Leitartikel

Die Gaza-Frage

Die israelische Regierung ist im Begriff, sich schrecklicher Verbrechen schuldig zu machen. Wo stehen wir?

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Oft ist es schwer zu beweisen, was in einem Krieg geschieht, welche Handlungen eine Kriegspartei setzt und ob sie sich eines Verbrechens schuldig macht. Was jetzt gerade in Gaza passiert, ist hingegen kein Geheimnis. Am 2. März verlautbarte das Büro von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, dass seit jenem Morgen keine Hilfsgüter mehr nach Gaza transportiert werden dürfen. Die verhängte Blockade ist noch heute, mehr als zwei Monate später, aufrecht. Verteidigungsminister Israel Katz bekräftigte: „Unsere Politik ist klar: Keine humanitäre Hilfe wird nach Gaza gelangen.“

Die israelische Regierung argumentiert, dass die Blockade Druck auf die Terrororganisation Hamas ausüben solle, die bei ihrem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht nur 1195 Menschen tötete, sondern auch 251 als Geiseln verschleppte, von denen noch 59 in ihrer Gewalt sind.

Die Folgen dieser Blockade sind nach Angaben von Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz, Unicef, Ärzte ohne Grenzen, dem World Food Programm und vielen anderen katastrophal. Es gibt keine Lebensmittel mehr zu verteilen, die Bäckereien sind geschlossen. Das Wenige, das noch auf Märkten angeboten wird, ist für die meisten Leute unerschwinglich. Eine Mutter in Gaza schreibt profil, dass ihre Familie keine richtige Mahlzeit mehr bekomme, sie gebe ihren Kindern, was immer sie finden könne. Auf der Straße kollabierten Menschen vor Schwäche.

Die Blockade betrifft nicht nur Lebensmittel, sondern auch medizinische Güter. Es fehlt an Inkubatoren und Beatmungsgeräten für Frühgeborene, an Anästhetika und an unzähligen Medikamenten. Dieser Mangel tötet still.

Die israelische Regierung sagt, es seien noch genug Lebensmittel vorhanden.

Dieser Darstellung widersprechen alle unabhängigen Organisationen, die berichten, dass die vorhandene Nahrung nicht ausreiche. Zudem ist die Rechtfertigung widersinnig. Die Absicht, mittels Blockade Druck auf die Hamas auszuüben, könnte nur funktionieren, wenn die Bevölkerung tatsächlich Hunger leidet.

Das vorsätzliche Kappen von lebenswichtiger Versorgung für mehr als zwei Millionen Menschen mündet in ein Kriegsverbrechen. Es ist schwer, dies auszusprechen, schließlich ist Israels Bevölkerung das Opfer des monströsen Hamas-Angriffs, und die Geiseln darben seit bald 600 Tagen unter unvorstellbaren Qualen in den Folter-Tunneln. Wie kann man da eine Regierung, die versucht, ihre Bürger zu befreien, eines Verbrechens bezichtigen?

Das ist ebenso emotional einleuchtend wie rational falsch. Jede kriegführende Partei kann sich schuldig machen.

Die israelische Regierung und ihre Verteidiger werfen allen, die ihre Kriegsführung anprangern, antisemitische Voreingenommenheit vor. Dem muss man entgegentreten. Allein schon deshalb, weil die Regierung Netanjahu längst nicht so agiert, wie die israelische Bevölkerung dies will. Nach Umfragen befürwortet eine Mehrheit von 69 Prozent der Israelis ein Ende des Krieges im Abtausch für die Freilassung aller Geiseln. Allen im Land ist klar, dass die bevorstehende neuerliche Offensive die Chancen der mutmaßlich noch 21 lebenden Geiseln drastisch verringert. Jon Polin, der Vater des von der Hamas in Geiselhaft getöteten Hersh, verlangt, dass die Regierungsmitglieder die gelbe Spange an ihren Revers ablegen sollen, die an die Geiseln erinnert. Das Kabinett Netanjahu handle nicht nach der Maxime, alles zu tun, um die Verschleppten nach Hause zu bringen.

Gaza auszuhungern, den Küstenstreifen neuerlich zu besetzen und an der Vertreibung der Bevölkerung zu arbeiten, mag im Interesse der ultranationalistischen Regierungsmitglieder sein, im Interesse Israels ist es nicht. Wer sich hinter das Vorgehen der Regierung stellt, unterstützt eine politisch extremistische Minderheit; wer es kritisiert, der oppositionellen Mehrheit und der internationalen Gerichtsbarkeit den Rücken stärkt, tritt für ein Israel ein, das auch in einer Phase schwerster Verwundung zu seinen Werten steht: keine Geisel zurücklassen, kein Unrecht an Unschuldigen begehen.

An der Seite dieses Israel zu stehen, ist die Aufgabe wohlmeinender Politiker und Freunde.

Robert Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur