Jenseits von Kiew

Ukraine: der Westen hat jenseits von Kiew jegliche Kontrolle verloren

Ukraine. Der Westen hat jenseits von Kiew jegliche Kontrolle verloren

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Es ist eine Art Krieg ohne Waffengebrauch, der die Ukraine seit Tagen immer näher an eine Katastrophe heranführt. Was sich derzeit in Slowjansk, Kramatorsk, Horliwka und anderen Städten der Ostukraine ereignet, könnte der letzte Akt vor einem Krieg sein – zumal reguläre Truppen der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine zum Einsatz bereitstehen. Ist das nun der Anti-Maidan, der auf den Maidan folgt? Besteht zwischen den beiden Bewegungen eine Symmetrie? Und warum verliert der Westen, der eben noch die Ukraine in seinen Einflussbereich gebracht zu haben schien, nun jegliche Kontrolle? profil versucht, fünf wesentliche Fragen in diesem Konflikt zu beantworten.

1. Verliert Kiew die Ostukraine?

Die Ukraine hat unmittelbar nach dem Sturz der Regierung von Viktor Janu-kowitsch die Halbinsel Krim kampflos an Russland verloren. Damit musste sich das eben an die Macht gekommene pro-europäische Regime abfinden, nachdem Russland erst eine inoffizielle militärische Operation auf der Krim durchgeführt und die Regionalregierung anschließend ein Referendum zum Anschluss an die Russische Föderation abgehalten hatte. Ist nun nach demselben Muster der Osten der Ukraine an der Reihe?
Brian Bonner, Chefredakteur der englischsprachigen ukrainischen Zeitung „Kiew Post“ warnt: Mit der Krim habe der Staat fast fünf Prozent seiner Bewohner und seines Territoriums eingebüßt, und mit der Donbass-Region gingen weitere zehn Prozent verloren. „Wenn der Westen und die Ukrainer die Nation retten wollen, ist die Zeit gekommen.“

Der russische Historiker Igor Narskij rechnet mit dem Zerfall der Ukraine. „Ich bin sehr pessimistisch. Ich befürchte, dass die Ukraine als einheitlicher Staat nicht mehr lange existieren wird“, sagte der Professor an der Universität Tscheljabinsk in einem Telefoninterview mit der APA.

Zwar ist der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung in der Region Donbass nicht so hoch wie auf der Krim und der Wunsch nach einem Anschluss an die Russische Föderation nach Einschätzung vieler Beobachter nicht mehrheitsfähig, aber viele Menschen in der Ostukraine lehnen die neue Regierung in Kiew ab. Sie fürchten, dass die prowestliche Führung die Interessen in den Gebieten nahe der Grenze zu Russland ignoriert.

Außerdem weisen viele die Schuld an der misslichen wirtschaftlichen Lage der neuen Führung zu. Die Landeswährung Griwna hat seit Beginn des Jahres um mehr als 30 Prozent an Wert eingebüßt, mehr als jede andere Währung weltweit. Der Absturz hat die Importe verteuert und die Inflation angeheizt. Investoren hatten aus Sorge vor einer weiteren Eskalation immer mehr Geld aus dem Land abgezogen.

Zudem geht unter den Russischsprachigen die Angst vor Rechtsextremen um. Nach russischer Leseart waren es „Faschisten“, die die Proteste am Maidan-Platz angezettelt und während der Eskalation der Gewalt aus dem Hinterhalt geschossen hatten. Russische Staatssender verbreiteten die Falschmeldung, dass der russischsprachigen Bevölkerung nunmehr schwere Strafen drohten, wenn sie in ihrer Muttersprache kommuniziere. Auslöser war das inzwischen vom Parlament in Kiew zurückgezogene Gesetz, das der russischen Sprache ihren ­besonderen Status aberkennen sollte.

Kremlfreundliche Medien übertrumpfen ­einander mit Horrorgeschichten über angebliche russenfeindliche Brutalität. So sollen etwa Dutzende Menschen bei der Erstürmung des Flughafens von Kramatorsk im ostukrainischen Donezk durch die Sicherheitskräfte der Interimsregierung erschossen worden sein. Doch vor Ort ließen sich bisher keine Toten oder auch nur Verletzte finden.

Propaganda ist auf beiden Seiten allgegenwärtig. Aber auch die russische Seite hat in der Region Donbass kein so ­einfaches Spiel wie auf der Krim. Der ­Ausgang eines Referendums über eine Abspaltung von Kiew wäre ungewiss.

2. Steuert Moskau die Vorgänge in der Ostukraine?

Der Vorwurf, Russland ziehe bei den Aufständen im Osten uneingestanden die Fäden, wird von Washington bis Berlin erhoben. Zwar fehlen noch handfeste Beweise, doch einige Indizien sprechen dafür: Die grüne Tarnkleidung der paramilitärischen Einheiten – ohne reguläre Abzeichen an den Uniformen – entspricht erstaunlich genau jener, die russische Soldaten tragen. Die Männer selbst sprechen Russisch ohne den Dialekt der Region Donbass, so ein offizieller westlicher Beobachter, der nicht genannt werden möchte. Auch die gute Organisation, das planmäßige Vorgehen und die Ausrüstung deuten laut zahlreichen Experten auf russische Ausbildung hin. Russlands Präsident Wladimir Putin wies in einem Telefonat mit Barack Obama die Anschuldigungen zurück. Grund für die Proteste in den ukrainischen Städten seien der „Widerwille und die Unfähigkeit“ der Kiewer Behörden, die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung zu berücksichtigen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow verwahrte sich am vergangenen Montag zum wiederholten Male gegen alle westlichen Vorwürfe: „Wenn es Fakten gibt, sollte man sich nicht genieren, diese vorzulegen.“ Und: „Wenn ihr euch geniert, heißt das, dass es keine Fakten gibt.“

Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Moskau sehr wohl die Ereignisse bestimmt, ist die auffallende Ruhe, mit der Putin und Lawrow die Unruhen im Nachbarland verfolgen. Handelte es sich tatsächlich um Milizen, die nicht unter russischer Kontrolle stehen, wäre Moskau wohl um einiges besorgter.

3. Warum ist der Westen ins ­Hintertreffen geraten?

Als Viktor Janukowitsch sich im ­Februar nach Russland abgesetzt hatte und Premier Arseni Jazenjuk an die Macht kam, sah es so aus, als habe der Westen – die EU und die USA – die Ukraine dem russischen Einflussbereich zur Gänze ent­rissen. Seither jedoch scheint Russland alle Trümpfe in der Hand zu ­halten.

Die Regierungen in Washington, London und Berlin vermitteln den Eindruck von Hilflosigkeit. Sie machen den Kreml für die separatistischen Unruhen in der Ostukraine direkt verantwortlich und werfen ihm damit vor, die „rote Linie“ überschritten zu haben, die von den Staats- und Regierungschefs der EU am 20. März gezogen worden war. Damals hatten sie gedroht, dass „alle weiteren Schritte der Russischen Föderation zur Destabilisierung der Lage in der Ukraine zu zusätzlichen und weitreichenden Konsequenzen“ führen würden, und zwar in Form von Wirtschaftssanktionen. Doch seither passiert – nichts.

Bisher hat die EU in zwei Schritten insgesamt 33 Russen und Ukrainer mit Kontensperrungen und Einreiseverboten belegt, die sie für die Destabilisierung der Ukraine und die Annexion der Krim durch Russland verantwortlich macht. Auch die erweiterten Einreise- und Kontensperren bleiben wohl dennoch ein Mittel der symbolischen Politik, wie etwa ein Blick nach Deutschland zeigt. Die Anzahl der dort in Zusammenhang mit den EU-Sanktionen gesperrten Konten: null. Die in den Sanktionslisten erwähnten Personen haben in Deutschland keine Konten, bestätigte die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums einen Bericht des „Tagesspiegels“. In Österreich hält sich das Volumen der eingefrorenen Gelder in sehr überschaubaren Grenzen: Wie profil berichtete, beträgt die Summe insgesamt nicht mehr als sechs Millionen Euro.

Militärisch wiederum kann die EU der Ukraine keine Hilfe anbieten, da das Land nicht NATO-Mitglied ist; dafür verstärkt man auf Bitten der baltischen Mitglieder Litauen, Lettland und Estland – einstigen Sowjetrepubliken – sowie Polens und Rumäniens die militärische Präsenz in den östlichen Staaten des Militärbündnisses.

Somit scheinen die Möglichkeiten des Westens kurzfristig erschöpft. Russland bestimmt das Geschehen.

4. Was unterscheidet die Vorgänge in der Ostukraine von den
Maidan-Protesten?

Der „Euro-Maidan“: eine teils bewaffnete Bewegung, die einen gewählten Präsidenten stürzt. Der ostukrainische Aufstand: eine teils bewaffnete Bewegung, die Institutionen der Zentralregierung bekämpft. Herrscht zwischen diesen beiden Phänomenen eine Symmetrie, was ihre Legitimität angeht? Ein wesentlicher Unterschied besteht in jedem Fall: Die Maidan-Revolution wurde von einem großen Teil der Bevölkerung getragen und begann mit friedlichen Massenprotesten. Die pro-russischen Operationen in der Ostukraine hingegen ruhen auf den Schultern von Soldaten und paramilitärischen Kräften. Diese genießen wohl die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung, die Initiative geht jedoch eindeutig von militärischen Befehlshabern und deren Hintermännern aus – die sich zudem nicht zu erkennen geben.


5. Was kann die Regierung in Kiew jetzt tun? Und was der Westen?

Kiew steckt deutlich in der Zwickmühle: Geht man zu hart gegen die Besetzer im Osten vor, spielt man Moskau in die Hände, da man den Autonomiebestrebungen in der Region erst recht Unterfutter liefert. Hält man sich hingegen zurück, verliert man im eigenen Lager an Rückhalt.

In der Ostukraine gab es nach Erkenntnissen von UN-Experten zwar vereinzelte Übergriffe auf Angehörige der russischen Minderheit, aber keine systematischen Attacken. Allerdings hätten Russen dort tatsächlich Angst, dass die Regierung in Kiew ihre Interessen nicht vertrete, heißt es in einem am Dienstag in Genf vorgelegten Bericht von UN-Menschenrechtsexperten. Darin ermahnten sie die Regierung in Kiew, die Rechte der russischen Minderheit zu respektieren.

Boris Hersonsky, Dichter und Politologe aus Odessa, glaubt nicht, dass der russische Präsident den Osten der Ukraine tatsächlich okkupieren will. Im Gespräch mit dem US-Magazin „Foreign Policy“ vermutet Hersonsky, es liege vielmehr in Putins Interesse, die Ukraine in einem Zustand der Schwäche zu halten.

Europa muss dagegenhalten. Die Repräsentanten der EU, der Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Odhir) müssen alles tun, um freie und faire Wahlen zu garantieren; sie müssen die ukrainische Regierung anhalten, die Rechte der russischen Bevölkerung zu achten, und sie müssen der Ukraine aus der wirtschaftlichen Misere helfen.

Madeleine Albright, Ex-US-Außenministerin, und Jim O’Brien, ehemaliger Balkan-Gesandter der Clinton-Administration, sehen in einem Gastbeitrag für die „Washington Post“ in den kommenden Wahlen eine „zweite Chance“ für die Ukrainer – nach der vergebenen Möglichkeit im Anschluss an die Orange Revolution. Europa und die USA sollten nun alles unternehmen, damit sie diese zweite Chance auch tatsächlich bekommen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur