Protokoll aus Gaza: „Unsere Kinder sind keine Kinder mehr“
Wie leben die Menschen dieser Tage in Gaza? Wie gehen sie mit den allgegenwärtigen Bedrohungen und dem Tod um? Können sie noch träumen? Eine Mutter aus Gaza erzählt.
In den vergangenen zwei Wochen hatte profil mehrfach Kontakt mit Asma Mustafa, eine Palästinenserin, die in Gaza lebt. Asma Mustafa ist Lehrerin, im Jahr 2020 wurde sie mit dem indischen AKS Education Award als weltbeste Lehrerin ausgezeichnet. Sie ist Gesprächspartnerin von Medien, unter anderem CNN; eine ihrer Alltagsschilderungen ist auch im Buch „Daybreak in Gaza“ erschienen, das vom Jerusalemer Buchhändler Mahmour Muna und dem britischen Journalisten Matthew Teller kuratiert und vergangenen Oktober im Kreisky-Forum vorgestellt worden ist.
Asma Mustafa spricht über Nahrungsnot, Überleben und Todesangst. Sie spricht vom „Genozid“ in Gaza – es ist ein Vorwurf, der von Israel strikt zurückgewiesen wird und Gegenstand eines Verfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof ist. Mustafas Aussagen können nicht überprüft werden; ihre Erzählungen decken sich jedoch mit dem, was über die Lebensumstände in Gaza bekannt ist.
Asma Mustafas Protokoll aus Gaza
Ich habe zwei Töchter, sie sind neun und zehn Jahre alt, ich bin ihnen Mutter und Vater. Seit dem 7. Oktober 2023 bin ich mehrfach geflüchtet, derzeit befinde ich mich mit meinen Kindern in Jabalia Stadt, im Norden Gazas. Ich bin im Jabalia Camp aufgewachsen, einem Flüchtlingslager neben Jabalia Stadt, wo meine Familie seit dem Jahr 1948 lebt, nachdem sie vertrieben wurde. Wir stammen aus Simsim, einem Dorf, wenige Kilometer von der nördlichen Grenze Gazas entfernt.
Aus dem Norden Gazas in den Süden und wieder zurück.
Früher war mein Leben wundervoll. Ich habe gearbeitet und ich hatte ein schönes Zuhause; mein Heim war mein Königreich. Ich kann mich nicht erinnern, früher jemals müde oder ausgelaugt gewesen zu sein. Mein Leben hat mir Freude bereitet. Ich wachte stets um fünf Uhr morgens auf, bereitete Frühstück, machte Milch warm und kochte Eier für die Kinder. Ich brachte meine Kinder in die Schule, zuletzt mit meinem Kia, und ging dann selbst in die Schule, um zu unterrichten. Heute bin ich ein anderer Mensch. Wir leben den langsamen Tod.
Meine beiden Töchter und ich waren einmal verschüttet. Ich habe mich aus grauem Staub aufgerichtet. Ich dachte, ich sei tot. Es gab Momente, in denen ich mit meinen beiden Töchtern auf der Straße saß – eine in einem und die andere im anderen Arm; Momente, in denen ich mir dachte, entweder wir überleben gemeinsam oder wir sterben gemeinsam. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kann nicht atmen.
Die Mädchen sind neun und zehn Jahre alt, hier in Jabalia Stadt
Ich bin Lehrerin, im Jahr 2020 wurde ich mit einem internationalen Preis aus Indien zur weltbesten Lehrerin auserkoren. Meine Töchter haben seit eineinhalb Jahren keine Bildung, ich versuche sie dennoch zu unterrichten. Ich versuche auch andere Kinder zu unterrichten, wo immer ich bin. Seit dem 7. Oktober 2023 hatte ich rund 2000 Kinder in meinem Zelt. Ich erzähle ihnen Geschichten, und wenn ich Papier und Farben besorgen kann, lasse ich sie malen. Durch die Bilder sprechen die Kinder. Viele zeichnen Blumen, den Himmel, schöne Häuser – immer noch schöne Dinge. Das zeigt mir, dass sie trotz allem noch lebendig sind, dass sie noch träumen.
Eine meiner Schülerinnen war ein kleines Mädchen namens Eman, sie war elf oder zwölf Jahre alt. Ich traf sie in Chan Junis, im Süden Gazas. Sie hat gearbeitet, so wie das viele Kinder hier tun. Sie verkaufte Brot, das ihre Mutter gebacken hatte. Ich sah sie auf der Straße, Eman hatte grüne Augen und goldenes Haar, sie war wunderschön. Sie wollte mir, ihrer Lehrerin, vom Brot, dass sie verkaufen sollte, etwas schenken. Ich wollte nichts annehmen, sie aber bestürmte mich und sagte: „Bei Gott, du musst es nehmen.“ Ich nahm schließlich ihr Geschenk an.
Wir verabschiedeten uns und sie verschwand in einer Seitengasse. Kurz danach schlug eine Rakete dort ein, wo sie hingelaufen war. Alles, was von ihr übriggeblieben war, war ein Büschel ihrer Haare. Ihre Mutter stürmte herbei und sah nur Emans Haare. Sie rief: „Das sind meine Haare!“ Ich gab ihr das Brot, das mir Eman gegeben hatte. Sie fing an, Eman Brot zu küssen. Das war einer der schrecklichsten Momente meines Lebens. Ich habe keine Worte für diesen Schmerz. Als man Eman bestattete, passten ihre Überreste in eine Hand.
Unsere Kinder sind keine Kinder mehr. Die Menschen hier sind unendlich erschöpft.
Meistens esse ich nicht. Ich trinke Kaffee, zwei oder drei Tassen am Tag; und ich trinke Wasser. Das ist mein Essen. Die Menschen in Gaza fasten, und ich tue es auch. Einmal habe ich eine Woche lang gar nichts gegessen.
Ich bin 38 Jahre alt, ich habe aber manchmal Schwierigkeiten zu gehen. Mein Bruder, er ist Krankenpfleger, erklärte mir, das kommt vom Nahrungsmangel, Mangel an Vitaminen und Kalzium. Er sagte, ich soll Vitaminpillen nehmen. Das mache ich manchmal, wenn ich welche besorgen kann.
Alles Essbare bewahre ich für die Kinder auf. Ein paar Reserven besitze ich noch, Dosenbohnen zum Beispiel. Ich strecke es, so gut es geht, damit ich nicht eines Tages mit gar nichts dastehe. Letztens teilten sich meine Töchter eine Dose Bohnen zum Frühstück, manchmal kriegen sie je eine gekochte Kartoffel. An anderen Tagen gibt es Reis mit Tomatenpaste zum Mittagessen.
Wenn ich frische Ware finde, versuche ich sie zu kaufen. Vor einigen Tagen habe ich für einen Salat für die Kinder drei Gurken, zwei Tomaten und zwei Zwiebeln gekauft. Das alles hat mich 70 Dollar gekostet. Bargeld habe ich längst nicht mehr. Ich bezahle mit meiner Handy-App, doch oft ist diese Art der Zahlung nicht möglich. Kürzlich war meine Tochter krank, sie hatte Grippe. Sieben Stunden lang habe ich nach einer Apotheke gesucht, bei der ich per Handy bezahlen kann.
Unsere Handys bringen wir zu Generatoren und laden die Akkus dort auf. Ansonsten gibt es keinen Strom. Ich wasche unsere Kleidung mit der Hand und wir kochen über offenem Feuer. Wir legen weite Wege zurück, um Wasser zu holen. Wir waschen uns mit Seife und Shampoo und pflegen unsere Körper. Das ist uns wichtig. Wir sind Menschen. Wir sind keine Tiere. Wir sind auch keine Terroristen. Und wir sind Träumer. Wir haben immer noch die Hoffnung, dass dieser Genozid zu Ende sein wird, und wir ein normales Leben in Frieden führen werden können.
Die Nacht taucht Gaza in eine tiefe Stille. Die Geräusche der Detonationen scheinen sich dann noch schneller zu verbreiten. Wenn die Angriffe kommen, kriegen meine Kinder immense Angst. Das Erste, was ich tue, ist, ihnen Wasser zum Trinken zu geben und sie in den Arm zu nehmen. Ich streiche ihnen über Arme und Rücken. Mehr kann ich nicht tun.
Letzte Nacht schien der Himmel in Flammen zu stehen und die Erde schloss sich um ums. Es war, als würden wir Angst atmen. Feuergürtel zogen sich über unsere Nachbarschaft, die nur den Zweck haben auszulöschen. Die Flugobjekte zogen zielsicher ihre Linien des Todes in der Luft, und jeder Blitz bedeutete, dass ein weiteres Haus verschwunden war.
Innerhalb weniger Minuten war unsere Nachbarschaft zu Staub zerfallen, namen- und gesichtslos geworden. Die hängende Wäsche, die abendlichen Rufe der Kinder. Alles weg.
Ich hörte Schreie, konnte sie aber nicht mehr vom Fauchen der Flugkörper unterscheiden. Während wir unsere Decken umklammerten und den Atem anhielten, als würde davon unser Überleben abhängen, hörten wir einen heftigen Krach – dann eine Stille, so schwer, dass sie lauter klang als die Explosionen.
In dieser Nacht hörten wir auf, die Luftschläge zu zählen. Wir hörten auf, laut zu beten. Wir schauten nur zur Decke hinauf, unsicher, ob sie im nächsten Moment einstürzen würde. Wir konnten nicht weinen. Wir warteten nur darauf, ob uns noch eine Nacht zum Leben vergönnt war.