Deutschland

Schwere Zeiten für Robert Habeck: Schatten über der Lichtgestalt

Wie Robert Habeck, der eben noch Deutschlands beliebtester Politiker war, abstürzte und die Klimawende in Gefahr geriet.

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Dass er über Dramakompetenz verfügt, beweist Robert Habeck schon als Schüler. Es ist das Schuljahr 1986/87, kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl. Der 17-jährige Apothekersohn Habeck schreibt feinfühlige Gedichte, engagiert sich als Schülersprecher am Heinrich-Heine-Gymnasium im Ostseebad Heikendorf und probt mit der Theater-AG seiner Schule die Aufführung der Brecht’schen „Dreigroschenoper“. Habeck soll den habgierigen Paten der Londoner Bettlermafia, Jonathan Jeremiah Peachum, spielen. Leider erweist er sich als Fehlbesetzung. Weil er als Sänger eine Null ist, keine Noten lesen kann und die von Kurt Weill komponierten, zwischen Jazz, Volksmusik und Operette swingenden Töne nicht ansatzweise trifft, soll er die Rolle wieder abgeben und in den Zuseherraum verbannt werden.

Doch Schüler Habeck gibt nicht auf. Er kämpft, lernt, übt und spielt und wird letztendlich als Peachum die Bühne beherrschen. Rückblickend erklärt er seinen Sieg über die Umstände mit der Faszination, die Bedeutung, Einfluss und Wichtigkeit ausgeübt hätten: „Ich muss zugeben, dass ich mich mit dem Machtmenschen Peachum zu identifizieren begann“, erzählt er einem Reporter.

37 Jahre später heißt Habecks Bühne Deutschland und seine Rolle ist die des Vizekanzlers – und längst sind sich nicht mehr alle Hauptstadtjournalisten sicher, dass er es diesmal packt. Innerhalb von ein paar Monaten – langen, quälenden Monaten mit Krieg und Inflation – hat sich Robert Habeck vom Publikumsliebling zum Buhmann der Nation gewandelt. Vergangenen Dienstag verkündet „Bild“ mit Riesenlettern die neueste Umfragekatastrophe auf Seite eins: „Jeder zweite Deutsche für Habeck-Rücktritt“. Es regnet Kakteen auf die Bühne.

Habeck entlässt sein Gehirn

An einem unangenehm nieseligen Berliner Vormittag am 17. Mai, kurz nach elf Uhr, erlebt Deutschland den bis dato mutmaßlich schmerzlichsten Moment in Habecks politischem Leben: Er entlässt nach wochenlangem Gezerre seinen wichtigsten Staatssekretär, den Chefplaner des Ministeriums. Manche sagen: Habeck entlässt sein Gehirn. Patrick Graichen, 51, rötliches Wuschelhaar, stämmige Figur, randlose Brille, versiert und sehr selbstbewusst, muss gehen. Bis zur Stunde seiner Entlassung ist Graichen eine zentrale Figur im Ministerium und in der deutschen Ökoszene: Mit Habeck hat er in ungezählten Nachtschichten verhindert, dass die Deutschen im Winter frieren. Er überragt seinen Chef um einen halben Kopf – und wohl auch in all dem ökologischen, technischen und juristischen Detailwissen, das man braucht, um einen Gesetzesentwurf wie jenen für das umstrittene „Gebäude-Energie-Gesetz“ (GEG) zu schreiben.

Graichens Schwester Verena, ebenfalls Öko-Aktivistin, ist verheiratet mit Habecks Parlamentarischem Staatssekretär Michael Kellner, einem Urgrünen aus der Parteizentrale, der 2021 den Bundestagswahlkampf managte. Die persönliche Verflechtung wird zum Skandal, als Graichen den Trauzeugen der beiden, Michael Schäfer, zum Chef der Deutschen Energie-Agentur bestellen will. Die Zeitungen schreiben „Trauzeugen-Affäre“, die Leser verstehen „Vetternwirtschaft“.

Als dann noch auffliegt, dass Graichen, den „Bund für Umwelt und Natur“ (BUND), in dem Schwester Verena im Vorstand sitzt, mit 600.000 Euro aus der Ministeriumskasse fördern will, zieht Habeck die Reißleine und trennt sich von seinem Mastermind. „Das war der eine Fehler zu viel“, sagt der Minister. Das Private – hier zeigt es sich wieder einmal politisch.

Zugegeben, nach dem österreichischen Schmid-Karmasin-Standard riecht das maximal nach einem Hauch von Korruptiönchen – gemessen am hehren Selbstverständnis der deutschen Grünen aber ist es eine moralische Katastrophe. Zwischen Heiligenschein und Sein lauert der Teufel in Gestalt nicht beachteter Compliance-Regeln. Das Netz, das Robert Habeck geknüpft hat, damit es ihn hält und auffängt, droht ihn nun zu erdrosseln.

Lichtgestalt wird Zwielichtmann

Endet die Heldenreise so unheroisch? Wie hat Robert Habeck die Liebe seiner Landsleute verloren? Und wird er sie je wieder erobern können? Er, dem der dezent angegraute Viertagebart so viel besser steht als das glattrasierte Gesicht, das er am Tag der Graichen-Entlassung zeigt. Er, der so entspannt mit aufgekrempelter Anzughose am Strand sitzen und die Füße mit der Ostsee spielen lassen kann. Er, der sich beim Denken zusehen lässt und auch beim Zweifeln.

Habeck, der Posterboy des postmachistischen Zeitalters. Habeck, das Einhorn. Ein Schriftsteller, der Politiker wird.

Endlich mal kein Phrase-Hase. Einer, der auf verbrauchte, abgenutzte Politikersätze verzichtet. Der seine Jugendliebe Andrea heiratet, vier Kinder mit ihr bekommt, mit ihr Romane und Jugendbücher schreibt, nicht aus literarischem Eifer, sondern weil man sich so die Kindererziehung besser aufteilen kann. Viril mit Gefühl. Machtmensch, ja, schon, aber kein Macker. Posterboy des postmachistischen Zeitalters. Habeck, das Einhorn. Ein Schriftsteller, der Politiker wird. Da fallen einem auf die Schnelle nur Václav Havel oder Erich Mühsam ein. Das Problem zwischen Einhorn und Mehrheit ist ja: Entweder das Einhorn geht bewundert voran oder es wird ausgestoßen und verheddert sich im Gestrüpp aus Missgunst, Gasumlage, Atomstreit, Wärmepumpe.

Denn natürlich geht es in dem aktuellen Drama nur vordergründig um die Familienaufstellung im Habeck-Ministerium und die Gestalten, die wir auf der Bühne sehen. Es geht auch ganz generell um das Verhältnis zwischen gewählten, dem Volk verpflichteten Politikern einerseits und dem Experten andererseits, der tief in den Details steckt und sich „der Sache“ verpflichtet fühlt. Egal ob Klimaschutz, Pandemie-Schutz, Inflationsbekämpfung, Friedenssicherung. Habeck und Graichen sind da nur Pars-pro-toto- Typen. Der Politiker hat gelernt, dass Wahrheit eine Mehrzahl hat und die vielen Wahrheiten verhandelbar sind. Er integriert, intrigiert, schließt Kompromisse und ist bereits erfolgreich, wenn er ein bisschen etwas durchsetzt. Der Experte hingegen besteht darauf, dass Wahrheit auf Wissen beruht und Wissen nicht verhandelbar ist.

Und damit sind wir wieder beim „Gebäude-Energie-Gesetz“. Es ist der Kern des Desasters, nicht weniger als das Schlüsselprojekt der Grünen in der Ampelkoalition – und es ist geprägt von der Handschrift des Experten. Die von Graichen ersonnene Novelle zum GEG will ab 2024 den Neueinbau von Gas- und Ölheizungen verbieten. Die Alternative ist die Wärmepumpe, eine Art umgekehrter Kühlschrank, die der Luft Wärme entzieht und diese speichert. Der Umbau der Heizsysteme gilt als zentraler Baustein der Klimawende, die bis 2030 den CO2-Ausstoß um 65 Prozent verringern soll.

Widersacher auf der Regierungsbank

Aber auch die Befürworter des Gesetzes wissen mittlerweile: Es ist nicht fertig gedacht. Es fehlen wesentliche politische Komponenten: Umsetzbarkeit, Sozialverträglichkeit, Mehrheitsfähigkeit. Noch ist beispielsweise völlig unklar, wie der Einbau neuer Wärmepumpen (die Kosten pro mittlerem Einfamilienhaus werden mit rund 50.000 Euro veranschlagt) vom Staat gefördert werden soll. Und nebenbei fehlen mindestens 60.000 Monteure zum Einbau der Wärmepumpen.

Der Sturz von Patrick Graichen öffnet nun den Kritikern der grünen Klimaschutzpolitik, allen voran der FDP, die Gelegenheit, das GEG auf eine etwas längere Bank zu schieben und das Projekt des Koalitionspartners zu bremsen. Es geht dabei – je nach Framing – darum, ob die Dekarbonisierung der deutschen Heizungswirtschaft, also die „Operation Wärmepumpe“ („Spiegel“) gelingt oder ob „Habecks Heizungshammer“ („Bild“), der Hausbesitzer und Mieter zu erschlagen drohe, noch verhindert werden kann.

Wann nun welches wie auch immer überarbeitete Heizungsgesetz beschlossen wird, ist im aktuellen Kuddelmuddel völlig unklar. Die Ampel steht auf Stopp. Die Klimawende hat Pause. „Das Gebaren der Koalition schafft den Eindruck, als wäre Klimaschutz eine unlösbare Aufgabe“, sagt Dagmar Rosenfeld, Chefredakteurin der „Welt am Sonntag“ (und von 2011 bis 2020 Ehefrau von FDP-Chef Christian Lindner). Das ganze GEG-Gehampel zeigt auch, dass die unbeugsamsten Gegner Habecks nicht Friedrich Merz (CDU-Chef), Markus Söder (CSU-Chef) oder „Bild“ heißen. Die wirklich harten Widersacher umzingeln ihn auf der Regierungsbank. Da ist zunächst Olaf Scholz. Der Bundeskanzler hält sich im Streit Grüne-FDP nicht vornehm, aber vornehmlich zurück und scheint durchaus Schadenfreude zu empfinden, wenn der Vizekanzler, der in der nächsten Legislaturperiode gern selber Kanzler werden würde, sich verheddert.

Dass die zahlreichen sozialdemokratischen Manager der kommunalen Energiewerke den Rückbau der Gasnetze nicht ungeteilt bejubeln, kommt da noch dazu.

Und dann wäre da noch Christian Lindner, eine Art Anti-Habeck. Finanzminister gegen Klimaminister. Der Porschefahrer und der Radfahrer. Einig ist man sich nur bei der Cannabis-Legalisierung. Ansonsten dauern die Potenzspiele der beiden Alpha-Herren seit Anbeginn der Ampel an. Auch deshalb, weil sich die Zielgruppen der Grünen und der Freien Demokraten soziologisch überschneiden. Längst erweisen sich die Grünen eher als der esoterisch-schwärmerische Flügel des deutschen Liberalismus und nicht als die neomarxistische Verbotspartei, die Mitbewerber in ihr sehen möchten.

Wanderung auf ungeraden Wegen

Und die Außenministerin? Ab 2018 führten Annalena Baerbock und Robert Habeck die Grünen gemeinsam, sie setzte sich als Kanzlerkandidatin für die Bundestagswahl 2021 durch und vermasselte den erhofften Wahlsieg mit ihrer Plagiatsaffäre. Habeck konnte nie seine Überzeugung verbergen, dass er alles viel besser gemacht hätte. Verletzungen und Misstrauen sind geblieben. Dass die erste Geschichte über die Qualverwandtschaften im Habeck-Ministerium in der nicht gerade als Baerbock-fern verschrienen „taz“ stand, hat vielleicht damit zu tun. Mittlerweile liegt Baerbock in Umfragen und in der Parteigunst vorn.

Die Seite eins der „Neuen Zürcher Zeitung“ bringt die Verhältnisse auf den Punkt. Zwei Storys, zwei Schlagzeilen: „Baerbock ist in der Realpolitik angekommen“ und „Habeck unter Druck“. Politik ist eine Wanderung auf ungeraden Wegen. Eben noch vom Gipfel geblickt, von Mehrheiten getragen, droht nach ein paar falschen Schritten Stolpern, Erschöpfung, Verzweiflung, Verachtung. Absturzgefahr. Wird man an dieser Stelle zum Zyniker? Und kann man nur als Zyniker neu aufbrechen?

Vieles spricht dafür, dass Robert Habeck kein Zyniker ist. Als Schriftsteller weiß er, dass auch dem Scheitern eine Schönheit innewohnt. Aber ist Robert Habeck bereit für die Zuschauerbank? In einem Beitrag für die Tageszeitung „Die Welt“ beschrieb Robert Habeck vor sechs Jahren, wie er es, dank des Rates eines Freundes, letztendlich schaffte, die Rolle des Peachum im Schülertheater zu behalten: „Er sagte mir: Du darfst dir deine Angst nicht anmerken lassen. Du musst immer so tun, als ob.“ Das war immer schon der beste Überlebenstrick in der Politik.