„Wo bist du, #MH370?”

Vermisste Boeing 777: „Wo bist du, #MH370?”

Malaysia. Der mysteriöse Flug MH370

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Gruseliger noch, als permanent überwacht zu werden, ist, wie es scheint, nur eines: im Netz der Überwachungssysteme verloren zu gehen. Seit am Samstag vorvergangener Woche um 1.30 Uhr früh Ortszeit eine Boeing 777 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking vom Radar verschwand und während der gesamten Woche unauffindbar blieb, hat die Weltöffentlichkeit ein mulmiges Gefühl erfasst. Der Kurznachrichtendienst Twitter, ein verlässlicher Seismograf für globale Hysterie, verzeichnete unter dem Kürzel #MH370 einen unablässigen Strom an wilden Verschwörungen, dämlichen Witzen und halb gesicherten Fakten.

Nicht nur das: Das US-Unternehmen DigitalGlobe, spezialisiert auf hochauflösende Satellitenbilder, richtete zwei seiner Satelliten auf die Zone, in der die Boeing vermutet wurde, und stellte die Bilder online. So konnten - nach Angaben eines Sprechers von DigitalGlobe - "Hunderttausende von Internet-Usern“ Pixel für Pixel einer enormen Bilddatenmenge durchforsten und auf tomnod.com verdächtige Stellen kennzeichnen.

Doch bis Redaktionsschluss hatten weder der Internet-Schwarm noch die vor Ort operierenden Suchtrupps, darunter der Zerstörer USS-Kidd, High-Tech-Aufklärungsflugzeuge der US-Streitkräfte sowie Einheiten der indischen Marine, Luftwaffe und Küstenwache auch nur ein Stück des verschollenen Jumbo-Jets entdeckt.

Einigermaßen verstört musste das Kollektiv der potenziellen und tatsächlichen Flugpassagiere - also mehr oder weniger zwei Drittel der Weltbevölkerung - erfahren, dass es tatsächlich Möglichkeiten gibt, ein ungefähr 60 mal 60 mal 20 Meter großes Flugzeug mit 239 Personen an Bord von allen Radarschirmen zu entfernen. Es gab keinen Notruf der Piloten, keinen Mucks der Notrufbake (Emergency Locator Transmitter), die etwa bei Wasserkontakt ein Alarmsignal aussendet. Gegen Ende der vergangenen Woche hieß es in Medienberichten, Satelliten hätten "Ping“-Signale - schwache elektronische Impulse, die regelmäßig von den Triebwerken ausgesandt werden - noch längere Zeit nach dem Verschwinden der Maschine vom Radar aufgenommen. Das würde bedeuten, die Boeing wäre möglicherweise noch Stunden unterwegs gewesen. Prompt wurde das Suchgebiet im Indischen Ozean ausgeweitet.

"Wo bist du, #MH370?"
Wenn Flugzeuge abstürzen, sind die möglichen Gründe dafür meist: schlechtes Wetter, Versagen der Piloten oder Gebrechen an der Maschine. Da der Fall MH370 so mysteriös blieb, wurden weitere Theorien in Betracht gezogen: ein - versehentlicher oder absichtlicher - Abschuss durch eine Rakete; eine Entführung durch äußerst fachkundige Kriminelle oder Terroristen, die wussten, wie man den Radarpunkten ausweicht; ein Selbstmord eines Piloten, der das Flugzeug vorsätzlich im Ozean versenkte.

Jede dieser Erklärungen wäre für sich genommen spektakulär, nicht jedoch so beunruhigend wie die Ungewissheit. "Wo bist du, #MH370?“, rief Twitter-Nutzer "Luhan“ stellvertretend für viele Besorgte in den virtuellen Kosmos. Es war so etwas wie ein Maddie-Moment, verstörend wie das Verschwinden des drei Jahre alten britischen Mädchens Madeleine McCann aus einer portugiesischen Ferienanlage im Mai 2007. Damals wurde eine Urangst aller Eltern wahr. Diesmal sind Flugängstliche die Fokusgruppe.

Schrille Thesen
Wird uns Flug MH370 auf ewig beim Boarding verfolgen? Nein. Die schrillen Thesen ("Das ist in Nordkorea gelandet“, von @Ameliegnom; "Der Flug #MH370 wurde von der US-Regierung entführt“, von @freak_out) werden an Unterhaltungswert verlieren. Der Crowdsourcing-Suchtrupp dürfte wohl ermatten, und am Ende wird höchstwahrscheinlich die konventionelle Suche zum Erfolg führen. Weshalb das so lange dauern kann, versuchte die US-Zeitung "Washington Post“ auf ihrer Webseite zu verdeutlichen. In einem Netz von 160.000 Quadraten, das je eine Quadratseemeile symbolisierte, war ein Flugzeug in maßstabgetreuer Größe eingezeichnet. Per Mausklick konnte man die Maschine so lange vergrößern, bis sie sichtbar wurde. In der Realität allerdings ist das quadratische Netz ein Ozean, und Klicken hilft nicht.

Es dauerte fast zwei Jahre, bis Suchmannschaften die Blackbox des Airbus A330-200 fanden, der 2009 auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris über dem Atlantik abgestürzt war. Damals allerdings wurden an der vermuteten Absturzstelle bereits wenige Tage nach dem Unglück Wrackteile und Leichen aus dem Wasser geborgen.

MH370 ist bereits jetzt einer der schwierigsten Fälle für die internationalen Luftfahrtbehörden. Solange nichts gefunden wird, gibt es nichts zu untersuchen, und das schafft Verunsicherung. Der letzte Funkspruch aus dem Cockpit von MH370 lautete: "Na dann, gute Nacht!“

Mitarbeit: Ines Holzmüller

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur