Von Tel Aviv nach Wien: Als mich die Vergangenheit nach Hause brachte
Mein Großvater flüchtete einst vor Österreich nach Israel – jetzt habe ich das Land unter Raketenbeschuss gen Wien verlassen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht über eine besondere Rettungsaktion zwischen Tod und Leben – und was das mit dem Gefühl einer Nation zu tun hat.
27.06.25
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von Uri Blau
Ramat Gan, ein Vorort von Tel Aviv. Ich bin schon oft hier gewesen, aber nie hätte ich gedacht, dass ich hier so stehen werde. Mit schwerem Herz und schwerem Gepäck, auf der Flucht aus dem Land, in dem ich aufgewachsen bin und das ich liebe. Es ist ungefähr 10 Uhr am Sonntagmorgen, als ich hier in den Bus steige, der im Konvoi Richtung Israels Grenze zu Ägypten als Teil der ersten und bislang einzigen Flugrettungsmission Österreichs fährt. Insgesamt sind es vier bummvolle Busse, gefüllt mit hauptsächlich Österreicherinnen und Österreicher, die während des Kriegs mit dem Iran hier gestrandet sind und rauswollen.
Die Gruppe ist bunt gemischt: Familien mit sehr kleinen Kindern, die zwar in Israel leben, aber die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen; religiöse, israelische Jüdinnen und Juden aus Wien, die während einer Reise ins Heilige Land festsitzen; ein älterer Österreicher mit israelischer Freundin, die zu alt ist, um das Land mit ihm zu verlassen; ein Österreicher, der seine Freundin in einer ungünstigen Zeit besuchen wollte; ein ungarisch-israelisches Paar, das seit mehr als 30 Jahren in Budapest lebt; eine israelische Frau aus Florida mit österreichischem Pass – und viele weitere. Und eben ich, Uri Blau – 47 Jahre alt, Journalist, in Israel aufgewachsen, in den USA lebend und stolzer Besitzer einer österreichischen Staatsbürgerschaft. Ich kam spontan zu einem sehr traurigen Anlass nach Hause – und plötzlich kam ich nicht mehr raus. Aber dazu später.
Österreich rettet Staatsbürger unter Raketenbeschuss
Aus dem Land war zu diesem Zeitpunkt kein Fortkommen. Österreich organisierte einen Konvoi von vier Bussen und schleuste Staatsbürger über die ägyptische Grenze in Sicherheit.
Da bin ich nun also, mit all diesen Menschen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dies sei eine organisierte Gruppenreise, aber die mit gedämpfter Stimme geführten Gespräche zeigen: Diese Reise ist für niemanden ein Vergnügen. Menschen tauschen Geschichten darüber aus, wie sie von dieser Rettungsmission erfahren haben, wie sie es geschafft haben, an Bord zu kommen, und wie nahe ihnen Raketen gekommen waren. Wir diskutieren auch über andere Rettungsaktionen.
„Die Deutschen waren nicht so nett“, sagt jemand. „Sie ließen keine Nicht-Deutschen mitfliegen.“ „Die USA haben für ihre Staatsbürger überhaupt nichts getan“, entgegne ich. „Stimmt“, meint ein junger ultraorthodoxer Mann mit seiner hochschwangeren Frau und zwei kleinen Kindern, „aber Trump hat Iran bombardiert.“
Ich bin in Israel geboren, in Jerusalem aufgewachsen, lebe seit zehn Jahren in Washington D.C., arbeite als investigativer Journalist für das israelische Medium „Shomrim“ – und bin Neo-Österreicher.
Als Israeli wächst man mit Kriegen und Konflikten auf, ich habe sie seit frühester Kindheit erlebt. Aber dieses Mal, dieser Krieg, das hat sich anders angefühlt. Die iranischen Raketen, die nach Israel geflogen sind, haben dort mehr Schaden angerichtet als je zuvor – nicht nur an Häusern, auch in den Seelen der Menschen.
Uri Blau
über einen Krieg, der anders ist als die zuvor
Raketen über Israel, das ist an sich nichts Besonderes. Als Israeli wächst man mit Kriegen und Konflikten auf, ich habe sie seit frühester Kindheit erlebt. Ich war fünf beim Ausbruch des ersten Libanonkriegs, militärische Auseinandersetzungen haben seitdem nie ganz aufgehört. Als Journalist habe ich viele dieser Konflikte begleitet: Dafür habe mich beim zweiten Libanon-Krieg in Nordisrael vor Geschossen in Sicherheit gebracht, während der zweiten Intifada in Jerusalem Schutz vor Kugeln gesucht und wurde im Westjordanland mit Tränengas außer Gefecht gesetzt. Aber dieses Mal, dieser Krieg, das hat sich anders angefühlt. Die iranischen Raketen, die nach Israel geflogen sind, haben dort mehr Schaden angerichtet als je zuvor – nicht nur an Häusern, auch in den Seelen der Menschen.
Innere Zerrissenheit
Seit dem 7. Oktober ist das Land verwundet. Es gibt kaum eine Familie, die nicht jemanden kennt, der an diesem Tag oder im darauf folgenden Gaza-Krieg gestorben ist. Diese Wunden klaffen und sind mit jeder Rakete, die auf das Staatsgebiet geflogen ist, größer geworden. Auch ich habe dieses kollektive Gefühl von Verwundbarkeit in mir – das geht mit einem Drang zu Solidarität und Zusammenhalt in schwierigen Zeiten einher. Außerdem bin ich Journalist, ich will da sein, wenn so etwas passiert. Aber ich bin auch ein Vater. Und mit jedem Alarm, jedem Knall ist dieser eine existenzielle Wunsch gewachsen: Meine kleinen Jungs in den USA wiederzusehen. Also fasse ich den für mich schweren Entschluss, zu gehen. Nur wie?
Da der israelische Luftraum seit Tagen praktisch geschlossen ist, muss ich einen Ausweg suchen. Viele Israelis sind mit teuren Privatjachten nach Zypern geflohen – eine wackelige Option, für die ich auch kein Geld hätte. Manche haben sich auf eigene Faust aufgemacht, um die Grenze nach Jordanien oder Ägypten zu überqueren. Das scheint mir zu riskant, davon abgesehen, dass man dieser Tage dort als Jude wohl auch nicht gern gesehen ist. Die USA, das Land in dem ich lebe, unterlässt bisweilen jegliches Handeln für ihre Bürger. Ich bin einigermaßen ratlos.
Ein Anruf aus der österreichischen Botschaft ermöglicht eine halbwegs sichere Ausreise aus dem Kriegsgebiet Israel.
Und dann klingelt Freitagmorgen mein Telefon, reißt mich wieder aus dem Schlaf, wie die Sirenen in der Nacht davor mehrfach. Mein Körper ist aber ohnehin in permanenter Alarmbereitschaft. „Herr Blau?“ Am anderen Ende der Leitung ist die österreichische Botschaft in Tel Aviv. Es gäbe eine Rettungsmission, sagen sie mir, und ob ich mitkommen wolle. Die Reise würde eine lange werden: Abfahrt in Tel Aviv am Morgen, Busfahrt zur ägyptischen Grenze bei Eilat, Übergang am Taba-Pass, Weiterfahrt nach Scharm El-Scheich und schließlich ein Charterflug nach Wien – geplant sei die Landung am nächsten Morgen: also rund 24 Stunden später. Normalerweise braucht man von Tel Aviv nach Wien weniger als vier Stunden. Alle Kosten übernimmt die österreichische Regierung. Ich sage Ja.
Der Tod zwischen dem Sterben
Ich bin dankbar und erschöpft. Die Woche ist hart für mich gewesen. Ich bin fünf Tage vor Ausbruch des Kriegs in Israel gelandet, weil meine Mutter schwer erkrankt war. Ich verbringe daraufhin Tage und Nächte mit ihr im Krankenhaus. Als die Sirenen über Jerusalem zu heulen beginnen, wird ihr Bett weg von den Fenstern geschoben, bis Entwarnung kommt. Das passiert ständig. Ich sehe Raketen, die vor ihrem Fenster abgefangen werden. An Schlaf ist ohnehin kaum zu denken.
Und dann stirbt meine Mutter. Wirklich Zeit zu trauern, gibt es nicht. Verstecken, Beerdigung planen, verstecken. Dazwischen Shiva planen, die siebentägige jüdische Trauerwoche. Das Haus des Verstorbenen wird dann traditionell ein Ort der Zusammenkunft. Freunde und Verwandte kommen, man erzählt sich Geschichten, isst gemeinsam, erinnert und tröstet sich. Schwierig, inmitten dieser verrückten Zeiten. Versammlungen sind prinzipiell untersagt, für Beerdigungen werden Ausnahmen gemacht. Die Armee diktiert: maximal 22 Personen. Die Regeln werden zwar nicht kontrolliert – aber wir rechnen damit, dass viele fernbleiben werden.
Wir fragen den Bestatter, wo wir bei Raketenalarm hingehen sollten, was wir tun sollten. Er antwortet mit einem Wort: ,Betet!' Wir beerdigen meine tote Mutter, und überleben.
Uri Blau
begräbt seine Mutter, während Israel beschossen wird
Die Cousine meiner Mutter kann nicht zur Beerdigung kommen: Ihr Haus wird in derselben Nacht von einer Rakete getroffen. Sie bleibt unverletzt, doch vier Nachbarn sterben. Wir, der engste Kreis der Familie steht also auf dem Friedhof, um meine Mutter zu verabschieden. Wir fragen den Bestatter, wo wir bei Raketenalarm hingehen sollten, was wir tun sollten. Er antwortet mit einem Wort: „Betet.“ Wir beerdigen meine tote Mutter, und überleben.
Dann beginnt die Shiva. Da sich die Menschen in Israel möglichst drinnen aufhalten sollen, planen wir sie anders als es die Tradition vorsieht. Sie soll teils in Jerusalem im Haus meiner Eltern, teils in Rosh Ha Ayin bei meinem Bruder stattfinden – so könnten Besucher leichter kommen, denken wir uns. Um für die Sicherheit unserer Gäste zu sorgen, organisieren wir Schutzräume und bitten Nachbarn, Besucher bei Bedarf aufzunehmen.
Der Notfallplan: Meine Schwester sollte Trauernde bei Alarm zum Luftschutzkeller führen, ich sollte der sein, der das Haus als Letzter verlässt, um sicherzustellen, dass wirklich niemand zurückbleibt. Diesen Plan müssen wir leider mehrfach in die Tat umsetzen.
Wir sitzen, weinen um meine Mutter, die Sirenen heulen. Wir verstecken uns, kommen zurück, wenn sich der Puls von der Aufregung entschleunigt hat, versuchen wir, Ruhe zu finden, um weiter zu trauern.
Wir sitzen, weinen um meine Mutter, die Sirenen heulen. Wir verstecken uns, kommen zurück, wenn sich der Puls von der Aufregung entschleunigt hat, versuchen wir, Ruhe zu finden, um weiter zu trauern.
Uri Blau
über den Versuch zu trauern, wenn dafür keine Zeit ist
In diesen Tagen tauschen Menschen Erinnerungen über meine Mutter aus: ihre Kindheit, das Aufwachsen, unsere Großeltern – und über all die Kriege, die sie miterlebt haben. Meine Mutter, weil sie vor 1948 geboren wurde, ist im Sechstagekrieg 1967 in Jerusalem bei Verwundeten gewesen, hat 1973 die Angst des Oktoberkriegs erlebt, wie ihre Freunde hat sie beide Libanonkriege gesehen, den Golfkrieg, die jeweiligen Intifadas, endlose Gaza‑Konflikte – schließlich am 7. Oktober den brutalen Anschlag, der noch nah wie gestern erscheint. Unter den Trauernden gibt es mindestens zwei, die Söhne in diesem Krieg verloren, viele junge Männer sind noch im Einsatz. Diese Zeit prägt Israel mehr als jede andere, darüber sind sich hier alle einig.
Der Tag, der alles änderte
Um Israel heute zu verstehen, muss man den 7. Oktober verstehen. Bis dahin haben viele Drohungen von außen, das jüdische Volk gehöre ermordet, für bloße Rhetorik gehalten. Doch an diesem Tag sind Hamas-Kämpfer mit Gewalt aus Gaza eingedrungen, haben gemordet, geschlachtet, vergewaltigt – und das hat alles verändert. Seit dem 7. Oktober verstehen Israelis, egal welcher politischen Überzeugung, Vernichtungsaufrufe nicht mehr nur als Propaganda. Man sieht eine Notwendigkeit, sofort zu handeln und dagegen vorzugehen. Deswegen unterstützen derzeit viele die Kriegsstrategie gegenüber dem Iran – ein Land, das Israel vernichten will, und das auch ganz offen ausspricht.
Entsprechend (un)empathisch ist die israelische Haltung gegenüber dem Leid in Gaza: „Sie haben es selbst heraufbeschworen“, heißt es oft. Viele fühlen keine Reue im Namen Israels. Daraus entsteht ein tiefer Graben zwischen der inneren Sicht der Israelis und der Wahrnehmung im Rest der Welt.
Auf den ersten Blick wirkt die Rettungsmission wie eine organisierte Reisegruppe - aber Vergnügen ist das für niemanden.
Neben Kriegen ist auch der Holocaust ein viel diskutiertes Thema in der Shiva. Meine mütterliche Großmutter und ihr Bruder waren die einzigen Überlebenden der Familie meiner Mutter. Der Vater meiner Mutter, Reuven, ist der Grund für meine österreichische Staatsbürgerschaft. Er wurde 1919 in Wien geboren und ist nach dem Anschluss nach Palästina geflohen. Durch die 2020 novellierte österreichische Staatsbürgerschaftsgesetzgebung haben ich und andere Familienmitglieder in den letzten Jahren die Staatsbürgerschaft zurückerhalten.
Es berührt mich tief, dass dieselbe Nation, die meinen Großvater einst vertrieben hat, nun seinem Enkel zur Seite stehen möchte.
Es hagelt Raketen
Die Trauerwoche ist noch nicht beendet, als ich mich frühmorgens, am Sonntag, zum vorgegebenen Treffpunkt der Botschaft aufmache. Einem Parkplatz am Stadtrand von Tel Aviv. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in rot‑weißen Westen empfangen uns freundlich. Ich beginne mich zu registrieren, plötzlich beginnen alle unsere Handys zu vibrieren: Push-Nachrichten warnen vor einem bevorstehenden Iran‑Angriff. Der Parkplatz, voller Familien, Kinder, Ältere, bricht in Panik aus. „Wohin gehen wir?!“, ruft jemand.
Das Botschaftsteam führen uns schnell in ein nahe gelegenes Stadion. Wir suchen Deckung hinter Betonwänden, warten die Sirene ab und hören die Explosionen. Israelis unterscheiden Geräusche inzwischen instinktiv: „Das ist die Abwehr“, sagt einer, und alle nicken. „Und das war ein Treffer“, bestätigen wir als Donner vom Einschlag grollt. Kinder weinen, Paare halten sich fest, wir verharren reglos – wir alle wissen, warum wir fliehen wollten.
Seit dem 7. Oktober verstehen Israelis, egal welcher politischen Überzeugung, Vernichtungsaufrufe nicht mehr nur als Propaganda. Man sieht eine Notwendigkeit, sofort zu handeln und dagegen vorzugehen.
Uri Blau
über das derzeitige Gefühl vieler in Israel
Die Busfahrt zur Grenze nach Eilat – normalerweise vier Stunden – wird zur endlosen Tortur. Wir brauchen acht. Als wir endlich bei dem ägyptischen Grenzposten ankommen, kommt es zu weiteren Verzögerungen. Wir sind hier unerwünscht, das lassen uns manche mit kleinen und größeren Demütigungen spüren. Ein junger Sicherheitsbeamter brüllt einen älteren ultraorthodoxen Juden an, befiehlt ihm, seine Kippa abzunehmen und zu gehorchen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ihn später. „Nein, es ist nicht in Ordnung“, antwortet er. „Aber es ist vorbei, und wir sind jetzt sicher.“
Erst um Mitternacht erreichen wir den Flughafen von Scharm El-Scheich. Kurz vor 4:30 Uhr hebt endlich unser Flug nach Wien ab. Später erfahren wir, dass die komplette Crew der Austrian Airlines freiwillig an dieser Mission teilgenommen hat. Bei der Landung am Montagmorgen in Wien applaudieren wir – immer und immer wieder. Ausdruck der Erleichterung, Dankbarkeit und Freude.
an der Grenze zu Ägypten. Einzelne Demütigungen lassen die Israel-Ausreisenden spüren, dass sie hier nicht wirklich erwünscht sind.
Die Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, ihre Mitarbeiter und Angestellte der Airline empfangen uns mit freundlichen Worten. Ich, als Journalist, gewohnt, dysfunktionale Systeme zu entlarven, bin überwältigt: Österreich zeigt hier, was es heißt, seine Bürger:innen wirklich zu schützen. Ich bin zutiefst beeindruckt und emotional berührt von dieser Operation.
Im Bus Richtung Ägypten mussten wir bei Israel das Online Formular für Ausreise ausfüllen – mit Rückkehrdatum. Die österreichische Begleiterin an meiner Seite stockte. „Wer weiß?“, sagte sie leise – in jenem Moment fühlte es sich an, als spräche sie das Urgefühl aller Jüdinnen und Juden aus: Krieg, Verfolgung, Unsicherheit. Ein Kreislauf, der Generationen begleitet, Diaspora einschließt und Israel umfasst. Doch in dieser Episode: Der Verfolger von gestern war heute unser Retter.