Bernard-Henri Lévy

Philosoph Lévy: "Vielleicht ist es in Ordnung, Kurz zu umarmen. Ich glaube nicht."

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy über die Jerusalem-Frage, den Zerfall der Weltordnung und die Rolle von Donald Trump als letzte Perle in einer Auster des Nichts.

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Wäre Bernard-Henri Lévy Offizier, seine Brust wäre längst zu klein für die Orden, Medaillen und Ehrenzeichen aus all den Schlachten, die er anzuzetteln oder zu verhindern suchte, die er siegreich verließ oder die er verlor. Seine Berufsbezeichnung lautet "Philosoph", oder besser "philosophe engagé", also: engagierter Philosoph. Damit meint man in Frankreich Denker, die sich für Veränderungen einsetzen, in der Gesellschaft, im eigenen Staat oder in der Welt. Jean-Paul Sartre gilt als Vater dieses Gewerbes, Lévy als dessen schillerndstes Exemplar der Gegenwart.

Er hat 1992 den damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand auf die prekäre Lage der Bewohner der belagerten Stadt Sarajevo aufmerksam gemacht, worauf Mitterrand ins Flugzeug stieg und nach Jugoslawien flog. Er hat 2011 Nicolas Sarkozy dazu gebracht, einen internationalen Militäreinsatz in Libyen zum Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi mitzutragen, was das Magazin "New Yorker" zur ungläubigen Frage verleitete: "Hat Bernard-Henri Lévy die Nato zum Krieg geführt?" Er hat 2012 -vergeblich - auf eine militärische Intervention in Syrien gedrängt. Zuletzt hat er sich -ebenso vergeblich -für das Anliegen der Kurden im Irak stark gemacht, einen eigenen Staat zu bekommen.

Lévy wird von Philosophen-Kollegen wegen seiner angeblichen Ungenauigkeiten, Inkompetenz und intellektuellen Beliebigkeit kritisiert. Slavoj Žižek, seinerseits Star-Philosoph, murrte 2015 in einem Interview mit profil: "Nennen Sie uns bitte nicht in einem Atemzug. Lévy ist kein Philosoph, nur ein Intellektueller, und er ist ein Opportunist." Doch den bald 70-jährigen Lévy ficht all das nicht an. Er adoptiert Völker, denen er helfen will, und geißelt Bewegungen, die er ablehnt - den Rechtspopulismus, den Neofeminismus. Er hält zu Israel, unterstützt Emmanuel Macron und will den Brexit verhindern helfen.

Ganz schön viel zu tun für einen Philosophen, mag er auch noch so engagiert sein. Lévy weiß, dass seine Marke und sein Glamour das Kapital sind, das er dafür benötigt. Er trägt immer einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Und ehe er sich fotografieren lässt, bringt ein Assistent eine Haarbürste.

INTERVIEW: TESSA SZYSZKOWITZ, ROBERT TREICHLER

profil: In Ihrem neuen Buch stellen Sie das Schicksal der Kurden als Angelpunkt der Weltpolitik dar. Was macht dieses Volk für Sie so bedeutsam? Lévy: Vor drei Jahren erlebten wir in Frankreich eine Serie von Terroranschlägen des sogenannten "Islamischen Staates". Auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo", auf einen jüdischen Supermarkt, auf den Konzertsaal "Bataclan". Da wollte ich meinen Beitrag leisten, gegen diese Art von terroristischem Islamismus zu protestieren. Deshalb fuhr ich nach Kurdistan und schloss mich den kurdischen Kämpfern an.

profil: Was beabsichtigten Sie damit? Lévy: Ich wollte dabei sein, sie feiern, ihre Leistungen dokumentieren und der Welt sagen, was die Kurden für die Welt tun.

profil: Und zeigen, dass es einen aufgeklärten Islam gibt? Lévy: Das wusste ich längst. Den habe ich nicht nur in Kurdistan erlebt, sondern in Bosnien-Herzegowina, in Marokko, in Bangladesch Mit den Kurden jedoch beschäftige ich mich seit Langem. Nach zwei Dokumentarfilmen habe ich jetzt dieses Buch geschrieben. Ich habe selbst gesehen, dass sie mit ihrem Kampf gegen den IS uns Europäern mehr geholfen haben als sich selbst. Ich habe eine ihrer Elitetruppen begleitet, monatelang. Ich weiß genau, wie unfair man zu den Kurden war und wie man sie betrogen hat.

profil: Sie kritisieren vor allem die USA, die sich zunächst der Kurden im Kampf gegen den IS bedient und sie anschließend im Stich gelassen haben, als es um das Streben nach einem kurdischen Staat ging. Die USA seien deshalb zu einem "Reich des Nichts" geworden, das sich ambitionslos und seine Werte verleugnend von seinen europäischen Wurzeln abwende. Lévy: Das hat nicht erst unter US-Präsident Donald Trump begonnen. Auch sein Vorgänger Barack Obama hat bereits die Verbindung zwischen den USA und Europa unterbrochen. Er tat es auf eine elegante Art, Trump auf eine groteske.

profil: Sind die USA deshalb ein Reich des Nichts? Gerade eben entwickeln sie doch weltpolitische Ambitionen: Die Trump-Administration hat das Atomabkommen mit dem Iran beendet, es steht Israel in der Jerusalem-Frage bei ... Lévy: Wir werden sehen. Es ist nicht zu leugnen, dass es einen langfristigen Trend gibt, sich zurückzuziehen. Der kann nicht innerhalb weniger Tage korrigiert werden, das ist eine Frage von Jahrzehnten. Entscheidungen können auch zurückgenommen werden, aber es geht um etwas anderes: Sie sollten nicht nur gut überlegt sein, sie sollten auch von Herzen kommen. Ist das hier der Fall? Sind es weise Entscheidungen? Ich bin mir nicht so sicher.

Trump verachtet Europa. Das beraubt Europa seiner Lebensversicherung.

profil: Sie zögern noch mit Ihrem Urteil? Könnten sich das Ende des Atomdeals und die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem noch als weise Entscheidungen herausstellen? Lévy: Ich glaube nicht. Was den Iran betrifft, wäre es die richtige Entscheidung gewesen, das Abkommen fortzuführen und noch auszubauen. Das wäre weise gewesen. Jetzt springen wir hier in die Leere. Und die Sache mit Jerusalem? Natürlich ist Jerusalem die Hauptstadt Israels, da gibt es keinen Zweifel, das muss so sein. Dies aber auch faktisch klarzustellen, müsste ein Teil einer Gesamtlösung sein - alles muss auf den Tisch gelegt werden, und dann müssen bilaterale Abkommen geschlossen werden. Das ist eine Frage des Prinzips. Ich gehöre zu jenen, die es immer bedauert haben, dass die Verbündeten der Palästinenser unilaterale Entscheidungen getroffen haben, etwa die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch das schwedische und das französische Parlament. Diese unilateralen Entscheidungen tragen nicht zum Frieden bei, das habe ich immer schon gesagt. Das Gleiche gilt für die Freunde Israels. Einseitige Entscheidungen helfen dem Frieden nicht.

profil: Den transatlantischen Beziehungen auch nicht. Was machen wir Europäer, wenn wir keinen Partner mehr haben? Lévy: Es ist noch schlimmer. Trump verachtet Europa. Das beraubt Europa seiner Lebensversicherung. Und es bedeutet, dass Amerika sich von der Quelle seiner Werte entfernt.

profil: Sind all das Zeichen dafür, dass Amerika in der Krise ist, oder dafür, dass sich die Welt verändert und unsere bisher gewohnte Weltordnung zerbröckelt? Lévy: Vor 15 Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel "American Vertigo - Auf der Suche nach der Seele Amerikas". Ich habe Trump natürlich nicht vorausgesagt, aber ich habe damals bereits einiges verstanden und erahnt über die Leere, das Vakuum, den Abgrund, vor dem die amerikanische Gesellschaft steht. Das ist eine alte Geschichte, die sich lange vor Trump zu entwickeln begonnen hat. Er selbst ist nur ein Symptom, die letzte Perle, welche die Auster des Nichts fallen lässt.

profil: In Ihrem Buch äußern Sie die Befürchtung, dass Trump schließlich auch Israel fallen lassen wird. Danach sieht es jedoch nicht aus. Israel und Amerika teilen derzeit vielmehr die Abneigung gegenüber Flüchtlingen, multinationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen, Europa ... Lévy: Trump ist vielleicht ein Partner von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der politischen Rechten in Israel. Und ich frage, ob diese Allianz aus einer wahren Liebe zum jüdischen Volk herrührt oder nicht. Ist es eine tiefe, wahre Freundschaft oder ist es Opportunismus? Das opportunistische Kalkül kann sich nämlich in das genaue Gegenteil verkehren. Bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem konnte man es genau sehen: Trump kam nicht einmal selbst, er entsandte seine Tochter. Wenn man schon entscheidet, die Botschaft am 70. Geburtstag Israels nach Jerusalem umzusiedeln und damit in Kauf nimmt, Öl in das Feuer dieses Konfliktes zu gießen, dann sollte man auch selber kommen, oder? Das, was Trump da tut, das nenne ich nicht wahre Freundschaft zu Israel. Da schickt man doch nicht die Tochter! Israel ist doch keine Bananen-Republik! Alles, was Trump über Israel und die Juden gesagt hat, zeigt mir, dass er kein tiefes Verständnis für die Juden hat.

Netanjahu kann man nicht in eine Reihe mit der ungarischen Fidesz oder der FPÖ stellen. Es gibt in Israel eine beispielhafte Demokratie.

profil: Auch einige europäische Regierungen und Parteien, die weit rechts stehen und teilweise autoritäre Tendenzen zeigen, sind dafür, ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen. In Österreich teilt ausgerechnet die FPÖ diese Forderung. Wie erklären Sie die Nähe dieser Gruppen zu Israel? Lévy: Ich mag es gar nicht, dass Israel von diesem Club der illiberalen Demokraten gekidnappt worden ist. Israel ist wie eine Geisel, wie eine Trophäe, die sie sich geschnappt haben. Missverstehen Sie mich nicht, ich bin kein Freund von Benjamin Netanjahu, aber ich sehe ihn nicht als illiberalen Demokraten. Netanjahu kann man nicht in eine Reihe mit der ungarischen Fidesz oder der FPÖ stellen. Es gibt in Israel eine beispielhafte Demokratie. Der Oberste Gerichtshof, das Parlament, die Medien - alles funktioniert. Israel passt nicht in die Klasse der illiberalen Demokratien.

profil: Warum aber wird Israel gerade jetzt zur Trophäe dieses Clubs? Lévy: Es gibt in Israel zwei dominante politische Tendenzen. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen rechts und links, nicht zwischen liberal und illiberal. Die Trennlinie verläuft vielmehr zwischen Optimisten und Pessimisten. Die Optimisten glauben, dass es trotz der schwierigen Lage einen Ausgleich mit den Arabern geben kann. Die Pessimisten glauben das nicht. Für sie ist die Lage Israels ein ontologisches Unglück. Sie fürchten, dass es nie Frieden geben kann, was immer Israel auch versucht. In dieser dunklen Landschaft kann man nur ein bisschen Zeit herausschinden, und noch ein bisschen und noch ein bisschen Netanjahu gehört zu den Pessimisten.

profil: Teilen Sie die europäischen Politiker auch in Optimisten und Pessimisten? Lévy: Keineswegs. Orbán ist ein Optimist. Dasselbe gilt für Österreich. Die FPÖ und ihre Alliierten sind auch keine Pessimisten. In Europa ist es anders. Da gibt es in Polen, Ungarn und Österreich, und zu einem gewissen Grad auch in England, politische Kräfte, die glauben, man sollte die Demokratie mit den Mitteln der Demokratie liquidieren.

profil: Wie soll Europa mit diesen europäischen Kräften umgehen, die - wie Sie sagen -, Demokratie mit demokratischen Mitteln bekämpfen? Sie kritisieren in Ihrem Buch auch die österreichischen Intellektuellen und den österreichischen Bundespräsidenten. Bloß, was sollen die Ihrer Meinung nach tun? Lévy: Was die österreichischen Intellektuellen tun sollen? Ihre Arbeit! Das, was sie im Jahr 2000 auf dem Heldenplatz gemacht haben. Da waren 150.000 Menschen, die sich gegen Wolfgang Schüssel und Jörg Haider versammelt hatten. Eine demokratische, pazifistische, starke Nation stand auf. Elfriede Jelinek hatte dies initiiert, Luc Bondy war dabei, viele junge Leute haben bei dieser demokratischen, spontanen Bewegung mitgemacht. Es ist traurig, dass dieser gute Reflex des demokratischen Widerstandes jetzt in Österreich eingeschlafen ist. Und in Europa auch. Vielleicht warten die Österreicher darauf, dass die europäischen Partner aufwachen, vielleicht warten die europäischen Partner darauf, dass die österreichischen Bürger aufwachen.

profil: Damals wurde der Dritte der Nationalratswahl, Schüssel, mit der Unterstützung der FPÖ völlig überraschend Bundeskanzler. Diesmal ist es anders. Jeder, der ÖVP wählte, wusste, dass es eine Koalition mit der FPÖ geben würde. Es war kein Putsch, sondern ein demokratisches Resultat. Wie soll man dagegen kämpfen? Lévy: Die Demokratie war noch nie bloß die Akzeptanz eines Wahlergebnisses. Die Demokratie ist etwas viel Komplizierteres. Sie ist einerseits die Akzeptanz von Wahlen, aber auch der Respekt vor dem Gesetz, der Respekt der Minderheiten, die Konformität des Wahlergebnisses mit der Verfassung und auch die Konformität dieses Resultats mit den Partnern des Landes. All das gehört zur Demokratie, nicht nur das Wahlergebnis.

Der gleiche Macron, der Kurz umarmt hat, muss auch genau aufpassen, ob Kurz das Programm der extremen Rechten umsetzt.

profil: Wir haben jetzt einen konservativen Bundeskanzler, der mit einer weit rechts stehenden Partei eine Regierung gebildet hat. Das ist für einen französischen Philosophen und auch für viele Österreicher vielleicht ein Skandal. Aber ist es undemokratisch? Lévy: Ja, ist es. Die Demokratie ist eine ganze Zivilisation. Der Respekt vor einem gewissen Wertesystem. Seit den Griechen, seit Tocqueville gibt es ein demokratisches Erbe, das besagt, dass es nicht genügt, nur zu wählen. Es gibt eine Grenze zwischen Demokratie und Demagogie. Man muss diesen Leuten in Österreich, die dort regieren, sagen, dass es einen Preis dafür gibt, wenn man diese Prinzipien verrät. Der Preis sollte sein, dass man sich in der Gemeinschaft Europas isoliert findet. Der Preis könnte sein, dass man sich neue Partner suchen muss, die ähnlich denken. Ungarn zum Beispiel. Da wünsche ich viel Glück.

profil: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat ganz im Gegenteil Sebastian Kurz umarmt. Lévy: Der gleiche Macron, der Kurz umarmt hat, muss auch genau aufpassen, ob Kurz das Programm der extremen Rechten umsetzt. Tut er das, dann ist es aus mit der Umarmung, denn dieses Programm ist das Gegenteil von dem, was wir als europäische Werte hochhalten. Vielleicht ist es in Ordnung, Kurz zu umarmen, um ihn oder das rechtsextreme Programm der FPÖ zu neutralisieren. Ich persönlich glaube das nicht. Doch sollte es klappen, durch Umarmung das Antisemitische und Xenophobe der extremen Rechten wegzudrängen - gut für das österreichische Volk. Aber wir müssen bereit sein, in der Minute zu reagieren, in der jemand dieses Programm noch verstärkt statt verdrängt.

profil: Macron ist die Hoffnung für Europa, auf der anderen Seite steht der Brexit. Sie wollen demnächst in London mit einem selbst verfassten Ein-Personen-Theaterstück auf der Bühne gegen den Brexit ankämpfen. Glauben Sie, man kann den Brexit noch stoppen? Lévy: Ich glaube schon. Noch einmal: So wie in Österreich und Ungarn mit den Wahlergebnissen ist es auch in England mit dem Ausgang des Referendums: Das ist nicht das Nonplusultra der Demokratie. Das Referendum war eine Farce, ein Witz, ein Skandal. Man kann doch nicht mit Ja oder Nein auf so viele komplexe Fragen antworten, wie sie das Brexit-Votum implizierte. Immer mehr Briten finden jetzt heraus, dass sie betrogen wurden.

profil: Das stimmt leider nicht. Die Meinungsumfragen zeigen keine große Veränderung. Aber wenn das Referendum Ihrer Meinung nach eine Farce war - wie soll man dann den Brexit stoppen? Mit einer neuerlichen Farce? Lévy: Man kann noch ein Referendum ansetzen. Oder das Parlament stoppt den Brexit. Das Oberhaus kann sich gegen den Brexit starkmachen. Es gibt viele Möglichkeiten. Ich werde in London mit meinem Stück gegen den Brexit auftreten, um meinen kleinen Beitrag dazu zu leisten. Großbritannien selbst wird Little England, wenn es die EU verlässt. Es wird ein Desaster für Europa, das es vielleicht nicht überleben wird, wenn der englische Motor stehen bleibt.

profil: England war nicht der Motor Europas. Lévy: Doch, in gewisser Weise war es das, vielleicht nicht institutionell, aber ideologisch. Die DNA des Liberalismus ist britisch. Die Briten hatten eine Distanz zu den Institutionen, aber sie hatten paradoxerweise ein brennendes Herz für Europa, sie standen im Zentrum des Zentrums des europäischen Gedankens. Ohne John Locke, Karl Popper, Adam Smith und John Meynard Keynes gäbe es Europa so nicht.

Wenn wir die Geschichte des Abendlandes betrachten, dann gibt es keine Beispiele für Währungsgemeinschaften, die funktionierten, ohne dass sie von einer politischen Union begleitet gewesen wären.

profil: Manche meinen, die Briten hätten recht, auszutreten, weil die EU ab 1992 mit dem Vertrag von Maastricht einen Irrweg betreten hätte. Lévy: Wenn es eine Krise gibt, dann nicht, weil wir zu viel Integration haben, sondern zu wenig.

profil: Macron will mehr europäische Integration, aber bisher sehen wir kein konkretes Projekt. Ist er zu sehr mit der Innenpolitik beschäftigt? Lévy: Ach, ein Präsident ist immer mit der Innenpolitik beschäftigt. Das Projekt Macron ist klar: eine wirkliche europäische Außenpolitik, eine echte europäische Verteidigung und eine richtige europäische Exekutive. Er hat vollkommen recht.

profil: Auch wenn er recht haben mag, die Frage ist: Wird er sich durchsetzen? Lévy: Wenn wir die Geschichte des Abendlandes betrachten, dann gibt es keine Beispiele für Währungsgemeinschaften, die funktionierten, ohne dass sie von einer politischen Union begleitet gewesen wären. Die Einführung gemeinsamer Währungen verlief sehr unterschiedlich. Es gab zwei Währungen, die sofort funktionierten: Die italienische Lira im 19. Jahrhundert und 1850 der Schweizer Franken. Die neue gemeinsame Währung kam zugleich mit der Schaffung einer politischen Identität. Eine andere gemeinsame Währung brauchte Zeit, um sich durchzusetzen: Erst nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges, der Niederlage der Konföderierten und der Stärkung der Zentralmacht war der Weg frei für einen bundesweiten Dollar. Und es gibt auch zwei Währungsgemeinschaften, die gescheitert sind: die lateinische Münzunion, zu der von Mitte des 19. Jahrhunderts an bis 1929 neben Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz de facto auch Österreich-Ungarn gehörte. Sowie, zur selben Zeit, die skandinavische Münzunion. Warum haben die beiden nicht funktioniert? Sie waren nicht von einer politischen Union begleitet. Was also wird aus dem Euro? Er ist nicht wie die Lira und der Schweizer Franken, denn es gibt keine politische Union. Eine Geschichte wie der Dollar? Dazu müssten die Ungarn, Polen, Österreicher, und Franzosen bundesstaatliche Strukturen akzeptieren. Oder er verschwindet wie die erwähnten Münzunionen, die heute längst in Vergessenheit geraten sind.

profil: Ich habe noch eine Frage als Frau und Feministin: Sie haben 2011 im Skandal um Vergewaltigungsvorwürfe Dominique Strauss-Kahn, den damaligen Direktor des Internationalen Währungsfonds, verteidigt. Ich fand das bestürzend! Warum taten Sie das? Lévy: Ich habe das getan, weil ich nicht wusste, was der Mann getan hatte. Weil ich auf das Ergebnis der Justiz warten wollte. Feministin oder nicht, Frau oder Mann, ich glaube nicht, dass die Medien das Recht haben, ein Urteil zu sprechen.

profil: Und Sie haben geglaubt, er könnte unschuldig sein? Lévy: Ich beurteile das Leben eines Mannes nicht auf der Basis von Gerüchten und Anschuldigungen. Ich warte auf Gerichtsurteile. Das Gericht hat am Ende die strafrechtliche Anklage fallen gelassen.

profil: Mit der #MeToo-Bewegung kommen viele oft ungeklärte und oft auch nicht aufklärbare Fälle an die Öffentlichkeit. Sie vergleichen diesen Neofeminismus mit der McCarthy-Ära, der Kommunistenverfolgung in den USA der Nachkriegszeit. Wie begründen Sie das? Lévy: Ich bin gegen Volksjustiz, Lynchjustiz und für das Recht. Justiz benötigt Zeit, die Gegenüberstellung von Aussagen, Stille, Geduld, die Möglichkeit des Angeklagten sich zu den Vorwürfen zu äußern. Und sie verlangt, dass keine endgültige Entscheidung getroffen wird, ehe all das stattgefunden hat.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur