Corona-Krise

Timothy Garton Ash: "Das könnte die Rettung Europas sein"

Der Autor und Historiker Timothy Garton Ash über die Zukunft der EU nach der Corona-Krise, die Schwächen der Währungsunion, gemeinsames Schuldenmachen und Denkmalstürzer in Großbritannien.

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Interview: Tessa Szyszkowitz, Videolink, London-Oxford

Timothy Garton Ash, 64, ist Professor für Europäische Studien an der Oxford University. Seit die Stasi - der Geheimdienst der DDR - den jungen Historiker im geteilten Berlin der 1980er-Jahre für einen britischen Spion hielt, ist er längst selbst ein Teil der europäischen Geschichte geworden. Seine Analysen werden in Staatskanzleien gehört.

Sein jüngstes Buch, "Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt" (Hanser Verlag), basiert auf einem weltweiten Forschungsprojekt, das er mit seinen Studenten in Oxford über Grenzen und Regeln der Meinungsfreiheit im globalen Dialog durchgeführt hat. Ein weiteres Projekt unter dem Titel "Europe's Stories" erstellt Studien darüber, was junge Europäer prägt und bewegt (europeanmoments.com).

Garton Ash schreibt regelmäßig für "The New York Review of Books" und seit 2004 Kommentare in der linksliberalen Tageszeitung "The Guardian", die in den vergangenen Jahren den holprigen Weg zum Austritt Großbritanniens aus der EU begleiteten, den Ash tief bedauert.

profil: "I can't breathe" ist das prägende Zitat dieses Frühlings geworden. Die Corona-Krise vermischt sich mit antirassistischen Protesten. Was erleben wir da?

Ash: Es ist die gerechtfertigte Wut darüber, dass wir schon wieder ansehen mussten, wie ein schwarzer Mensch vor aller Augen getötet wurde. Die Proteste in Europa erzählen etwas darüber, wie sehr die Vereinigten Staaten immer noch über "Soft Power" verfügen. Immerhin bewegt die Leute ja etwas, was sehr weit weg in Minneapolis passiert ist. Außerdem handelt es sich hier um ein Generationsphänomen. Junge Europäer wollen etwas verändern - die Ungleichheit in unserer Gesellschaft.

profil: In Großbritannien führen die Proteste jetzt auch zu Denkmalstürzen. Am Sonntag fiel in Bristol die Statue des Sklavenhändlers und Philanthropen Edward Colston. In Oxford, wo Sie unterrichten, gibt es die Diskussion um ein Standbild von Cecil Rhodes - dem Gründer britischer Kolonien in Afrika. Soll es ins Museum?

Ash: Nein, Cecil sollte nicht ins Museum. Es ist nur eine kleine Statue an der Fassade eines Colleges. Jeder dieser Fälle muss einzeln begutachtet werden. Was hat der Mann oder die Frau getan, wie ist der Kontext. Es ist schon erstaunlich, dass mit Edward Colston ein wirklich extremer Profiteur des Sklavenhandels in einer multikulturellen Stadt wie Bristol immer noch auf einem Podest gestanden hat. Deutschland musste sich sehr mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, und für die Briten ist es sicher eine gute Idee, wenn sie sich endlich mit den dunklen Seiten des Britischen Empire auseinandersetzen.

profil: Diesen Freitag treffen sich die EU-Staatschefs. Erwarten Sie, dass es ein eindeutiges Ja zum Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro für die Corona-Krise geben wird, der von Ursula von der Leyen mit Unterstützung von Emmanuel Macron und Angela Merkel vorgeschlagen wurde?

Ash: In den meisten Fällen kommt es in der EU am Ende zu Deals und Kompromissen. Man kann es natürlich nicht hundertprozentig sagen, weil auch ein kleines Land wie Österreich theoretisch ein Veto einlegen könnte. Und weniger theoretisch könnte das ein Land wie Ungarn tun. Dänemark aber hat schon signalisiert, dass es zu einem Kompromiss bereit ist. Wir sollten also optimistisch sein. Europa reagiert mit dem Wiederaufbaufonds eindrucksvoll in seiner Gesamtheit auf die Corona-Krise. Außerdem hat Angela Merkel damit nicht ein, sondern gleich zwei deutsche Tabus gebrochen: Sie hat der Vergemeinschaftung von Schulden zugestimmt und sich bereit erklärt, dass Gelder in Form von Zuschüssen und nicht von Krediten vergeben werden. Die Kombination aus beidem ist die beste Nachricht, die ich seit Langem aus der EU gehört habe.

profil: Wieso hat Angela Merkel ihre Meinung geändert? Hat Emmanuel Macron so starken Druck gemacht?

Ash: Es ist ein herrliches Beispiel für die "List der Geschichte". Ja, Macron hat Druck gemacht, und ja, Merkel hat die Wichtigkeit dieses historischen Moments erkannt. Ich glaube aber, dass letztlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zur Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ausschlaggebend war. Es war ein Versuch, die Europäisierung zu beenden, und es hatte am Ende den gegenteiligen Effekt.

profil: Weil die Richter mit ihrem Urteil in Karlsruhe die Unabhängigkeit der EZB infrage gestellt haben?

Ash: Wir können uns nicht mehr einfach darauf verlassen, dass die EZB tun kann, was notwendig ist. Ich glaube, Merkel hat in diesem Moment erkannt, dass sie etwas tun muss. Es ist wirklich eine große Sache. Und die Tatsache, dass laut den ersten Meinungsumfragen 51 Prozent der Deutschen ihrem Plan zustimmten, finde ich faszinierend. Es ist eine knappe Mehrheit, aber sie geht in die richtige Richtung.

profil: Trotz der Wirtschaftskrise, die den Deutschen wegen der Corona-Krise droht, ist die Solidarität nach Europa zurückgekehrt?

Ash: Seit zehn Jahren haben Leute wie ich das Argument vorgebracht, dass man nicht nur A sagen kann, indem man eine Währungsunion gründet, ohne dann auch B zu sagen und danach Sorge zu tragen, dass Südeuropa nicht permanent schlechter dasteht als Nordeuropa. Der Katalysator dafür ist die Corona-Krise gewesen. Sie hat einen Hoffnungsschimmer in diese Debatte gebracht, weil niemand sagen kann, dass die Italiener und Spanier selbst am Virus schuld seien, schließlich kam er aus China. Ich glaube, das hat die öffentliche Meinung in Deutschland signifikant beeinflusst.

profil: Angela Merkel und Ursula von der Leyen müssen jetzt allerdings noch die "Sparsamen Vier" überzeugen -darunter Österreich.

Ash: Grundsätzlich geht es bei diesem Argument nicht um Eigeninteresse versus Altruismus. Es ist ein Widerspruch zwischen einem kurzsichtigen und einem aufgeklärten, langfristigen Eigeninteresse. Langfristig ist es noch mehr im Interesse der "Sparsamen Vier", dass die Gesamtheit der Eurozone und der EU gut funktioniert. Besonders für Österreich. Noch mehr als für Deutschland. Deutschland ist ein großes Land mit einer starken Wirtschaft, es könnte auch allein ganz gut vorankommen. Aber eine kleinere Wirtschaft, selbst wenn sie gut dasteht, hängt viel mehr vom Funktionieren eines größeren Marktes ab.

profil: Die österreichische Regierung fürchtet, dass uns dieses Hilfspaket der sogenannten "Schuldenunion" näherbringt. Stimmt das?

Ash: Ehrlich gesagt gibt es schon ein Element der Vergemeinschaftung von Schulden. Die EU wird ja auf den Märkten Geld ausborgen. Dennoch ist dieses Paket komplett anders als die Eurobonds. Diese hätten bedeutet, dass alte Schulden vergemeinschaftet werden. Jetzt geht es um eine einmalige Hilfe nach einer Naturkatastrophe. Daraus entsteht nicht dringend eine Transferunion oder eine Fiskalunion. Wir brauchen nur etwas, das jetzt funktioniert. Italien und Spanien müssen gleichermaßen damit leben können wie Deutschland und Österreich.

profil: Die EU könnte mit einem effizienten Wiederaufbauprogramm für die Corona-Krise zeigen, dass sie als Zentralbehörde agieren kann?

Ash: Mein alter Freund Giuliano Amato

profil: ehemaliger italienischer Ministerpräsident und Innenminister, derzeit Richter am Verfassungsgerichtshof

Ash: sagte immer, dass die EU ein UFO ist. Wenn die Leute jetzt über einen "Hamilton'schen Moment" reden, dann halte ich das für irreführend.

profil: Sie meinen Alexander Hamilton, einen der Gründerväter der Vereinigten Staaten, der einen historischen Verfassungskompromiss erreicht hat. Kann man kann das überhaupt mit der EU vergleichen?

Ash: Die EU hat einen ganz eigenen Charakter. Eine Sache, die wir sicher sagen können: Es ist besser, wenn die europäischen Staaten zusammenarbeiten, als wenn sie getrennt agieren. Wenn die EU in zehn Jahren noch stark sein will, dann muss sie zeigen, dass sie auch liefern kann.

profil: Wie kann es sein, dass einige EU-Staaten, die zu den reichsten gehören, genau das nicht verstehen wollen?

Ash: Ich habe eine gewisse Sympathie für die Skeptiker. Würde die Währungsunion nicht schon existieren, dann würde ich nicht empfehlen, sie so, wie sie jetzt ist, zu erfinden. Es ist ein Zwischending - eine Währungsunion für sehr unterschiedliche Wirtschaften. Die nördliche Wirtschaftskultur unterscheidet sich stark von der südeuropäischen. Ich halte es allerdings für problematisch, dass die Österreicher vielleicht nicht verstehen, wie sehr eine funktionierende Währungsunion auf lange Sicht in ihrem eigenen Interesse ist. Österreich hat sehr von der Währungsunion profitiert. Deutschland auch. Es ist den Leuten vielleicht deshalb nicht klar, weil die Politiker es ihnen verheimlichen. Die Politiker haben seit Jahren immer nur über die Probleme mit den südlichen Staaten geredet und alles Lob für sich eingestrichen, wenn etwas gut gegangen ist. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den Bürgern mitzuteilen, dass die Währungsunion einer der Gründe ist, warum es den nördlichen Staaten gut geht.

profil: Es ist verständlich, dass Leute, die ihren Job verloren haben und zu Hause sitzen, sehr skeptisch sind, wenn ihre Regierungen jetzt für andere Staaten Hilfsgelder zahlen. Finanz-und Premierminister von EU-Mitgliedstaaten könnten aber schon verstehen, dass dieser Moment für die Existenz der EU von großer Bedeutung ist.

Ash: Ich stimme vollkommen zu. Statt Leadership haben wir Gefolgschaft. Manche Regierungen laufen der öffentlichen Meinung hinterher, statt sie zu formen. Und dann ist da Angela Merkel. Sie ist so eindrucksvoll als Mensch, als Verkörperung des besten Deutschland, das wir jemals hatten - moderat, prinzipientreu, pragmatisch geführt: eine Führungsfigur mit allen Qualitäten weiblichen Leaderships in einer Krise. Der einzige Bereich, in dem sie bisher nicht so toll war, war an der europäischen Front. Wenn sie das in ihrem letzten Amtsjahr noch hinbekommen kann, dann wird sie einen sehr schönen Platz in den Geschichtsbüchern bekommen.

profil: Merkel muss den Wiederaufbaufonds durchboxen und dann abtreten?

Ash: Sie muss keine Wahlen mehr gewinnen, also könnte sie es. Ihr Prestige ist gerade jetzt so hoch und ihre Popularität so überwältigend - sie ist nicht die Geisel irgendeines Nachfolgers in der CDU. Es ist wie ein Geschenk Gottes, so einen politischen Moment zu erleben.

profil: Vielleicht wird die Corona-Krise auch etwas Positives in der EU bewirken?

Ash: Es gibt fünf Brüche, die schon vor der Corona-Krise da waren: zwischen Europa und den USA wegen Donald Trump; zwischen Europa und Großbritannien wegen des Brexit; zwischen Nord-und Südeuropa wegen der Eurokrise; zwischen West-und Osteuropa wegen der Erosion der Demokratie in Polen und Ungarn; und der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Die Frage, die wir für die Post-Corona-Welt stellen müssen, ist: Was bedeutet diese Pandemiekrise für jede dieser Frakturen? Werden sie tiefer oder kann die EU sie bewältigen?

profil: Könnte die EU den Nord-Süd-Bruch durch den Wiederaufbaufonds kitten?

Ash: Der Wiederaufbaufonds könnte der Durchbruch sein, der die EU rettet -wenn er am 19. Juni durchgeht und das Geld auch schnell, unbürokratisch und effektiv verteilt werden kann. Die EU ist üblicherweise schlecht in diesen Dingen. Es wird darauf ankommen, ob Italien am Ende überzeugt ist, dass es genug Unterstützung bekommen hat. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die Gefahr ist meiner Meinung nach, dass wir das, was wir an der Nord-Süd-Front gewinnen, an der Ost-West-Front verlieren.

profil: Wieso? Ungarn und Polen werden doch auch Unterstützung bekommen?

Ash: Ich bin schrecklich besorgt über Ungarn und Polen. Ungarn ist seit zwei Jahren keine Demokratie mehr. Solange Viktor Orbán seine Sondervollmachten behält, ist Ungarn praktisch eine Diktatur. Die Kastration des Rechtsstaats in Polen geht rapide voran. Und das, während beide Staaten Milliarden an EU-Hilfe bekommen. Was die EU für ihren nächsten Finanzrahmen - das Budget der kommenden sieben Jahre - schaffen muss, ist zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Verbindung zwischen dem Europa des Geldes und dem Europa der Werte herzustellen. Die Transparenzregeln sollten für alle Mitgliedstaaten gelten. Wenn jemand EU-Gelder bekommt, dann muss er sich auch an Transparenz und Rechtsstaat halten.

profil: Warum sollte nicht beides möglich sein?

Ash: Ungarn und Polen werden einen Preis dafür verlangen, dass sie dem Wiederaufbaufonds zustimmen. Ich habe die große Befürchtung, dass Ursula von der Leyen und bis zu einem gewissen Grad auch Angela Merkel akzeptieren, dass die EU den Nord-Süd-Bruch kittet, indem sie beim Ost-West-Konflikt nicht hart genug bleibt. Das liegt auch daran, dass in Österreich und Deutschland Mitteleuropa zentrale Bedeutung hat. Die Wirtschaften Ost-Zentraleuropas sind so wichtig für diese beiden Länder, dass sie fast Teil der deutschen und österreichischen Ökonomien sind. Österreich ist da sehr ähnlich wie Deutschland. Man kann es kurzfristig verstehen, aber auf lange Sicht ist das für die EU nicht gut.

profil: Wie bewerten Sie die Vorgangsweise von Orbán?

Ash: Orbán macht das brillant: Er selbst hat es den Pfauentanz genannt - zwei Schritte vor, einen zurück. Machiavelli wäre stolz auf ihn. Die EU darf sich nicht darauf einlassen, zu erlauben, dass Ungarn seinen Rechtsstaat noch weiter aushöhlt.

profil: Man könnte beispielsweise damit anfangen, Ungarns Regierungspartei Fidesz aus der EVP auszuschließen.

Ash: Das hätte schon längst passieren sollen. Doch das ist kein Ersatz für die strukturellen Änderungen, die sich die EU im nächsten Finanzrahmen geben sollte. Erstens sollten EU-Chefs klarere Worte sprechen, wenn politische Probleme auftreten. Und zweitens soll es keinen Spezialstatus für Ungarn geben. Sonst kann Orbán immer sagen, dass die EU mit zweierlei Maß misst. Die EU muss verhindern, dass ihre Gelder in Reptilienfonds für populistische Regierungen fließen.

profil: Als David Cameron seine Tories 2009 aus der EVP geholt hat, beschleunigte dies deren Radikalisierung in Richtung Brexit.

Ash: Orbán ist in dieser Hinsicht viel klüger als David Cameron, der damalige britische Premierminister. Cameron hatte einfach nicht verstanden, wie wichtig die EVP war. Ich habe dieses Argument aber schon zu oft gehört von Leuten, die keine harten Maßnahmen gegen autoritäre Führer ergreifen wollen. Wie extrem soll es in Ungarn werden, bis wir sagen: Es reicht jetzt! Schon davor werden sich die Spannungen innerhalb Ungarns verstärken. Man darf nicht vergessen, dass Orbán nicht ganz sicher im Sattel sitzt. Ungarns Hauptstadt Budapest hat einen oppositionellen Bürgermeister. Irgendwann wird es den Leuten vermehrt auffallen, wie reich Orbáns Familie und seine Kumpel sind - und in welch schlechtem Zustand sich im Vergleich die Spitäler befinden, in denen die Leute an Covid-19 gestorben sind. Wenn die EU jetzt aufpasst und die richtigen Maßnahmen setzt, dann wird Ungarn in fünf oder zehn Jahren wieder demokratisch sein.

profil: Zu Ihrem Bruch eins, den transatlantischen Beziehungen. Wie man die verbessern könnte, ist klar.

Ash: Ja, wenn Joe Biden im November die US-Wahlen gewinnt, weil Trump die Corona-Pandemie so schlecht gemanagt hat, dann ist das natürlich eine sehr gute Nachricht für die Demokratie und für das europäische Projekt. Auch der Bruch mit Russland wird wegen Corona ein bisschen gemildert. Putin hat die Pandemie ebenfalls nicht gut bekämpft, und das hat Russland geschwächt. Der Verfall des Ölpreises hat ebenfalls dazu beigetragen. Putin ist heute eine geringere Bedrohung als vorher.

profil: Was auch rund um den EU-Gipfel besprochen werden soll, ist Ihr Bruch Nummer zwei: der leidige Brexit. Dieser könnte jetzt sogar noch härter werden als gedacht?

Ash: Die extrem inkompetente Regierung von Boris Johnson - das ist inzwischen klar - wird alles tun, um Großbritannien Ende des Jahres aus dem EU- Binnenmarkt zu holen. Ihr ist egal, wie schlimm die negativen Konsequenzen ausfallen. Wenn es überhaupt einen Deal mit der EU geben wird, dann einen sehr schlanken. Johnson wird einfach auf Corona zeigen und nicht auf den Brexit. Das ist politisch ganz clever und hinsichtlich des nationalen Interesses extrem zynisch.

profil: Rechtspopulisten wie Jair Bolsonaro in Brasilien, Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien haben die Krise besonders schlecht gemanagt. Kann das dazu führen, dass das Ende des Populismus als treibende Kraft der westlichen Politik eingeleitet wird?

Ash: In meiner Forschungsgruppe in Oxford haben wir eine Umfrage unter jungen Europäern durchgeführt. 53 Prozent meinten, dass autoritäre Staaten besser mit dem Klimawandel umgehen als Demokratien. Vielleicht werden sie das auch über das Management von Pandemien denken. Es geht aber letztlich nicht um autoritäre Staaten versus Demokratien. Bei Corona ist es eher Asien im Vergleich mit dem Westen. Die asiatischen Demokratien Taiwan und Südkorea haben Corona am besten bekämpft. Im Westen sind Trump und Bolsonaro persönlich für die Lage verantwortlich. Johnson ist eine andere Kategorie, seine Regierung hat wenigstens versucht, dem Rat der Wissenschafter zu folgen. Ihr Problem ist, dass sie nur zweitklassig und inkompetent ist.

profil: Ihre Umfrage hat auch ergeben, dass 71 Prozent der jungen Europäer für ein bedingungsloses Grundeinkommen sind. Das sieht nach einem spannenden Auftrag aus.

Ash: Es gibt offenbar ein großes Verlangen, in diese Richtung zu gehen. Seltsamerweise können wir uns sogar in dieser Frage auf den neoliberalen Milton Friedman berufen: Er hat eine negative Einkommenssteuer vorgeschlagen. So wie es jetzt auch während der Krise mit Direktzuschüssen bei Gehaltsausfall passiert ist. Wenn jemand unter einer gewissen Grenze verdient -das war Friedmans Idee -, dann nimmt der Staat keine Steuern, sondern zahlt eine Negativsteuer.

profil: Da höre ich schon die "Sparsamen Vier" aufheulen.

Ash: Natürlich, es wird Hunderte Einwände geben. Aber wenn die Leute dem Volkswillen folgen wollen, dann wäre das Grundeinkommen eine populäre Idee. Und man kann es vielleicht den Konservativen etwas leichter verkaufen, wenn es von Milton Friedman kommt.

profil: Nicht Marxismus

Ash: sondern Friedmanismus.

profil: Wollen jetzt auch noch Sie die Liberalen für alles verantwortlich machen, was in Osteuropa schiefgegangen ist?

Ash: Ich schreibe gerade an einem Essay über die Zukunft des Liberalismus. Es war nicht alles falsch. Die ersten 15 Jahre haben wir alle viel richtig gemacht. Wenn wir beide am 10. November 1989 zusammengesessen wären, hätten wir es nicht für möglich gehalten, dass in Europa überall liberale Demokratien entstehen würden. Aber dann hat auch eine gewisse Selbstüberschätzung eingesetzt. Daraus entstand die Finanzkrise 2008. Und irgendwie leben wir immer noch im Jahr 2009. Manches wurde zu schnell zu weit getrieben und manchmal auch in die falsche Richtung. Liberalismus wurde auf wirtschaftlichen Liberalismus reduziert und dann auch noch auf ausschließlich einen der freien Märkte. Wir müssen den anderen Teil des Liberalismus wieder restaurieren, den kulturellen und sozialen.

profil: Hat die Solidarität also doch noch eine Chance?

Ash: Das ist die Herausforderung. Mit einem haben die Populisten recht gehabt: Es braucht eine Umverteilung des Respekts. Liberale und Eliten habe manche Teile der Gesellschaft zu wenig respektiert. Wegen Corona gibt es jetzt einen neuen Respekt für die Arbeitskräfte, die das System am Laufen halten. Es kommt damit zu einem Nachkriegsmomentum. Es fragt sich aber: Ist es das Momentum von 1918 oder 1945?

profil: Und?

Ash: Beides ist möglich. Es hängt von der politischen Führung ab. Ich weiß, das ist so ein Klischee. Doch eine kluge Führung könnte jetzt viel bewegen.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz