Wie wählt ein Land mit rund eineinhalb Milliarden Menschen ein neues Parlament? Eines ist schon im Vorfeld klar: Die Wahlen in Indien sind eine logistische Herausforderung. Mindestens vier Wochen werden sie im April und Mai in Anspruch nehmen, als Transportmittel für Beamte und Stimmzettel – es werden hunderte Millionen sein – kommen Elefanten zum Einsatz.
Alles deutet darauf hin, dass Indiens Premier Narendra Modi im Amt bestätigt wird. Den Wahlkampfauftakt absolvierte er Ende Jänner in der nordindischen Pilgerstadt Ayodhya. Dort erhebt sich auf rund 70 Hektar das neue Wahrzeichen des Hinduismus 50 Meter in die Höhe. Gebaut wurde der Tempel für mehr als 250 Millionen Dollar zu Ehren des Gottes Ram, der hier geboren sein soll.
Auf dem Grundstück stand ursprünglich eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert, nach langem Streit wurde sie im Jahr 1992 von einem hinduistischen Mob zerstört. Bei den folgenden Unruhen starben rund 2000 Menschen, die meisten davon Muslime. Unter den zahlreichen Gläubigen, die damals Geld für den Bau des Hindu-Tempels in Ayodhya sammelten, war ein junger Mann namens Narendra Modi.
Umso größer war mehr als 30 Jahre später Modis Triumph bei der Eröffnung des – nicht ganz fertig gebauten – Tempels. Für Modis Partei, die hindu-nationalistische BJP, war es der ideale Startschuss für den Wahlkampf. Zwar ist Indien offiziell ein säkulares Land, doch Modi, seit zehn Jahren im Amt, hat den Hinduismus de facto längst zur Staatsreligion erklärt.
Für Indiens Muslime, mit rund 200 Millionen Menschen die weitaus größte Minderheit im Land, hat sich die Lage verschärft. „Bulldozer Justice“, also der behördliche Abriss von Häusern ohne Verfahren, sind keine Seltenheit; immer wieder kommt es zu Lynchmorden an Muslimen, denen etwa das Schlachten von Kühen vorgeworfen wird.
Antrittsverbot für Ex-Cricket-Weltmeister
Im mehrheitlich muslimischen Pakistan starten die Parlamentswahlen bereits am 8. Februar. Das 230-Millionen-Einwohner-Land steckt seit Jahren in der politischen Krise. Nach einem Misstrauensvotum wurde Premier Imran Khan 2022 abgesetzt, wegen Korruption angeklagt und inhaftiert. Vergangene Woche wurde er erneut zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Pakistans ehemaliger Regierungschef Imran Khan sitzt im Gefängnis und darf zu den Wahlen nicht antreten.
Als Interim übernahm 2022 Shebaz Sharif, der Bruder des Ex-Premiers Nawaz Sharif. Letzterer ist nun aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt und tritt noch einmal an.
Gegen ihn dürfte die PTI-Partei von Khan diesmal kaum eine Chance haben. Antreten darf der ehemalige Cricket-Weltmeister nicht. Und auch seiner Partei PTI wurde die Kandidatur de facto verboten: Sie darf keine Symbole auf Wahlzetteln verwenden, weshalb Mitglieder dazu gezwungen sind, als Unabhängige anzutreten.
Was das alles mit Europa zu tun hat und wieso vor allem Indien global eine immer wichtigere Rolle einnimmt, erklärt die Politologin Velina Tchakarova im Interview mit profil.
Wieso sollte man sich in Europa für die Wahlen in Indien interessieren?
Tchakarova
Europas Volkswirtschaften sind exportorientiert, das gilt vor allem für Österreich. Unsere Verbindungen mit der Welt sind existenziell. Und in Südost- und Südasien, allen voran in Indien, wird sich ein enormes Wirtschaftswachstum zeigen – und damit auch Möglichkeiten für Europa und Österreich.
Wie stark ist Indiens Wirtschaft?
Indien kann vieles leisten, aber der Erfolg Chinas lässt sich nicht wiederholen.
Tchakarova
Weltweit liegt Indien auf dem fünften Platz, voriges Jahr hat es das Vereinigte Königreich überholt. Noch in diesem Jahrzehnt wird Indien zur Weltwirtschaftsmacht Nummer drei aufsteigen. In der kommenden Amtszeit Modis muss die EU ein Freihandelsabkommen mit Indien abschließen. Indien ist aber auch aus demografischen Gründen relevant für uns, auch, wenn man das in Österreich möglicherweise nicht hören will: In Europa ist die Geburtenrate rückläufig, das wirkt sich negativ auf den Wohlstand aus. Es braucht also geregelte Migration auch aus diesen Regionen, wo es viele junge Arbeitskräfte gibt. Gerade mit Blick auf die Digitalisierung gibt es in Indien Potenzial. Frankreich und Deutschland haben beschlossen, Studierende aus Indien aufzunehmen. Wir werden uns der Region auf die eine oder andere Weise öffnen müssen.
Kann Indien China als großen Produktionsstandort ersetzen?
Tchakarova
Jein. Man kann Indien nicht mit China gleichsetzen. Es handelt sich um einen anderen Staat mit anderen Strukturen, einer anderen Regierungsführung, etc. Ich denke aber, dass sich durch die Rivalität zwischen den USA und China durchaus Räume für Indien ergeben werden. Ein Teil der westlichen Investitionen wird von China nach Indien fließen. Die Volksrepublik wird aber in vielen Bereichen Produktionszentrum bleiben. Im Wettbewerb zwischen dem Westen und China bei der Künstlichen Intelligenz, bei der Produktion von Halbleitern und bei der kritischen Infrastruktur wird Indien eine Nische füllen, Industrien werden teilweise dorthin abwandern. Mit den USA, Japan und Australien gibt es bereits Verhandlungen über Herstellungsprozesse, also darüber, wo pharmazeutische Stoffe, Halbleiter und ähnliches produziert werden können. Indien kann vieles leisten, aber der Erfolg Chinas, dieses unglaubliche Wirtschaftswachstum, das lässt sich nicht wiederholen.
Eine Frau mit Brille, Ohrringen und einer Halskette vor einem dunklen Hintergrund.
Velina Tchakarova
Ist Politologin und Expertin für Geopolitik mit Fokus auf Indien, (Ost)Europa, China und Russland. Bis Anfang 2023 war sie Direktorin des Österreichischen Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Mit ihrem Unternehmen („For A Concious Experience“ – FACE) berät sie Institute, Firmen und Regierungen in geopolitischen Fragen.
Unter Premier Modi hat sich Indien zur Stimme des Globalen Südens aufgeschwungen. Auf welcher Seite steht Indien nun eigentlich: auf jener des Westens unter Führung der USA oder doch aufseiten Chinas und Russlands?
Tchakarova
Indien steht aufseiten Indiens. So wie Österreich sich gerne neutral gibt und zur Zeit des Kalten Krieges Brücken baute zwischen West und Ost, so wird Indien im neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen auf der einen Seite und China sowie Russland auf der anderen agieren. Indien ist zwar nicht neutral, denn Geschäfte, Handel und Austausch in sicherheitspolitischen Fragen betreibt es mit beiden Seiten. Doch in erster Linie schaut Indien auf seine eigenen Interessen. Es wird die Teilnahme sowohl an westlichen als auch an chinesisch und russisch geführten Plattformen anstreben. Dieser Sonderweg ist der Grund, wieso der Westen Indiens Position zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine nicht entziffern konnte.
Die „neue Weltordnung“ ist offenbar keine bipolare mehr: Es geht nicht mehr nur um Osten gegen Westen, sondern es spielen auch andere Staaten mit…
Modi mit US-Präsident Biden: Der Westen wirbt um Indien.
Tchakarova
Mittlerweile hat sich dafür der Begriff der Mittelmächte etabliert. Das sind Staaten mit einem gewissen Potenzial, mit bestimmten Vorteilen, aus denen sich ein Spielraum ergibt. Sie haben teils signifikanten geopolitischen Einfluss, aber verbünden sich nicht endgültig mit dem einen oder anderen Block. Dafür ist Indien ein Paradebeispiel, aber auch Saudi-Arabien, die Türkei und Brasilien gehören dazu. Staaten wie diese gibt es auf allen Kontinenten. Sie versuchen, zwischen den drei großen Schlüsselakteuren USA, China und Russland zu navigieren, ohne eine endgültige Position einzunehmen. Indien ist unter diesen Mittelmächten die bedeutendste.
Bei den Wahlen in Indien werden der Opposition kaum Chancen eingeräumt, alles deutet darauf hin, dass die sozialliberale und säkulare Kongresspartei gegen die rechtskonservative, hindu-nationalistische BJP von Narendra Modi verlieren wird.
Tchakarova
Davon gehe ich auch aus. Doch es kann immer etwas Unvorhergesehenes geschehen. Meine größte Befürchtung für dieses Jahr sind Terroranschläge in der Region. Der Krieg im Nahen Osten kann zu einem Spillover-Effekt führen, also zu Anschlägen auch in Zentral- und Südasien. In einem solchen Fall könnte es für Modi schwierig werden. In seinen ersten beiden Amtszeiten hat er den Hindu-Nationalismus etabliert, seine Regierung fühlt sich vor allem für die hinduistische Bevölkerung zuständig. Das hat zu einer Polarisierung geführt, und die muslimische Bevölkerung könnte sich radikalisieren. Derzeit sind aber auch die nicht-hinduistischen Bevölkerungsgruppen stolz, Teil der indischen Erfolgsgeschichte zu sein.
In Pakistan gehört dieser Zyklus, in dem unterschiedliche Familien abwechselnd die Premiers stellen, zum politischen Alltag.
Welche Folgen hat die geopolitische Lage in der Region auf Indien?
Tchakarova
Die geopolitische Lage in der Region und in den Nachbarregionen hat sich rasant verschlechtert. Das könnte Auswirkungen auf Indien haben. Vor genau zehn Jahren war in Pakistan noch Nawaz Sharif an der Macht, in Indien startete Modi seine erste Amtszeit. Die beiden haben versucht, eine Verbesserung der Beziehungen zu erreichen, doch als Antwort darauf kam es zu Terroranschlägen in beiden Ländern – und das Verhältnis hat sich wieder verschlechtert. Heute sehen wir Indien im Aufschwung, für Pakistan geht es abwärts. Da ist innenpolitisch vieles schiefgelaufen.
Was steht bei den Wahlen in Pakistan auf dem Spiel?
Tchakarova
Nawaz Sharif von der muslimischen Liga PML-N wird wohl an die Macht kommen. In Pakistan bewegt sich die politische Landschaft in zyklischen Prozessen: Sharif war an der Macht, wurde nach einem Korruptionsskandal vertrieben, von Imran Khan abgelöst, bis wiederum Khan gestürzt wurde. Für uns ist das schwer nachvollziehbar, aber in Pakistan gehört dieser Zyklus, in dem unterschiedliche Familien abwechselnd die Premiers stellen, zum politischen Alltag. Auch Imran Khan wird durch seine Partei eine Rolle spielen können und wohl irgendwann in die Politik zurückkehren.
Former Pakistani PM Khan appears at court in Lahore
Ankunft des Ex-Premiers Khan vor Gericht in Lahore.
Welche Folgen haben diese zyklischen Machtwechsel?
Tchakarova
Durch dieses Karussell der Macht und die damit einhergehenden Machtkämpfe werden die tatsächlichen Probleme im Land vernachlässigt: Währungsabwertung, Schuldenlast, Energiekrise, Terror. Die Wirtschaft ist schwach, Sicherheit ist ein großes Thema.
Über Pakistan heißt es oft: Was die Generäle sagen, ist Gesetz, wem sie den Rücken stärken, der gewinnt. Habt sich das Militär schon entschieden?
Tchakarova
Entscheidend ist der innenpolitische Opportunismus des Militärs. Jeder, der an die Macht kommt, muss mit den Generälen gut auskommen. Beide, Khan und Sharif, haben mit den Militärs zu tun gehabt. Sie können zwar nicht ohne weiteres jeden Premier stürzen, aber sie haben ein starkes politisches Gewicht. Pakistan hat, wie Indien, Kernwaffen, das stärkt Rolle des Militärs weiter.
Pakistans Geheimdienst ISI unterstützte immer wieder islamistische Terroristen, Pakistan hat vielen Unterschlupf gewährt. Hat sich das geändert?
Tchakarova
Pakistan war lange der strategische Alliierte der USA. Mit dem Kampf gegen den Terror nach dem 11. September hat sich das Blatt gewendet. Das liegt vor allem daran, dass die Anführer wichtiger Terrororganisationen, darunter Osama Bin Laden, aber auch Köpfe des IS, Unterschlupf in Pakistan gefunden haben. Beim Rückzug der USA aus Afghanistan war Pakistan wichtig, weil die Taliban dort Beziehungen pflegen und einen eigenen Ableger in Pakistan haben. Pakistan hat versucht, das als Hebel zu nutzen und sich als Mittler in Gesprächen zwischen den USA und den Taliban zu inszenieren. Darunter hat der Ruf des Landes gelitten, Pakistan gilt nach wie vor als fruchtbarer Boden für Terrornetzwerke. Pakistan läuft Gefahr, sich international zu isolieren.