kalte Kriege“ – warum der Plural?

Lüthi: Heute geht man in der Regel davon aus, dass es einen globalen Kalten Krieg gab, in dem die ganze Welt aufgegangen ist. Meine Sichtweise ist: Es gab viele parallele Konflikte. Einige Konflikte wurden vom Kalten Krieg initiiert, zum Beispiel die Teilung Deutschlands. Andere hat es schon vorher gegeben und wieder andere haben gar nichts mit der Rivalität zwischen Sowjetunion und USA zu tun. Der Titel ist eine kleine Provokation. Ich wollte die Leser anregen, den Singular zu hinterfragen und damit unseren eurozentristischen Blick. Mein Buch beginnt auch nicht in Europa, sondern in Asien.

profil: Der Zweite Weltkrieg ging dort zu Ende, wo der Kalte Krieg anfängt: in Asien. Genauer gesagt im geteilten Korea, wo die USA 1950 den Süden und die Sowjetunion den Norden unterstützen.

Lüthi: Der Kalte Krieg beginnt in Asien sogar noch früher: Im August 1945 mit dem Abwurf der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima. Die Sowjets haben das als Bedrohung wahrgenommen und Stalin hat sofort reagiert. Der Koreakrieg war aus meiner Sicht ein Bürgerkrieg, den der Westen zu einem Kalten Krieg stilisiert hat. Die Amerikaner sahen nun den Konflikt mit der Sowjetunion als globale Bedrohung. Sie spannten ein Netzwerk aus Alliierten, von Norwegen über Westeuropa, Südosteuropa, den Nahen Osten, Südostasien bis zum pazifischen Küstenstreifen. Damit wollen sie die Sowjetunion eindämmen. Aber viele der betroffenen Staaten machten nicht mit, weil sie ein globales Interesse hatten, sondern weil sie nationale Ziele verfolgten.

profil: Ihr Buch bricht mit der These, dass der Kalte Krieg ein „langer Friede“ war. Welche Zerstörung hat er im globalen Süden angerichtet?

Lüthi: Die These des „langen Friedens“ entstammt der Vorstellung, dass man mittels nuklearer Aufrüstung ein Gleichgewicht schaffen könne. Es ist eine eurozentristische These. Auch in Europa gab es Tote, aber wesentlich weniger als im Nahen Osten oder Asien, wo Millionen Menschen starben. Den „langen Frieden“ gab es nur in Europa.

profil: Auf der Adria-Insel Brioni entstand in den 50er-Jahren die so genannte Blockfreie Bewegung. Einer ihrer Gründungsväter war der jugoslawische Präsident Josip Broz Tito, ein ehemaliger Partisan, der ideologisch tief im Kommunismus verwurzelt war. Wieso wollte Tito bei keinem der Lager mitmachen?

Lüthi: Tito wird 1948 aus dem sozialistischen Block ausgeschlossen. Das zwang Jugoslawien, sich neu zu orientieren. Zuerst wandte sich Tito den Amerikanern zu und sicherte sich damit Wirtschafts- und Militärhilfe. 1951 versprach er sogar, im Falle eines Dritten Weltkrieges auf der Seite des Westens zu kämpfen. Nach dem Koreakrieg überlegte sich Tito, wie er Jugoslawien in der Welt stärken kann. Die Chance sah er im globalen Süden, wo sich eine Reihe von ehemaligen Kolonialstaaten unabhängig erklären. Tito sah Indien und Ägypten als Führer dieser neuen, post-kolonialen Welt. Der indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru war lange skeptisch, aber Tito gelang es, den ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser ins Boot zu holen. Mit dem Jahr 1961 beginnt dann die Vision einer blockfreien Welt.

profil: Diese Welt ist voller Widersprüche. Nasser nahm Waffen aus Moskau an und ließ zu Hause Kommunisten verhaften.

Lüthi: Das ist die Ironie der Geschichte. Tito und Nasser wollten keinem der Blöcke angehören. Aber der Jugoslawe bekam Waffen von den Amerikanern und der Ägypter von den Sowjets. Die Blockfreien waren eine charismatische Bewegung, die von solchen Persönlichkeiten gelebt hat. In den 70er-Jahren war nur noch Tito am Leben und formte die Blockfreien so, wie er es gerade brauchte. Nach dem Juni-Krieg 1967 lehnte sich Jugoslawien an die Warschauer Pakt Staaten an. Dann, als die Sowjets 1968 in der Tschechoslowakei einmarschieren, versuchte er, das Ruder wieder herumzureißen. Damit untergrub er die Glaubwürdigkeit der Blockfreien, die in den 70er-Jahren von anti-amerikanischen und linken Staaten wie Kuba und Nordkorea vereinnahmt wurden.

profil: Um die Blockfreien am Leben zu halten unternahm Tito ausgedehnte Reisen. Bis heute sind die Geschenke, die er aus fernen Länder bekommen hat, in Belgrad ausgestellt.

Lüthi: Und viele Serben reisen bis heute visumfrei in afrikanische und asiatische Staaten. Das ist ein Überbleibsel der Blockfreien und somit des Kalten Krieges.

profil: Noch so ein Überbleibsel ist Afghanistan, wo die Taliban dieser Tage auf dem Vormarsch sind. Die USA hat im Kalten Krieg radikal-islamistische Mudschahedin unterstützt, um die Sowjetunion zu schwächen.

Lüthi: In den 60er-Jahren war Afghanistan ein stabiler Staat mit König und Verfassung. Kommunisten wie Islamisten wollten die Monarchie in den 70er-Jahren stürzen. Erfolgreich waren am Ende die Kommunisten und so kam es 1979 zur Invasion der Sowjets. Aus zwei Gründen. Moskau sah Afghanistan als eine weitere Revolution an seinen unmittelbaren Grenzen, die unbedingt unterstützt werden musste. Die erste war 1949 der Aufstieg des Kommunismus in China.

Moskau sah aber auch die Gefahr des Islamismus, der drohte, von Pakistan und Iran auf Sowjetrepubliken in Zentralasien überzuschwappen. Saudi-Arabien und der Iran sahen im Afghanistankrieg einen Kampf gegen die Ungläubigen. Die USA wiederum blickten auf den Konflikt mit der Brille des Kalten Krieges: Sie wollten die Sowjets zurückstoßen und unterstützten die Islamisten. Damit kreierten sie eine Gefahr, mit der wir bis heute leben.

profil: Dabei stand die Sowjetunion damals kurz vor dem Kollaps.

Lüthi: Dennoch gab es in den USA Politiker, die die Sowjetunion als große Gefahr stilisierten, also als einen bis an die Zähne bewaffneten Feind, gegen den man sich wehren müsse. Man sah Afghanistan als Möglichkeit dafür. Rückblickend wissen wir: Die Sowjetunion war ein Riese auf wackeligen Beinen. Moskau pfiff wirtschaftlich aus dem letzten Loch.

profil: Kam der Mauerfall 1989 überraschend für Sie?

Lüthi: Meine Mutter hatte Verwandte in der DDR. Ich bin in der Schweiz geboren aber im Grund genommen mit der Mauer aufgewachsen. Meine Mutter hat monatlich Kaffee und Schweizer Schokolade in die DDR geschickt. Ich kann mich an Verwandte erinnern, die in den 80er-Jahren erzählt haben, dass es in der DDR bergab gehe. Aber dass sie zusammenbricht? Das konnte sich damals niemand vorstellen.

profil: Und rückblickend als Historiker: Sind Sie da immer noch überrascht?

Lüthi: Heute wissen wir, dass die DDR bereits in den frühen 80er-Jahren am Zerbrechen war. Rückblickend ist für mich nicht überraschend, dass die Mauer 1989 fiel, sondern wie lange es gedauert hat, bis sie fiel.

profil: Im kollektiven Gedächtnis ist der Kalte Krieg damit vorbei. Wie bebt er heute nach?

Lüthi: Spuren sind da. Aber man muss sich fragen: Sind das Nachwehen des Kalten Krieges oder von Konflikten, die im Kalten Krieg stattgefunden haben? Es ist schwierig, das auseinanderzuhalten. Ein Effekt ist sicher der Kollaps der demokratischen Linken in den 90er-Jahren. Eine weitere Nachwehe ist eine Frage: Wer hat eigentlich den Kalten Krieg gewonnen?

profil: Die USA?

Lüthi: Aus meiner Sicht gab es keinen Sieger. Die Sowjetunion hat das Rennen aufgegeben und damit blieb der Westen übrig.

profil: Dann anders gefragt: Hat der Westen ideologisch gewonnen?

Lüthi: Der Westen hat die Sowjetunion überlebt, aber es ist der Neoliberalismus, der am Ende gewonnen hat. Als sich Osteuropa öffnete, sahen die Länder vor allem den Sieg der Demokratie. Aber was sie bekommen haben war ein neoliberales Wirtschaftssystem.

profil: Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat nach der Wende „Ende der Geschichte“ ausgerufen. Die liberale Demokratie habe sich durchgesetzt. Ein Irrglaube?

Lüthi: Fukuyamas These war gewagt und ich bewundere ihn dafür. Wir Historiker sind da vorsichtig, denn wir sehen, wie sich die Welt laufend verändert. Mir war damals klar, dass das nicht das Ende Geschichte sein kann. Wenn wir nach Ungarn oder Polen blicken, dann sehen wir, dass Reformen teilweise gescheitert sind. Sie haben dazu geführt, dass sich die Bevölkerung wieder von der liberalen Ordnung abgewandt und opportunistische Politiker das für ihre Karrieren ausgenutzt haben. Aus meiner Sicht ist das eine verpasste Chance.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.