Ausland

Nord-Zypern: Das vergessene Volk

Wie die Corona-Pandemie ein unverhofftes Ende des Zypernkonflikts bringen könnte.

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“Türkische Republik Nordzypern für immer” steht in großen, roten Lettern am heruntergekommenen Grenzgebäude in der zyprischen Hauptstadt Nikosia - oder Lefkoşa, wie sie auf Türkisch heißt. 

Die knapp 300.000 Einwohner-Stadt im Zentrum der Mittelmeerinsel erfüllt eine doppelte Aufgabe: Sie ist Regierungssitz der Republik Zypern - aber auch Hauptstadt der Türkischen Republik Nordzypern, die international nicht anerkannt wird. Nikosia trägt somit den Titel der letzten geteilten Hauptstadt Europas.

Wie ein Fluss schlängelt sich die streng bewachte Pufferzone der Vereinten Nationen durch die zweigeteilte Stadt. Die sogenannte “Greenline” wurde 1974 errichtet und ist an manchen Stellen gerade mal zwangzig Meter breit. Dennoch wurde sie zum Symbolbild eines der am längsten andauernden ethnischen Konflikte der Geschichte. 

“Fahren Sie mit dem Auto ja nicht in die besetzten Gebiete”, heißt es an den Mietwagenschaltern am Flughafen Larnaca in der Republik Zypern. “Das ist verboten.” Das ‘besetzte Gebiet’ ist die sogenannte Türkische Republik Nordzypern (TRNZ), ein De-facto Regime, das lediglich von der Türkei als Staat anerkannt wird. Im Süden der Insel von einer “Republik Nordzypern” zu sprechen ist ein Affront. Zu tief sitzt bei vielen noch die Erinnerung an den langen, blutigen Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit der Insel von der britischen Kolonialmacht 1960. Nach zwei teils völkerrechtswidrigen Invasionen der Türkei Anfang der 1970er hat die nordzyprische Kommunalvertretung 1983 die Unabhängigkeit ausgerufen. Seither ziehen sich Stacheldraht, Sandsäcke, Wasserfässer und Schlagbäume quer durch das Landschaftsbild der Insel. 

Seit 1974 teilt die UN-Pufferzone (grün eingezeichnet) die Insel. Im Süden die Republik Zypern, im Norden die (international nicht anerkannte) Türkische Republik Nordzypern.  

Kein Durchkommen

Zu Beginn der Corona-Pandemie fühlten sich viele Zyprerinnen und Zyprer wieder in die Zeit dieser Isolation zurückversetzt. Knapp 30 Jahre lang war die Pufferzone für die Bewohnerinnen und Bewohner das Ende der jeweiligen (Insel-)Welt. Erst 2003 wurden die Grenzen geöffnet und das Passieren der Greenline für eine ganze Generation alltäglich.

Doch plötzlich gingen die Schlagbäume wieder nach unten. Mit dem Auftreten der ersten Infektionsfälle schloss die Republik Zypern im Februar 2020 einseitig die Übergänge an der Pufferzone. Dies geschah am bisherigen Höhepunkt des interkommunalen Austausches. Die türkische Lira, die auch Währung in der TRNZ ist, war auf einem Tiefstand, was viele griechische Zyprer und Touristen zu Einkaufstouren im Norden nutzten. Außerdem wurde der soziale Austausch zwischen den seit der Grenzöffnung 2003 entstandenen interkommunalen Freundschaften unmöglich gemacht. Im Juni 2021 wurden die Grenzen zwischen den beiden Inselteilen zwar wieder geöffnet, doch die Türkische Republik Nordzypern blieb isoliert.  

Nikosia ist die letzte geteilte Hauptstadt Europas. Im Vordergrund der griechisch-zyprische Stadtteil, in der Mitte (grüner Streifen) die UN-Pufferzone, im Hintergrund der türkisch-zyprische Stadtteil (Lefkoşa

Die Pandemie als Ausrede

“Anstatt in der Pandemiebekämpfung zusammenzuarbeiten, wurde die einzige Lebensader zwischen den Volksgruppen, die Grenzübergänge, gekappt”, ist die türkisch-zyprische Journalistin Esra Aygin überzeugt. “Die Pandemie wurde als Ausrede dafür verwendet, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gemeinschaften weiter auseinanderzutreiben." Interkommunale Ansätze zur Pandemiebekämpfung auf der Insel blieben großteils aus. Man hätte hier eine einmalige Chance verpasst, die beiden Völker gegenseitig anzunähern, so die Journalistin. Aber das Gegenteil sei passiert.

Die Grenzschließung hinterließ Spuren. Die Straßen in der Altstadt Nord-Nikosias wirken trist. Viele Rollläden von Geschäften sind geschlossen, Häuser heruntergekommen. Reklametafeln von türkischen Produkten zieren das Straßenbild. Während sich der Tourismus in der Republik Zypern nach der Corona-Pandemie weitgehend erholen konnte, verirren sich nur wenige Urlauberinnen und Urlauber hinter die wieder geöffnete Pufferzone. 

Die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordniveau, die Baubranche stand kurzzeitig still, und Finanzhilfen aus der Türkei gerieten ins Stocken. Ankara ist Schutzherrin des Nordens, stellt Währung, Handynetz und im Prinzip die gesamte Infrastruktur des Inselteils, der gerade einmal so groß ist wie das Burgenland. Das macht die TRNZ zum Bittsteller der Türkei. So gut wie jede politische Entscheidung muss mit Ankara abgestimmt werden. Seit den 1950ern hat die Türkei die türkisch-zyprische Gemeinschaft sowohl kulturell als auch politisch und wirtschaftlich stark geprägt. Über viele Jahre hinweg sahen die Nordzyprer die Türkei als Retterin und Vorbild an. Vor allem in jüngerer Zeit war das politische Verhältnis jedoch angeschlagen, allen voran zwischen dem linken Altpräsidenten Mustafa Akinci und dem türkischen Präsidenten Erdogan. Doch der im Jahr 2020 neugewählte rechtskonservative Präsident Ersin Tatar gilt als äußerst türkeitreu und baute das Verhältnis wieder stark aus.

Angst vor der Annexion

Das ist mitunter auch einer der vielen Gründe, weshalb die jahrzehntelangen Verhandlungen über eine Lösung des Zypernkonflikts festgefahren sind. Die politische Elite im Norden und in der Türkei beharrt auf eine Zweistaatenlösung. Eine Wiedervereinigung mit dem Süden kommt für die Regierung Ersin Tatars mittlerweile nicht mehr in Frage. Eine Zweistaatenlösung wird wiederum von der Republik Zypern und der Europäischen Union abgelehnt. Und auch die Covid19-Pandemie hat die Volksgruppen physisch, sozial und wirtschaftlich voneinander getrennt. Eine Sackgasse. “Die Teilung wird zur Dauerlösung. Wir haben eine ähnliche Situation wie in Taiwan. Das ist das Schlimmste, was uns passieren kann”, so Christos Marangos, Direktor des griechisch-zyprischen Meinungsforschungsinstituts CYMAR.

Es geht aber noch eine weitere Angst auf der Insel um - die vor einer türkischen Annexion des Nordens. “Die TRNZ ist bereits der Hinterhof Ankaras”, sagt Esra Aygin. “Nordzypern ist am Papier zwar noch kein Teil der Türkei, in der Praxis gibt es aber keinen Unterschied mehr zu anderen türkischen Provinzen.” 

In der Türkei stehen 2023 Wahlen an. Die rechtskonservative AKP von Präsident Erdogan strauchelt in den jüngsten Umfragen. Das Land am Bosporus feiert nächstes Jahr außerdem sein 100-jähriges Bestehen. Hinter vorgehaltener Hand hört man auf den Straßen Nord-Nikosias immer wieder, dass Erdogan seinem Land eine 82. Provinz zum Jubiläum “schenken” und somit vom Umfragetief ablenken könnte. 

Fremde im eigenen Land

Neben Hilfsgeldern schickt die Türkei noch etwas anderes in die TRNZ: Siedlerinnen und Siedler. Seit den beiden Invasionen im Jahr 1974 ließen sich immer mehr Türkinnen und Türken - vorwiegend aus Anatolien - in Nordzypern nieder, bekamen Häuser und Geschäfte von den vertriebenen griechischen Zyprerinnen und Zyprern. Offiziell sollen Festlandtürken bereits die Hälfte der nordzyprischen Bevölkerung ausmachen, die Zahl könnte laut Beobachtern aber weitaus höher sein. Die linke Opposition in der TRNZ spricht von bis zu 200 türkischen Siedlern, die pro Tag die Staatsbürgerschaft erhalten. “Die Demografie ändert sich rasend schnell, das hat massive Auswirkungen auf eine mögliche Lösung des Zypernkonflikts”, betont Esra Aygin.

Die türkischen Siedler spielen tatsächlich eine wichtige Rolle, sollte es je wieder zu einer Volksabstimmung über eine mögliche Lösung des Zypernproblems kommen. Während sich knapp 60% der Zyperntürken eine Wiedervereinigung mit dem Süden vorstellen könnten, wünschen sich knapp zwei Drittel der türkischen Siedler eine Zweistaatenlösung.

“Es ist ein Teufelskreis", so Esra Aygin. "Je länger wir in diesem Status Quo verharren, desto mehr Türkinnen und Türken werden Staatsbürger der TRNZ - und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung schwindet weiter." 

Die Teilung wird zur Dauerlösung. Das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.

Christos Marangos

Türkische Zyprer sind zum Großteil sunnitische Muslime, pflegen aber einen besonders liberalen Umgang mit ihrer Religion. Anders als viele Siedlerinnen und Siedler aus der Türkei, und das führt zu Spannungen. Türkische Zyprer fühlen sich laut Aygin als Fremde im eigenen Land und von ihrer türkeitreuen Regierung im Stich gelassen. “Türkische Zyprer haben besondere Angst vor einem Kulturverlust, sollte es in naher Zukunft zu keiner Lösung kommen”, bestätigt auch Christos Marangos. “Ich teile diese Angst. Ich glaube, dass in zehn bis zwanzig Jahren die türkisch-zyprische Identität verloren sein wird.” 

Und sollten sich in naher Zukunft auch die Spekulationen über eine endgültige türkische Annexion des Nordens verwirklichen, würde das in roten Lettern geschriebene Wort “Republik” auf dem heruntergekommenen Grenzgebäude im Herzen der doppelten Hauptstadt verschwinden. Übrig bliebe dann nur noch ein “Türkisch Nord-Zypern für immer”. 

Der Zypern-Konflikt

ist einer der längsten ethnischen Konflikte der Neuzeit. Der Konflikt basiert auf dem starken Drang der griechischen Bevölkerungsmehrheit Zyperns Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts nach einer Vereinigung mit Griechenland. Die Zyperntürken lehnten dies von Anfang an vehement ab und fürchteten um ihre Identität und Rechte, die sie unter der britischen Kolonialzeit genossen. Nach einer angestrebten Verfassungsänderung 1963 durch die griechisch-zyprische Bevölkerungsmehrheit kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen, die sich in Folge zu einem blutigen Bürgerkrieg zuspitzten. Im Sommer 1974 wurde der Norden der Insel (und damit ein Drittel des Staatsgebietes der Republik Zypern) von türkischen Streitkräften besetzt, nachdem griechische Putschisten den Anschluss Zyperns an Griechenland endgültig durchsetzen wollten. Daraufhin wurde die bisher am längsten andauernde UN-Friedensmission (UNFICYP) geschaffen, um weitere Eskalationen zwischen den Ethnien zu verhindern und eine Pufferzone entlang der neuen Grenze geschaffen. 1983 rief die nordzyprisch-türkische Administration in dieser Zone überraschend die „Türkische Republik Nordzypern“ aus, die nur von der Türkei anerkannt wird. Dies zementierte die bis heute dauernde Teilung der Insel. 

 

Maximilian Mayerhofer

Maximilian Mayerhofer

war bis Mai 2023 Online-Redakteur bei profil. Davor war er beim TV-Sender PULS 4 tätig.