Jahresausgabe

Proteste im Iran: Eine furchtlose Generation

Das iranische Regime mit seinen 190.000 Revolutionsgarden scheint unüberwindlich – doch die Proteste unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ zeigen Wirkung, schreibt Solmaz Khorsand. Und wer genau hinsieht, erkennt schon die Nervosität der Machthaber.

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Die persische Sprache ist voller Metaphern und Gleichnisse. Gerade in Momenten des Horrors halten jene, die sie sprechen, noch hartnäckiger an ihrer Poesie fest. Als würden sie auf diese Weise die Menschlichkeit bewahren wollen. Eine iranische Kollegin spricht am Telefon über die Protestbewegung nach dem Tod der Kurdin Mahsa Jina Amini: Man müsse sich die Islamische Republik wie einen furchteinflößenden, scheinbar unüberwindbaren, zackigen Felsen vorstellen. Doch mit jeder Protestwelle werde dieser Felsen abgetragen. Er wird kleiner und kleiner, bis irgendwann nur noch ein winziger Stein übrigbleibt. Und am Ende ist vielleicht auch der weg.

Um wie viel kleiner ist dieser Felsen Islamische Republik nach fast drei Monaten Revolution, wie die Protestierenden ihre Bewegung längst bezeichnen, tatsächlich geworden? Wie groß sind die Brocken, die durch die landesweiten Streiks herausgebrochen sind? Wie viele Zacken hat er eingebüßt, nach (laut Menschenrechtsorganisationen, Stand Anfang Dezember) 485 Toten, 18.259 Inhaftierten und mindestens 28 Anklagen, die auf ein Todesurteil zusteuern? Ist er nach der Exekution des 23-jährigen Mohsen Shekari am 8. Dezember, der ersten Hinrichtung in diesem Zusammenhang, wirklich weiter geschrumpft?

Auf den ersten Blick steht dieser Felsen da wie eh und je seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979, in all seiner rohen Gewalt. Doch auf den zweiten Blick hat sich durchaus etwas getan. Irans Machtelite ist nervös. Nervöser, als viele in den ersten Tagen im September geahnt hätten, als sich die Wut der Bevölkerung nach Aminis Tod auf den Straßen des ganzen Landes unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ entlud.

Da wären einmal die politischen Scheinmanöver. Von Anfang an fühlte sich Präsident Ebrahim Raisis Regierung bemüßigt, den Protestierenden, aber vor allem dem Ausland zu signalisieren, dass sie mit sich reden lasse. Zum „Dialog“ wurde eingeladen, Untersuchungsausschüsse und Diskussionsrunden mit Geistlichen zur „Hijab-Frage“ angekündigt. Sogar von einer Auflösung der Sittenpolizei war die Rede, just jener Behörde, deren Beamte Amini am 13. September festgenommen hatten, weil ihr Kopftuch angeblich ein paar Haarsträhnen nicht bedeckt hatte, und in deren Gewahrsam die 22-Jährige drei Tage später starb. Es war wohl eine Finte, angekündigt von Generalstaatsanwalt Mohammed Jafar Montazeri in einem Nebensatz auf einer Pressekonferenz. Offiziell wurde die Abschaffung der Sittenpolizei niemals bestätigt.

Und selbst wenn.

Wer die Islamische Republik kennt, weiß, dass es keine Rolle spielt, ob es eine derartige Behörde überhaupt gibt. Denn der Apparat besitzt genug Mittel und Milizen, um die Hijab-Pflicht durchzusetzen, die zu den Grundpfeilern der Theokratie zählt. Doch allein der Drang des Regimes, auf diese Weise insbesondere die internationale Öffentlichkeit, inklusive ausländischer Medienleute, mit Scheinreformen zu beschwichtigen – denn sie waren es, die auf diese Meldung mit Euphorie reagierten, nicht die Iranerinnen auf der Straße –, zeugt von einem gewissen Handlungsdruck.

Dazu zählt auch die aktuelle Einladungspolitik des Regimes. Auffallend freundlich wird derzeit Persönlichkeiten, die dem reformistischen Lager zuzurechnen sind, die Hand entgegengestreckt. Ausgerechnet jene Politiker, die die Hardliner spätestens seit der Parlamentswahl 2020 fast gänzlich aus Irans politischem System verbannten, werden nun zur Zusammenarbeit gebeten. Dazu gehörte zuletzt auch Azar Mansouri, die Generalsekretärin der „Ettehad-e Mellat“ (Volksunion) und erste weibliche Parteivorsitzende der Islamischen Republik. In einer Unterredung mit Ali Shamkhani, dem Chef des Obersten Sicherheitsrates, drängte sie auf „kurz-, mittel-, und langfristige“ Reformen, von der Freilassung aller politischen Inhaftierten bis hin zu verfassungsrechtlichen Änderungen. Dass ihre Forderungen auf fruchtbaren Boden fallen, ist unwahrscheinlich, aber das Zusammentreffen soll beweisen: Seht her, wir tun etwas! Selbst unsere kritischen Gegnerinnen (die wir nebenbei auf diese Art wunderbar in ihrer Gegnerschaft delegitimieren) helfen uns dabei.

Dabei ist Letzteres nicht einmal notwendig. Die Reformer haben im Iran ihr politisches Kapital längst verspielt. Als sie die Präsidenten stellten, konnten sie keines ihrer Versprechen umsetzen, weil die erste und letzte Instanz in der Islamischen Republik immer noch Ali Khamenei heißt. Ohne den Obersten Religionsführer, der 1989 nach dem Tod von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini die Nachfolge antrat, läuft nichts im Iran, egal wie progressiv die Kräfte sind, die in der Regierung und im Parlament sitzen.

Doch die Protestierenden wollen ohnehin keine Reformen. Sie verlangen den Systemsturz – und das mit einer Intensität, die selbst Regimeschergen überfordert. Das Ausmaß dieser Überforderung zeigt ein Blick hinter die Kulissen. Ende November ist es der Hackergruppe „Black Reward“ gelungen, in die Datenbank der Nachrichtenagentur der Revolutionsgarden „Fars News“ einzudringen. Aus zahlreichen Bulletins und einem 131-minütigen Audiotape geht hervor, wie ernst hochrangige Leute aus dem Sicherheitsapparat die Lage einschätzen. Bei einem Treffen mit regimetreuen Medienvertretern analysierten sie die Qualität der Proteste, gestanden, den „Medienkrieg“ verloren zu haben, und zeigten sich von der starken Präsenz der Frauen irritiert.

Außerdem zitierten sie aus Gesprächen mit Revolutionsführer Khamenei. Er scheint sich um die Moral der bewaffneten Kräfte zu sorgen und drängte die Verantwortlichen, sie wirtschaftlich und mental zu motivieren.

Diese Sorge dürfte schon länger vorherrschen. Bereits Ende Oktober versuchte das Parlament, zu „motivieren“ – und zwar mit einer 20-prozentigen Lohnerhöhung für Sicherheitskräfte. Berichte über Ermüdungserscheinungen und Verunsicherung bei den Regimeanhängern kursieren seit Beginn der Proteste. So tauchte am 31. Oktober ein Video auf, das den Milizkommandanten Pouyan Hosseinpour vor Basij-Einheiten zeigt. Das ist jener millionenstarke Freiwilligenverbund, der die Ideologie der Islamischen Republik von den Bauernhöfen bis zu den Universitäten unters Volk bringen soll, und deren paramilitärischer Arm jede Opposition niederknüppelt. In dem Video spricht Hosseinpour von einer „furchtlosen“ Generation, die sich seinesgleichen dieser Tage in den Weg stelle: „Früher sind sie geflüchtet, als wir sie angegriffen haben. Jetzt leisten sie eine Stunde lang Widerstand!“

Und nicht nur das: Auch die Bewohner der Gassen und Straßen, in denen geprügelt wird, würden die Sicherheitskräfte von ihren Fenstern aus mit Gegenständen bewerfen, vom Bügeleisen bis zum Blumentopf. Diesen Widerstand sind Hosseinpour und seine Schergen nicht gewohnt.

Das macht ihnen Angst. Und diese Angst beunruhigt die Machtelite des Landes mehr als jeder Vertrauensbruch, selbst in der eigenen Familie. Letzteres ist Khamenei ohnehin gewohnt. Sein Bruder, der Schwager, sein Neffe, seine Schwester und seine Nichte haben ihr prominentestes Familienmitglied mehr als einmal öffentlich kritisiert. Doch wenn ihn seine Nichte Farideh Moradkhani, eine Menschenrechtsaktivistin, in einem Video mit Mussolini und Hitler vergleicht – wofür sie prompt festgenommen wurde, was ihre Mutter als Befürworterin der Proteste in einem offenen Brief verurteilte – hat das wenig Einfluss auf das Überleben der Islamischen Republik. Verunsichert so eine Nachricht aus dem engsten Kreis aber die Mitglieder der Sicherheitskräfte, stellt gar ihre Loyalität gegenüber Khamenei infrage, dann ist wirklich Feuer am Dach. Geben sie auf, ereilt Irans Theokratie das Schicksal jedes Regimes, das sich nicht länger darauf stützen kann, worauf seine Macht begründet ist: den Repressionsapparat. Nicht umsonst hat Khamenei in seiner jüngsten Ansprache den Milizen gut zugesprochen: „Wenn ihr wahre Gläubige seid, werdet nicht schwach oder traurig, denn ihr seid die Besseren.“

Noch deutet nichts darauf hin, dass an der Loyalität der geschätzt bis zu 190.000 Revolutionsgarden, und – nach eigenen Angaben – 25 Millionen Basij gegenüber dem System zu zweifeln wäre. Doch die Unruhe innerhalb der iranischen Sicherheitskräfte dürfen die Protestierenden als Erfolg werten.

Der Felsen Islamische Republik ist nach drei Monaten nicht verschwunden. Aber er war schon einmal größer.

Solmaz Khorsand

geboren in Wien, Tochter zweier Exiliraner; Journalistin und Autorin, unter anderem für „Datum“, „Die Zeit“, „Wiener Zeitung“, zuletzt beim Schweizer Magazin „Republik“; 2018 mit dem
Wiener Journalistinnenpreis ausgezeichnet; 2021 erschien ihr Buch „Pathos“ (bei Kremayr & Scheriau)