Oksana Osadcha
Krieg in Europa

Ukrainische Politologin Osadcha über den Krieg: „Kein Licht am Ende des Tunnels“

Oksana Osadcha war bis Kriegsbeginn Chefanalystin im NATO-Büro in Kiew. Eine Niederlage der Ukraine käme auch den Westen teurer zu stehen als ein Sieg, sagt die Politologin.

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profil: Russland führt seit einem halben Jahr einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wie kann dieser enden?
Oksana Osadcha: Bei der aktuellen Lage an der Front und der fehlenden diplomatischen Perspektive sehe ich keine Möglichkeit für ein rasches Ende des Krieges. Es wird ein langer Konflikt. Wir sehen eine Eskalation der russischen Rhetorik und wir kommen mit dem Herbst und Winter in eine sehr schwierige Phase. Die hohen Energiepreise bringen Europas Regierungen unter Druck, doch es ist wichtig, jetzt solidarisch mit der Ukraine zu bleiben. Um den russischen Angriffen standzuhalten, braucht es militärische Stärke. Vieles hängt davon ab, wie geschlossen der Westen in der Frage der Unterstützung der Ukraine ist und wie hoch die Moral im Land selbst bleibt. Ich bin Ukrainerin. Wir sind traumatisiert und brauchen den Frieden dringender als alle anderen. Aber wir brauchen den Sieg noch mehr. Nur sehen wir bisher kein Licht am Ende des Tunnels. 

profil: Unter welchen Bedingungen würde die Ukraine Frieden zustimmen?
Osadcha: Laut Umfragen denken rund 90 Prozent der Menschen im Land, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann. Für den Sieg gibt es unterschiedliche Definitionen. Das Minimum ist eine Rückkehr zu den Grenzen vor dem 24. Februar 2022. Die Maximalforderung, die in meinen Augen die rationalere ist, ist eine Rückkehr zum souveränen Staat Ukraine, wie er international anerkannt ist (Anm.: das inkludiert die von Russland besetzte Krim sowie die selbsternannten „Volksrepubliken“ im Donbas). Wir brauchen zudem internationale Sicherheitsgarantien, an denen bereits gearbeitet wird. Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Bis in der Ukraine wieder Sicherheit und Stabilität herrschen, wird es lange dauern. Es liegt aber nicht nur an der Ukraine, auch Russland muss einem künftigen Abkommen zustimmen. Zuletzt hat es aus Moskau geheißen, dass dies nicht geschehen würde. Putin hat auch gegenüber Scholz deutlich gemacht, dass die Ukraine und Belarus nicht als unabhängige Staaten existieren dürfen. Das ist für die Ukraine selbstverständlich völlig inakzeptabel.

profil: Es liegt nicht am Westen, der Ukraine Verhandlungspositionen zu indoktrinieren. Doch Kiew ist abhängig von Waffenlieferungen aus den USA. Inwiefern kann und wird der Westen Druck machen, damit die Ukraine sich an den Verhandlungstisch setzt?
Osadcha: Das ist eine sehr gute Frage, bei der wir eines nicht vergessen dürfen: Beim Krieg in der Ukraine geht es Russland nicht nur um Territorialgewinne und darum, die Ressourcen der Ukraine auszubeuten. Moskau bricht internationales Recht. Potenzielle Kompromisse, die Washington Kiew aufdrücken könnte hängen auch davon ab, inwieweit die USA eine Verschiebung der globalen Ordnung akzeptieren. Es ist eine Box der Pandora: Kompromisse wären nicht im Interesse der USA und der internationalen Gemeinschaft. Andere könnten sich Russland als Vorbild nehmen, Stichwort China und Taiwan. Toleranz und Akzeptanz für eine solche Gewaltausübung im 21. Jahrhundert wären gefährlich. Bisher sehen wir aber keinen Druck auf Kiew.

profil: Die EU liegt viel näher an der Ukraine als die USA – und hier beginnt die Solidarität zu bröckeln. In Österreich stellen Politiker die Sanktionen infrage. Was sagen Sie Menschen, die finden, die Kosten der Sanktionen seien zu hoch für uns?
Osadcha: Ich stimme Ihnen zu: Die Solidarität mit der Ukraine steht vor einer Herausforderung. Russland will eine Spaltung erreichen, das ist eine goldene Regel Moskaus. Ich höre, dass die Menschen in der Ukraine umsonst sterben, dass Russland immer noch stark ist und dass viele Opfer vermieden werden können, wenn die Ukraine aufgibt. In Europa ist das schwer zu verstehen, wir Ukrainer aber wissen: Die Russen schrecken nicht vor einem Genozid in der Ukraine zurück. Bei einem Sieg Russlands würden viele Menschen sterben oder nach Sibirien deportiert. Russland stünde an der Grenze zu Polen und würde nicht halt machen. Die Kosten einer Niederlage der Ukraine sind viel höher als die Kosten eines Sieges.

profil: Es gibt Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau über eine Expertenmission zum AKW Saporischschja oder Getreideausfuhren aus Odessa. Könnten diese Verhandlungen eine Grundlage für weitere Gespräche bieten?
Osadcha: Russland hat für diese Expertenmission Bedingungen formuliert, die kaum erfüllt werden können. Sie nutzen die nukleare Bedrohung als Mittel der Erpressung – mit Erfolg. Aus Polen und Großbritannien hieß es, dass ein GAU am AKW Saporischschja Artikel 5 des NATO-Vertrags auf den Plan rufen würde. Damit wäre die Möglichkeit eines Einschreitens der NATO gegeben.  
profil: Bei den Verhandlungen zur Weizenausfuhr aus Odessa war die Türkei der Unterhändler. Wird das so bleiben?
Osadcha: Die Türkei agiert im Sinne ihres Verständnisses der eigenen nationalen Interessen. Die Türkei tendiert dazu, ganze Pakete zu verhandeln, das ist für die Ukraine keine akzeptable Strategie. Der Weizendeal ist ein spezieller Erfolg der türkischen Diplomatie und nicht der Anfang einer Reihe von Verhandlungen. Das bietet keine Grundlage. 

profil: Es ist völlig unklar, wer hinter dem Anschlag auf Daria Dugina vergangene Woche in Moskau steckt. Kann man dennoch sagen, ob die Angelegenheit Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine hat? 
Osadcha: Für die Ukraine sind Dugina und ihr Vater, Putins Hosentaschenphilosoph Alexander Dugin, kein relevantes militärisches Ziel – auch, wenn von ihm das ideologische Konzept des Russki Mir stammt, der russischen Welt, auf die sich Putin gern bezieht. Aber diese Leute waren nicht einflussreich. Ich glaube unseren Quellen die sagen, dass die Ukraine nichts mit dem Anschlag zu tun hat. Ob das den Krieg beeinflussen kann? Russland kann es als Vorwand für weitere militärische Eskalation nutzen. Wir haben diese Woche aber ohnehin mit mehr Gewalt gerechnet. Die Russen lieben Zahlen und Daten. Rund um den ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August haben wir mit verstärktem Beschuss gerechnet. Der Tod Duginas spielt da keine Rolle.

OKSANA OSADCHA
Jahrgang 1987, war von 2013 bis Anfang 2022 Senior Political Analyst in der NATO-Vertretung in Kiew. Seit Kriegsbeginn lebt die Politikwissenschaftlerin in Europa. Derzeit ist sie Analystin beim Prager Think Tank European Values Center for Security Policy. 

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.