Martin Staudinger: Volkswillenlos

Martin Staudinger: Volkswillenlos

Was Europa aus dem Brexit-Desaster in Großbritannien lernen könnte.

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„Don’t know what I want But I know how to get it“ Sex Pistols, „Anarchy In The UK

Das Land gespalten, die Demokratie angeknackst, die Zukunft ungewiss: Großbritannien erlebt gerade, was passieren kann, wenn Politiker das Instrument der direkten Demokratie skrupellos instrumentalisieren und dabei in Kauf nehmen, dass sich der viel zitierte Volkswille so richtig austobt.

Genau das hat der damalige Premierminister David Cameron getan, noch dazu aus erkennbar egoistischen Motiven: Um sein politisches Überleben gegen den euroskeptischen Flügel der konservativen Partei zu verteidigen, versprach er 2013 eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU.

Ehrt es ihn denn nicht, dass er dieses Versprechen tatsächlich einlöste, nachdem er 2015 die Wahl gewonnen hatte? Nein. Denn damit reduzierte Cameron eine Zukunftsentscheidung von immenser Tragweite für das Vereinigte Königreich und ganz Europa auf eine simple Ja/Nein-Frage, die das britische Elektorat nach Tageslaune am 23. Juni 2016 beantworten durfte.

Mit der Entscheidung zum Austritt hat sich Großbritannien hingegen freiwillig in die Position des Schwächeren begeben.

Das hatte natürlich genauso für den Beitritt zur EU gegolten, der am 5. Juni 1975 beschlossen wurde – und zwar ebenfalls per Volksabstimmung. Der substanzielle Unterschied: Durch die Mitgliedschaft wurde Großbritannien Teil eines Projekts, dessen Richtung und Entwicklung es im eigenen Sinne mitgestalten konnte. Die Chance, das zu tun, nutzte das Land durchaus erfolgreich; etwa, indem es den sogenannten „Britenrabatt“ ertrotzte, der ihm einen Sonderstatus innerhalb der Union verschaffte.

Mit der Entscheidung zum Austritt hat sich Großbritannien hingegen freiwillig in die Position des Schwächeren begeben, der bis zu einem gewissen Grad nehmen muss, was ihm angeboten wird: in diesem Fall von der EU, die naturgemäß bestrebt ist, ihre eigenen Interessen zu schützen. Sollte irgendjemand auf der Insel geglaubt haben, dass splendid isolation ein guter Ausgangspunkt für Verhandlungen mit einem deutlich größeren Gegenüber ist, dann dürfte er mittlerweile eines Besseren belehrt sein.

Das scheint auch durchaus der Fall zu sein. Aktuellen Umfragen zufolge befürwortet derzeit nur mehr ein Drittel der Wahlberechtigten den Brexit, demgegenüber sprechen sich mehr als 51 dezidiert für einen Verbleib in der EU aus (elf Prozent sind unentschlossen).

Rückgängig machen lässt sich die Entscheidung de facto aber nicht mehr.

Rückgängig machen lässt sich die Entscheidung de facto aber nicht mehr. Dafür sorgen die Euroskeptiker unter den Abgeordneten, die den Austritt gnadenlos vorantreiben, auch wenn sich der Volkswille, auf den sie sich dabei berufen, mittlerweile geändert haben mag.

Die Idee, das Ergebnis der seinerzeitigen Abstimmung durch ein zweites Referendum zu revidieren, klingt naheliegend. Das zu tun, könnte der britischen Demokratie aber noch mehr schaden und die bereits bestehende Kluft zwischen den Befürwortern und Gegnern des Brexit weiter vertiefen.

Wie man es auch dreht und wendet – die Briten kommen aus dieser Nummer nicht mehr heraus, und daraus lassen sich doch einige Lehren ziehen.

Eine lautet: Wenn man schon Entscheidungen, die über Generationen hinausreichen, per Referendum treffen will, dann nicht ohne Sicherheitsmaßnahmen. Großbritannien könnte heute womöglich deutlich besser dran sein, wenn vor zwei Jahren lediglich darüber abgestimmt worden wäre, der Regierung ein Mandat für Verhandlungen über einen Brexit zu geben. Das würde die Möglichkeit eröffnen, den tatsächlichen Austritt erst dann zur Debatte zu stellen, wenn die damit verbundenen Folgen abzuschätzen sind.

Demokratie schützt nicht vor der Gewissenlosigkeit demokratisch gewählter Politiker – und ebenso wenig vor der Unvernunft des Elektorats.

Das könnte allerdings eine Reihe von Problemen entstehen lassen. Das größte und drängendste wäre vermutlich, dass politische Glücksritter versuchen würden, mit Austrittsdrohungen und -verhandlungen Druck auf den Rest der Gemeinschaft zu machen, um ihre Interessen durchzusetzen. Und das lässt sich wohl nicht verhindern.

Letztlich bleibt vor allem eine Binsenweisheit: Demokratie schützt nicht vor der Gewissenlosigkeit demokratisch gewählter Politiker – und ebenso wenig vor der Unvernunft des Elektorats. Ein Desaster à la Brexit lässt sich nur dann verhindern, wenn eine ausreichend große Zahl von Wahlberechtigten überlegt, worauf sie sich einlassen, bevor sie ihr Kreuz unter die nächstbeste populistische Verlockung setzen.

„Wenn das Land seit 2016 etwas gelernt hat, dann das: erst mal zu schauen, bevor es springt“, kommentierte das Nachrichtenmagazin „Economist“, das erklärtermaßen gegen den Brexit ist, vergangene Woche.

Auch wenn das stimmen sollte, kommt die Erkenntnis für Großbritannien leider zu spät. Im Rest Europas dürfte sie sich zumindest so weit herumgesprochen haben, dass anscheinend nicht einmal die ungeniertesten Populisten Lust darauf haben, sich ein Beispiel an den Brexitieren zu nehmen.